Einführung der Herausgeber/innen

  • Winson Chu
  • Martina Kessel

Essentialistische Definitionen vermeidend, stellt dieses Modul „Deutschsein“ als komplex, kontingent und sich ständig verändernd dar. Es enthält mehr als 200 Quellen, die auf textliche, visuelle, materielle, räumliche, ästhetische, körperliche oder noch andere Dimensionen aufmerksam machen, mithilfe derer über Deutschsein verhandelt und dieser „Status“ hergestellt, zuerkannt oder abgesprochen wurde. Wie und wann wurden Subjekte, Räume, Objekte, Normen etc. von wem oder für wen als „deutsch“ angesehen? Indem wir Deutschsein als Verhandlungsraum darstellen, hoffen wir, Lehrenden, Studierenden und Wissenschaftler/innen eine interessante Möglichkeit zu bieten, sich mit bestimmten historischen Ergebnissen auseinanderzusetzen, die weiterer Überlegungen bedürfen.

Begriffserläuterung und Anliegen

Dieses Modul hieß ursprünglich „Deutsche Identität“, doch war unsere Arbeitsgruppe sowohl mit der Ungreifbarkeit von „Identität“ als auch mit dem Essenzialismus, den der Begriff in Verbindung mit „deutsch“ bedeutet, unzufrieden. Wir haben unser Modul daher in „Deutschsein/Germanness“ umbenannt. Die Umbenennung machte die Aufgabe selbst nicht einfacher, verweist jedoch auf unsere Grundausrichtung. Denn wir verstehen unter Deutschsein weder etwas Fixierbares oder Essentialistisches noch etwas, das historisch eindeutig geklärt worden wäre. Unsere Begriffswahl soll im Gegenteil darauf verweisen, dass Deutschsein zu jedem Zeitpunkt kontrovers verhandelt wurde. Wohl wollten ZeitgenossInnen zwischen dem 16. Jahrhundert und der Gegenwart häufig festlegen, was sie jeweils unter Deutschsein oder Identität verstanden und wer die Deutungshoheit darüber haben solle. Doch gilt für den Zeitraum insgesamt und seine einzelnen Abschnitte, was auch für die historiografische Reflexion darüber betont wird: Der Begriff Deutschsein reflektiert keinen Konsens oder bereits feststehende Vereinbarungen, sondern führt mitten in offene Diskussionen hinein bzw. eröffnet sie.[1] Während unser Interesse hier nicht auf dem Telos von Nationalität und Nationalstaat liegt, lässt unser Modul die Möglichkeit offen, dass es viele Arten von Deutschsein gibt, die unabhängig von einem kollektiven Nationalbewusstsein existieren können—denn Deutschsein zu praktizieren bedeutet oft, Unterschiede und Trennungen unter „Deutschen“ zu finden.

Dieses zweisprachige Modul deckt ungefähr die Epoche ab, die als Neuzeit bezeichnet wird: die Zeit von der Renaissance und der Reformation bis in die Gegenwart. Die deutsch- und englischsprachige Geschichtsschreibung unterscheidet sich etwas in Bezug auf Terminologie und chronologische Gliederung. So haben wir für die englische Version der Webseite die Begriffe Early Modern und Late Modern und für die deutsche die Begriffe Frühe Neuzeit und Moderne gewählt. Während das Zeitalter der Revolutionen in der englischsprachigen Literatur in der Regel als Trennlinie zwischen den beiden Epochen dient, wird in der deutschsprachigen Literatur häufig der Begriff Sattelzeit (Reinhart Koselleck) verwendet, der die Übergangszeit von den 1760er Jahren bis in die 1830er Jahre „sattelt“. Es war jedoch nicht unsere Absicht, einen einzelnen Ansatz der Periodisierung zu verdinglichen oder Zeiträume als statisch und fest einzuführen.[2] Rein fachlich war es unser Ziel, etwa die gleiche Anzahl von Primärquellen aus der Frühen Neuzeit und der Moderne auszuwählen und diese Quellen dann nach Themen zu ordnen.

Der Begriff Deutschsein selbst verweist bereits auf wichtige Unterschiede zwischen Früher Neuzeit und Moderne. Denn er existierte in der Frühen Neuzeit nicht, zumindest nicht in der Form, in der er sich seit dem 18. Jahrhundert oder der Sattelzeit herauskristallisierte. Das macht in sich bereits deutlich, dass die jeweilige Verortung und Selbstverortung zwischen dem 16. und dem 18. Jahrhundert, ob im Reich, in einer Region, einer Stadt oder einer Familie, von anderen Referenzgrößen abhing als im Zeitraum seit dem 18. oder 19. Jahrhundert. Übergreifend wichtig waren die ständische Struktur sowie ein christlicher Deutungshorizont, der im Zuge der Konfessionalisierung seit dem 16. Jahrhundert gleichsam auch intern hoch kompetitiv war. Entscheidend für Selbst- und Fremdentwürfe war somit die ständische Zugehörigkeit, die dynastische Rolle oder Nähe zum Herrschenden, die Konfession, die jeweilige Okkupation sowie gegebenenfalls der Ort oder die Stadt, in der jemand lebte, um nur einige wichtige zu nennen.[3]

Doch auch in der modernen Gesellschaft seit dem späten 18. Jahrhundert, so unser Ansatz, blieb Deutschsein umstritten. Seit der Spätaufklärung existierten einerseits diskursive und konzeptuelle Kontinuitäten mit Blick auf Deutschsein, die wir weder deterministisch noch eindimensional lesen, die aber dennoch wichtig sind. Deutschsein wurde um 1800 durch kulturelle Muster definiert. Die deutsche Moderne wurde bekanntermaßen weder durch eine Revolution eingeläutet, noch gab es um 1800 einen nationalen Rahmen oder eine einheitliche politische Struktur. Als die neue, bürgerlich-adlige und gebildete Elite des späten 18. Jahrhunderts über Deutschsein nachdachte, als gedachte Ordnung in einer „(Kultur)Nation ohne Nation“, fokussierte sie auf Kriterien wie Sprache, Bildung oder Konfession (im Sinne einer christlichen Tradition) sowie auf Kategorien wie Geschlecht, Ethnizität/ „Rasse“ oder „Weiß-Sein“, letzteres oft unausgesprochen. Diese bürgerliche deutsche Kultur gab sich universal und zog zugleich Grenzen im Innern und nach außen. Die Konstruktion von Geschlecht und „Rasse“ etwa ruhte auf einer essentialisierten oder essentialisierbaren Vorstellung von Körper und nicht mehr der sozialen Position.

Diese und andere Dimensionen dienten dazu, in einer theoretisch offenen modernen Gesellschaft Differenz festzuschreiben, Grenzziehungen und Hierarchien plausibel zu machen und verschiedene Formen von Teilhabe oder Nichtteilhabe normal erscheinen zu lassen. Das war nicht nur in deutschen Territorien der Fall. Doch könnte man zuspitzen, dass in Deutschland die kulturelle Bestimmung von Deutschsein die verschiedenen politischen und räumlichen Ausprägungen von „Deutschland“ im 19. und 20. Jahrhundert überdauerte. Denn die Vorstellung, dass Deutschsein kulturell fixierbar oder als Gegensatz zu kulturell-konfessionell anders geprägten Räumen zu fassen sei, ist bis heute latent oder manifest wirksam oder wird neu reaktiviert.[4] Wie wirksam dies war, in welcher Weise und mit welchen Bedeutungen es in einzelnen Zeit-Räumen geschah, gilt es jeweils zu diskutieren.

Andererseits konnten identisch scheinende Deutungsmuster sich situativ unterschiedlich auswirken bzw. in einer historischen Situation oder im Zeitverlauf anders gedeutet, angeeignet und umgesetzt werden. Denn die genannte Bestimmung von Deutschsein war zwar trotz ihrer partikularen Herkunft (elitär, bürgerlich, oft preußisch, meist protestantisch) wirkmächtig, determinierte jedoch nicht, wie Menschen sich selbst und andere verstanden. Statt die hervorstechendste Form der Identifikation zu sein, war Deutschsein oft nur eine von vielen konkurrierenden Kategorien und Faktoren in der Art und Weise, wie Menschen die Welt erlebten und sich die Welt vorstellten. Das Empfinden, deutsch zu sein, konnte auch im 19. und 20. Jahrhundert Zugehörigkeit zu einem lokalen Raum, einer Region oder Nation ausdrücken und mit divergierenden politischen Zielen oder räumlich-sozialer Herkunft kompatibel sein.[5] Diverse Kategorien wie ökonomisches Kapital, berufliche Kompetenz oder Vernetzung vor Ort spielten eine Rolle, um in Migrationsprozessen innerhalb deutscher Territorien, in Grenzregionen oder jenseits deutscher Staatlichkeit oder Sprachräume neue Zugehörigkeiten auszuhandeln.[6] In ähnlicher Weise führte auch die Etablierung der Nation nicht zwingend dazu, dass andere Formen von Zugehörigkeit oder (symbolischem) Kapital an Gewicht verloren. Noch bis weit in die 1900er Jahre hinein war die „nationale Identität“ nicht der vorherrschende Rahmen, durch den viele Menschen die Welt sahen.[7] Zugleich aber blieb die kulturelle Bestimmung von Deutschsein auch bei politischen Umbrüchen wie der Nationsgründung oder der Etablierung der Weimarer Republik erhalten, Geschlecht oder „Rasse“ dienten weiterhin oder erst recht dazu, Grenzen nach innen oder außen zu ziehen.  

Zusammengenommen reflektiert der Begriff Deutschsein somit grundlegende Verschiebungen im zeitlichen Verlauf vom 16. Jahrhundert bis heute. Zugleich hatte er auch in der Moderne, in der er „erfunden“ wurde, eine „twisted history.“ Auf der einen Seite versuchten viele AkteurInnen, zu steuern und festzulegen, was Deutschsein meine. Auf der anderen Seite existierten divergierende Bedeutungen nebeneinander. Wir betonen für jeden Zeitraum die Spannungen und Widersprüche zwischen verschiedenen Polen von Einschließen und Ausschließen, Grenzziehung und Grenzüberschreitung, die sich verschieben konnten, je nachdem, um wen es in welchem Kontext ging. Die Quellen machen auf textliche, visuelle, materielle, räumliche, ästhetische, körperliche oder noch andere Dimensionen aufmerksam, mithilfe derer über Deutschsein verhandelt und dieser „Status“ hergestellt, zuerkannt oder abgesprochen wurde. Das Quellenkorpus vermittelt somit, dass wir keine deterministische oder lineare Geschichte erzählen. Doch zeigt sich auch, dass bestimmte Deutungsmuster zumindest in der Moderne eine lange Dauer hatten, nicht verschwanden und deshalb immer neu angeeignet, verändert und nicht nur erweitert, sondern auch verengt werden konnten. Ob oder wie man welche Quellen in ein Narrativ einbindet und welches das sein könnte, ist letztlich jeweils argumentativ im eigenen Forschungszugang zu entscheiden.

Vorgehensweise /Struktur Momentaufnahmen (Snapshots)

Um unseren Zugang zu verdeutlichen, listen wir nicht einzelne Quellen auf. Wir haben uns für 49 sog. Momentaufnahmen entschieden: Sie behandeln jeweils ein Thema und bestehen aus 3-6 Quellen, die unterschiedliche Perspektiven oder auch Versuche der Vereinheitlichung reflektieren. Manche Momentaufnahmen beziehen sich auf einen wichtigen Zeitpunkt und rücken zeitgenössische Konflikte und Widersprüche in den Blick. Andere bilden einen längeren historischen Verlauf ab oder haben explorativen Charakter. Jeder Momentaufnahme wird kurz eingeführt. Diese einleitenden Texte gaben uns die Gelegenheit, zu untersuchen, wie bestimmte historische Akteure Deutschsein angesichts bestimmter Interessen in Betracht gezogen oder eingesetzt haben oder wie das Konzept des Deutschseins wachsen und mit anderen Identitätsmerkmalen kombiniert werden konnte. Wie und wann wurden Subjekte, Räume, Objekte, Normen etc. von wem oder für wen als „deutsch“ angesehen? Auch die einzelnen Quellen werden kurz erklärt, so dass sie allein lesbar sind bzw. sich auch dann erschließen, wenn sie über die Suchfunktion aus dem Modul herausgenommen und mit anderen Quellen vernetzt werden. Alle Momentaufnahmen enthalten zudem Literaturempfehlungen.

Das Gesamtmodul Deutschsein umfasst mehr als 200 Quellen umfassen (100 Bilder, 100 Texte, und ausgewählte audiovisuelle Quellen). Während wir uns um eine gleichmäßige Verteilung der Quellen (und Quellentypen) über sechs Jahrhunderte bemühten, sahen wir uns mit offensichtlichen Einschränkungen hinsichtlich der Verfügbarkeit von fotografischen und audiovisuellen Quellen für die Zeit vor dem 20. Jahrhundert konfrontiert. Infolgedessen konzentrieren sich einige Momentaufnahmen auf Texte, während andere eine Mischung von Quellenmaterial enthalten. Unser Zugang in Form von Momentaufnahmen reduziert zwar die Anzahl der Themen, die behandelt werden konnten. Doch erlaubt es die technische Anlage der Webseite, die Momentaufnahmen oder auch einzelne Quellen miteinander zu verlinken, so dass Zusammenhänge mit anderen Quellen und Zugängen sichtbar werden. Um diese Vernetzung herzustellen, haben wir Schlüsselbegriffe [keywords] jeweils für das ganze Modul, aber auch für die einzelnen Quellen entwickelt. Über die Schlüsselbegriffe wird es auch möglich sein, alle drei Module der Intersections-Webseite miteinander und mit German History in Documents and Images zu vernetzen. Deutschsein, Migration und Wissen/Bildung können aufeinander verweisen und sind miteinander und zahllosen anderen Dimensionen vernetzt, so dass manches in unserem Modul nicht aufgenommen ist, weil es unter anderen Stichworten verhandelt wird. Generell verstehen wir die Webseite als Einladung zur Diskussion und als interaktiven Prozess, der auf Ergänzung oder Veränderung angelegt ist.

Schließlich ist es wichtig zu erwähnen, dass unser Ansatz von den Forschungsinteressen und Stärken der Mitglieder unserer vierköpfigen Arbeitsgruppe geprägt wurde. Daher werden NutzerInnen unweigerlich gewisse thematische Lücken in unserer Auswahl entdecken. Wir hoffen jedoch, dass solche Lücken durch die erweiterte Betrachtung, die wir bestimmten Themen über mehrere Momentaufnahmen und sogar Jahrhunderte hinweg widmen, ausgeglichen werden (siehe nächster Abschnitt). Zu den Schwerpunktbereichen gehören: Deutschsein in den Gebieten, die Bestandteil Deutschlands wurden, in Polen und den Grenzregionen, in den überseeischen Kolonien und der Diaspora sowie in den habsburgischen Ländern. Das letzte Beispiel umfasst z.B. Quellen zur Los-von-Rom-Bewegung, die Reaktion der österreichischen Presse auf die Deportationen von Polen aus Deutschland 1885-86 und die Auswirkungen der britischen Einführung des Labels „Made in Germany“. Während das Modul Quellen zu bekannten Ereignissen (die Herausgabe der Goldenen Bulle im Jahr 1356) und berühmten Persönlichkeiten (Otto von Bismarck und Angela Merkel) enthält, werden auch weniger bekannte Episoden und Stimmen vorgestellt. Bestimmte Arten von Quellen sind in diesem Modul (noch) nicht vertreten, darunter Comics[8] und—ironischerweise—Webseiten. Dennoch hoffen wir, dass die in diesem Modul vorgestellten Quellen eine breite Anwendung nicht nur innerhalb der Geschichtswissenschaft und Germanistik finden, sondern auch über Disziplinen und Forschungsfelder hinweg, die hier nicht speziell angesprochen werden, einschließlich der Gedächtnisforschung. So problematisieren einige Momentaufnahmen die Instrumentalisierung historischer Personen und Ereignisse—sei es die Darstellung Albrecht Dürers als der deutsche Künstler schlechthin durch die Nationalsozialisten oder die konkurrierenden Versionen von Heimat (und damit des Deutschseins) durch Flüchtlinge, Vertriebene und andere in der Nachkriegszeit.

Themen

Anderssein konstruieren. Anstatt Deutschsein als statisch oder essentialisierend zu betrachten, verstehen wir Deutschsein als einen kontinuierlichen Proze ss der Differenzbildung. Deutschsein bedeutet in unserem Verständnis nicht nur, sich selbst als deutsch zu sehen und andere als nicht deutsch; es umfasst vielmehr auch Prozesse, in denen Menschen im deutschsprachigen Raum Unterschiede untereinander machten—und machen—, ohne diese „anderen“ notwendigerweise aus der Gemeinschaft auszuschließen. So wurde in der Augsburger Kleiderordnung von 1530 nicht nur detailliert festgelegt, wie sich Männer verschiedener Berufe kleiden sollten, sondern es wurden auch Kleidungsempfehlungen für ihre Frauen gegeben. Wichtig war, dass sie auch festlegte, wie Juden zu unterscheiden waren—vermutlich als nicht-christliche Andere.

Betrachtet man Deutschsein nicht nur in einem ethnonationalen Sinn, sondern auch als einen Ausdruck von Differenz, können wir mehr Bereiche als „deutsch“ betrachten, auch wenn die Subjekte selbst weder sich selbst noch ihr Handeln als deutsch betrachteten. Der Bergbau wurde zwar schon immer weltweit betrieben, aber die weite Verbreitung deutschsprachiger Fachliteratur zum Bergbau in der Frühen Neuzeit ließ ihn besonders „deutsch“ erscheinen. Während diese Assoziation positiv war, da sie mit technischem Fachwissen verbunden war, waren andere negativ. Martin Luthers Kriegserklärung gegen den Alkoholkonsum, den er in Deutschland als eine besonders schädliche Gewohnheit betrachtete, führte dazu, dass Deutschsein mit Exzessen in Verbindung gebracht wurde. Ein Jahrhundert später, während des Dreißigjährigen Krieges, wurde der Tabakkonsum in die Liste der mit der deutschen Männlichkeit verbundenen negativen Gewohnheiten aufgenommen.

Verschiedene Kriege in verschiedenen Jahrhunderten brachten neue Normen und Praktiken hervor, die Licht auf Deutschsein und die Rolle der Differenzierung werfen. Während des Zweiten Weltkriegs wurden Hunderttausende von Polen auf den Weg zur deutschen Staatsbürgerschaft gebracht, während für Juden die Selektion und schließlich die Ermordung vorgesehen war. Eine Quelle, die in der Momentaufnahme „Deutsche für den totalen Krieg“ enthalten ist, beschreibt Begegnungen zwischen polnischen Juden und einem sogenannten Volksdeutschen während des Krieges; die Quelle legt unter anderem nahe, dass viele polnische Bürger während der deutschen Besatzung bereitwillig ihre Loyalität wechselten und versuchten, sich als „Deutsche“ zu präsentieren. Obwohl ihr Verständnis der deutschen Sprache und Kultur gering war, bewiesen sie dennoch ihr Deutschsein durch die Unterstützung des Nationalsozialismus—und der Judenverfolgung.[9]

In den letzten fünf Jahrhunderten war der Prozess der Differenzbildung ständig umstritten, und Deutschsein war somit ständig im Fluss. Im kaiserlichen Deutschland ging diese Betonung der Differenz quer durch die politischen und Klassenzugehörigkeiten, um konkurrierende Formen des Deutschseins aufzudecken, wie in der parallelen Arbeiterwelt der Sozialdemokratie; zu anderen Zeiten verdichteten sich die konkurrierenden Formen des Deutschseins, um religiöse, politische oder kommerzielle Interessen zu stärken und eine hegemoniale Version des Deutschseins zu schaffen, wie in der Lutherbewegung während der Reformation oder der „Made in Germany“-Rhetorik des zwanzigsten Jahrhunderts. Wenn man Deutschsein als eine Verhandlung der Differenz betrachtet, gibt man den historischen Akteuren mehr Handlungsspielraum, und ein flüssiges Verständnis ermöglicht es uns zu erkennen, wie sich Deutschsein im Laufe der Zeit verändert hat.

Situation und Salienz. Obwohl sich die Momentaufnahmen darauf konzentrieren, Deutschsein in der Differenzierung zu offenbaren, folgt daraus nicht unbedingt, dass Deutschsein die einzige oder sogar die wichtigste Art und Weise war, wie sich die verschiedenen Akteure selbst definierten. Sicherlich war Deutschsein in vielen Fällen bedeutsam, insbesondere wenn es um Glauben, Ehe, Beruf oder Politik ging, doch wurde es nicht immer oder nicht einmal meistens vordergründig gesehen. Wir konzentrieren uns nicht auf die Menschen, die sich im Allgemeinen als „am meisten deutsch“ betrachteten; wir sind vielmehr daran interessiert, die herausragenden Momente oder Situationen zu untersuchen, in denen Menschen gezwungen waren, sich als Deutsche oder zumindest als eine andere Art von Deutschen zu betrachten. Solche Fälle sind in den Quellen für Flüchtlinge—auch Deutschstämmige—dokumentiert, die nach dem Zweiten Weltkrieg nach Deutschland kamen. In vielen Fällen ging diese Dämonisierung der zugewanderten Neuankömmlinge durch die „Einheimischen“ bis zur Rassifizierung, ein Prozess, der sich nach der Wiedervereinigung Deutschlands 1990 wiederholen sollte.

Solche markanten Momente waren häufig zu beobachten, wenn es um den (manchmal) östlichen Nachbarn Deutschlands, Polen, ging, der in mehreren Momentaufnahmen zu sehen ist. Im Kaiserreich führte die wahrgenommene Bedrohung durch eine Flut polnischer Neuankömmlinge in den 1880er Jahren zur Massendeportation polnischer Wanderarbeiter. Die Kritik des Reichstags an Bismarcks Politik gegenüber den Polen und das damit verbundene politische Gefecht um die Frage, wer die nationalen Interessen Deutschlands am besten schützen könne, wurde weltweit beobachtet. In der Zwischenkriegszeit bedrohten Deutschlands unterschiedliche Vorstellungen von alten/neuen Ostgrenzen den noch jungen polnischen Staat. Springen wir in die 2000er Jahre vor, sehen wir Deutschland wieder als Feindbild der polnischen Innenpolitik.

Bisweilen können Stimmen von außerhalb des deutschsprachigen Raumes wichtige Erkenntnisse darüber liefern, was es bedeutet, deutsch zu sein. W. E. B. Du Bois, der erste Afroamerikaner, der an der Harvard-Universität promovierte, verbrachte während seines Promotionsstudiums zwei Jahre in Berlin (1892-1894). Dort, am Sitz der deutschen Monarchie, erlebte Du Bois ein Freiheitsgefühl, das er in der gesamten amerikanischen Republik nicht verspürte. Doch solche Ausnahmefälle beweisen nicht unbedingt, welches Land demokratischer oder weniger rassistisch war—als amerikanischer Doktorand besaß Du Bois einen gewissen sozialen und wirtschaftlichen Status, der ihn von vielen Deutschen und vielen AfrikanerInnen unter deutscher Kolonialherrschaft unterschied. Dennoch bieten die außergewöhnlichen und situationsspezifischen Umstände von Du Bois ein hervorragendes Fallbeispiel für die Grenzen und Möglichkeiten des „Deutschseins“ und des „In-Deutschland-Seins“ an der Wende zum 20. Jahrhundert.[10]

Grenzen ziehen, überschreiten, verschieben. Statt des zumindest in der Moderneforschung häufig benutzten Begriffs des Transnationalen scheint für unser Modul das Konzept des Grenzziehens oder Grenzüberschreitens sinnvoller zu sein, weil es Prozesse in der Frühen Neuzeit wie in der Moderne in den Blick rückt. Deutschsein herzustellen und Differenz auszuhandeln bedeutete häufig, Grenzen zu ziehen, zu überschreiten, zu verschieben oder auch aufzuheben. Dabei zeigt sich im gesamten Zeitraum, dass manche Grenzen als veränderlich oder überschreitbar galten, andere dagegen als „hart“ oder nicht verhandelbar definiert wurden. Damit können räumliche Grenzen gemeint sein. Frühneuzeitliche Karten oder Repräsentationen des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation verweisen auf die sich wandelnden Bedeutungen räumlicher Ordnungsvorstellungen, ebenso wie Darstellungen von Wald als „teutschem“ Raum. Reiseberichte rückten Grenzüberschreitungen und geteilte Räume in den Blick, im Sinne von gemeinsam oder trennend, ob in außereuropäischen Begegnungen der Frühen Neuzeit oder deutsch-französischen, deutsch-polnischen und außereuropäisch-kolonialen „Kontaktzonen“ im 19. und 20. Jahrhundert. So bedeutete „fern“ im 17. und 18. Jahrhundert nicht automatisch „fremd“, wenn Eliten aus Europa in Asien auf ihren sozialen Gegenpart stießen. Doch ging es in der Frühen Neuzeit seltener um das Selbstverständnis als deutsch. Denn die Verfasser deutschsprachiger Reiseberichte aus anderen Zivilisationen waren häufig als Missionare, Forschungsreisende, Söldner oder Diplomaten unter fremdem Patronat unterwegs, da die Staaten des Alten Reiches nicht an der gesamteuropäischen Kolonialpolitik oder Mächtediplomatie teilnahmen.[11] Auch für die Moderne ist aufschlussreich, wie sich die Vorstellung von Grenzen verändern konnte; so wurde der Rhein bis weit in das 19. Jahrhundert als Teil einer gemeinsamen Grenzregion verstanden und erst sukzessive in das Symbol einer Trennlinie zwischen Deutschland und Frankreich verwandelt.[12]

Dann wieder ging es um konfessionelle oder sprachliche Grenzen, die das jeweilige Selbstverständnis zutiefst prägten. Selbstzeugnisse aus dem Dreißigjährigen Krieg, wie der Bericht des Soldaten Peter Hagendorf, zeigen, wie Erfahrungsräume, die durch konfessionelle Konflikte und Gewalt geprägt waren, sowie das Reisen und Überschreiten von räumlichen und sprachlichen Grenzen in die Selbstbeschreibung einflossen. Sprachgrenzen spielten auch und vor allem seit dem späten 18. Jahrhundert eine wichtige Rolle, als die neuen Bildungseliten Deutschsein u.a. über Sprache definierten und sich vom französisierten deutschen Adel abgrenzten, indem sie die deutsche Sprache vereinheitlichen und von „fremder“, vor allem französischer Begrifflichkeit „reinigen“ wollten. Aber das Band der gemeinsamen Sprache, so mächtig es auch sein mag, hinderte die Deutschen, die im 19. und 20. Jahrhundert auswanderten, nicht daran, sich in politischen oder religiösen Fragen unerbittlich untereinander zu streiten. Auch die Tatsache, dass sie sich sprachlich und kulturell als Deutsche definierten, hinderte sie nicht daran, sich in ihre neuen Heimatländer zu integrieren.[13]

Noch einmal einen anderen Charakter hatten ethnisierende oder rassifizierende Grenzziehungen (racializing). Sie stellen zudem eine besondere Herausforderung dar, nicht zuletzt, weil sich die relevante Terminologie je nach Zeit und Sprache unterscheidet. So entspricht beispielsweise der Begriff „Rasse“, wie er in der Zwischenkriegszeit in Deutschland verwendet wurde, nicht der Art und Weise, wie „Rasse“ heute in der englischsprachigen Wissenschaft verwendet wird.[14] Das gilt umso mehr für frühere Epochen. Dementsprechend konzentriert sich die Momentaufnahme „,Rassen‘ und Zivilisationen im 18. Jahrhundert“ weniger auf „Rasse“ als auf verschiedene Kategorien, die zur Bezeichnung von Unterschieden verwendet werden. Dennoch kam es zu einer Rassifizierung von Differenz, wenn Individuen ästhetische, ethische, emotionale und kognitive Merkmale mit körperlichen Merkmalen kombinierten, um eine Hierarchie von Völkern und Zivilisationen zu etablieren, oder wenn Geschlechts- und ethnische Stereotypen zusammengeführt wurden, um Differenz zu naturalisieren und zu essenzialisieren.

Koloniale Fantasien seit dem späten 18. Jahrhundert hatten daher tiefgreifende Folgen, die nicht immer leicht greifbar sind, weil sie oft unausgesprochen blieben. Denn ZeitgenossInnen definierten Deutschsein lange vor dem Beginn des formalisierten deutschen Kolonialismus in den 1880er Jahren als Weiß, so dass sie eine rassifizierende Grenzziehung in ihr Selbstverständnis einschrieben.[15] Dabei addieren sich Kategorien der Grenzziehung nicht einfach, sondern konstituieren oder verschieben sich gegenseitig.[16] Weiblichkeit war im modernen Geschlechterdenken dem Konstrukt von Männlichkeit untergeordnet. In kolonialen Herrschaftsverhältnissen dagegen bedeutete die Zugehörigkeit zur „weißen“ Kolonialnation, dass deutsche Frauen potenziell allen Angehörigen der kolonisierten Länder übergeordnet waren. Innerhalb der deutschen Kultur erlebten es jüdische Deutsche im 19. und 20. Jahrhundert, dass ihnen ihr Deutschsein abgesprochen wurde, obwohl bzw. vielleicht weil sie die deutsche Kultur mitschufen. Denn auf diese Weise rückten sie eine religiös-kulturelle Grenzüberschreitung in den Fokus statt der Grenzziehung zwischen Religionen. Zwar schien die Geschichte im 19. und frühen 20. Jahrhundert von zunehmender rechtlicher, politischer und sozialer Gleichstellung geprägt, zumindest in den Oberschichten. Doch in dem Maße, in dem wahrnehmbare Unterschiede zwischen Deutschen jüdischer und christlicher Herkunft verschwanden, beharrten letztere auf einem angeblichen wesenhaften Unterschied, den Konversion nicht beheben könne.[17] Eine unserer Momentaufnahmen zum Nationalsozialismus zeigt, dass überzeugte NationalsozialistInnen ihr Selbstverständnis als deutsch im Sinne von nicht-jüdisch u.a. dadurch performativ herstellten, dass sie in Karnevalsumzügen „Juden“ spielten, um sie als anders markieren zu können. Tragischerweise war die Vorstellung von Deutschsein und Jüdischsein als unvereinbar auch bei den osteuropäischen Juden vorhanden, und während des Holocaust konnte die seit langem bestehende Kluft zwischen deutschen Juden und Juden aus Osteuropa (sog. „Ostjuden“) die Überlebenschancen bestimmen. Ab Herbst 1941 wurden Zehntausende deutsche Juden aus Deutschland in den Osten deportiert, weil sie dem NS-Regime als Fremdkörper im deutschen Volk galten. Doch die zwanzigtausend westeuropäischen Juden, die im besetzten Polen ankamen, entdeckten bald, dass ihr „Deutschsein“ (auch wenn sie nicht aus Deutschland stammten) zu ihrer Ausgrenzung von den polnischen Juden führte.[18] Die harte Grenze zwischen Deutschsein und Jüdischsein blieb bestehen: Man konnte als nicht deutsch genug und gleichzeitig zu deutsch angesehen werden, oder von der anderen Seite gesehen, gleichzeitig zu jüdisch und nicht jüdisch genug.

Traditionen erfinden. Die Konstruktion von Erinnerung spielt für das Thema Deutschsein eine wichtige Rolle, wenn auch primär in der Moderne. Erneut kann Religion als Beispiel dienen. Religion bildete in der Frühen Neuzeit einen zentralen Sinnhorizont, um die eigene Welt zu strukturieren und sich und andere darin zu platzieren, verschärft durch die Prozesse der Konfessionalisierung. Im Nationalisierungsschub des Kaiserreichs nach 1870-71 suggerierte Erinnerungskultur gerne, dass nur eine protestantische Geschichte genuin deutsch sei.[19] Andere Formen von Traditions- oder Erinnerungskonstruktion verweisen auf die wichtige Rolle, die Kunst oder Ästhetik bzw. einzelne Kunstformen wie Musik oder Malerei in der Projektion und beim Aushandeln von Deutschsein spielten. Albrecht Dürer war im 16. Jahrhundert für die Verortung von Kunst nördlich der Alpen ebenso bedeutsam wie für die Wahrnehmung Nürnbergs als Reichsstadt. Er erhielt jedoch auch in Entwürfen von Geschichte oder Erinnerung eine zentrale Rolle, und das vom 17. bis zum 20. Jahrhundert. Gerade überzeugte NationalsozialistInnen eigneten sich Dürers Werke an, um ihrer Deutung von Deutschsein historische Weihen zu verleihen und Hitler in die Ahnenreihe „großer Deutscher“ zu stellen. Zur modernen „Erfindung von Traditionen“ (Eric Hobsbawm, Terence Ranger) gehörte somit auch, Deutschsein in Zeiträume zurück zu projizieren, in denen die moderne Kategorisierung nicht existierte. Im 19. Jahrhundert wiederum war Historienmalerei eine der künstlerischen Praktiken, mithilfe derer ZeitgenossInnen militärische und politische Figuren in „große Männer“ und „deutsche Helden“ verwandelten, die die Nation durch Krieg „erschaffen“ würden. Ein Gemälde von Napoleon III. auf dem Schlachtfeld von Sedan diente gleichsam als Gegenfigur, um Bismarck und den älteren Moltke als Gründerväter des deutschen Kaiserreichs auszuweisen und so eine kriegsorientierte Politik gegenüber der demokratischen Traditionslinie in Deutschland aufzuwerten. Westdeutsche Heimatfilme der 1950er Jahre schließlich spielten auf ästhetischer Ebene mit Natur und Musik als Referenzmustern, um eine vom Nationalsozialismus unbeschädigte „deutsche Heimat“ zu imaginieren.

Heimat. Zu den Topoi von Traditionsstiftung mit langandauernder Wirkung in der Moderne gehört auch das Konstrukt von Heimat. Obwohl Örtlichkeit im Laufe der Geschichte immer eine wichtige Rolle gespielt hat, wurde sie im neunzehnten Jahrhundert von Nationalisten genutzt, um die Nation als eine Erweiterung der Stadt einzuführen.[20] In den Gebieten, die zum modernen Deutschland wurden, war die Idee einer transzendentalen Heimat besonders nützlich, um die jahrhundertelange Kleinstaaterei (Partikularismus oder kleinstaatliche Mentalität) zu überwinden, die im Heiligen Römischen Reich gepflegt worden war. Während der Märzrevolution von 1848 zielte Hoffmann von Fallerslebens „Lied der Deutschen“ darauf ab, das Bild eines Deutschlands über regionale Partikularismen zu erheben, wie in der Momentaufnahme mit dem Titel „Nationsstiftende Hymnen“ untersucht wird. Putzige Dorfhäuser mit weißgetünchten Fenstern und einem ordentlichen Blumengarten vor jeder Tür konnten allerdings auch in Brasilien, Namibia oder der Ukraine stehen. Deutsche Einwanderer in den Vereinigten Staaten schufen ihr eigenes Gefühl von Deutschsein in Bezug auf das, was sie als amerikanische Werte empfanden (insbesondere Bescheidenheit). Denn Deutsche im Ausland, ob sie aus wirtschaftlichen oder politischen Gründen emigriert waren, schufen Deutschsein und Heimat überall dort, wo sie waren.[21]

Doch die verstaatlichte Heimat konnte schnell wieder klein werden. Die Gewalt und Turbulenzen der Spätmoderne bedeuteten Völkermord für die Opfer Deutschlands, aber auch Vertreibung für Millionen von Deutschen. Das Misstrauen gegenüber den Entwurzelten, das zuvor gegen die Juden gerichtet war, traf nun (wenn auch in weitaus weniger extremer Form) die deutschen Vertriebenen, die in die etablierten Gemeinden Ost- und Westdeutschlands kamen. Diese Vertreibungen hatten ein langes Erbe, und die daraus resultierende Marginalisierung dauerte über Generationen an, wie man in der Nostalgie der Musik Alexandras oder dem Schmerz in den Liedern von Heinz Rudolf Kunze hören kann. Heimat und ihr Verlust wurde schließlich zum Thema für rund siebzehn Millionen Ostdeutsche in der ehemaligen DDR, die über Nacht ihr Land verloren. Diese stationären Migranten mögen den Untergang der DDR zunächst nicht betrauert haben. Doch die Enttäuschungen, die sich aus den wirtschaftlichen Disparitäten und der kulturell-sozialen Abwertung ergaben, verwandelten sich später in wehmütige Neuvorstellungen von der Vergangenheit, in der die Ostdeutschen eine lebensfähige Heimat bewohnten. Dies zeigte der immense Publikumserfolg des Films Goodbye Lenin, eine sehr einflussreiche Manifestation der Ostalgie (wörtlich: Ost-Nostalgie). Denn was ist ein Deutscher ohne Heimat?

Solche Fragen nach der Heimat sind nicht nur polemisch, sondern haben auch etwas mit Macht zu tun und lassen sich leicht politisch instrumentalisieren. Denn wer gibt wem die Erlaubnis, Deutscher zu sein? Die Essentialisierung von Heimat wird zum Beispiel in Debatten über deutsche Leitkultur regelmäßig verwendet. Die vielen Migranten, die derzeit in Deutschland leben, konzentrieren sich eher in Nachbarschaften, die sich nicht als Heimat verstehen, noch bieten diese Räume die Möglichkeit der Teilhabe am Deutschsein—im Gegensatz zu den deutschen Auslandsgemeinschaften, die nach mehreren Generationen der Assimilation irgendwie immer noch „deutsch“ bleiben. Tatsächlich fühlen sich die Einwandererviertel in Deutschland oft wie Besatzungszonen mit ständiger polizeilicher Überwachung und erhöhter Brutalität an, wie die Rap-Musik von Fler und Bushido suggeriert. Andere Musikgruppen, wie z.B. MIA, sehnen sich nach einem neuen, positiveren Verhältnis zu Deutschland. Für den Schriftsteller Henryk M. Broder, der polnische Wurzeln hat, ist Heimat zu restriktiv: Aufgrund seiner jüdischen Herkunft hat er sich in beiden Ländern zeitweise unwillkommen gefühlt.

Normalisierung des Patriotismus/der Patriotismen. Deutschsein ist zutiefst mit Debatten über das Verhältnis des Einzelnen zum Staat verbunden, ein Verhältnis, das sowohl diachron als auch synchron viele Formen annahm. Angesichts der späten Entwicklung Deutschlands zu einer europäischen Macht waren die nationalen Befürworter der Meinung, Deutschland verdiene es, wie jedes andere „normale“ Land behandelt zu werden, so dass es für die Deutschen akzeptabel sei, eine respektable Dosis Patriotismus zu haben. Im Kaiserreich plädierte Reichskanzler Bernhard von Bülow für Deutschlands „Platz an der Sonne“ und argumentierte, dass ein Land von der wirtschaftlichen Größe Deutschlands Anspruch auf eine angemessene militärische Stärke und den Besitz eines Kolonialreichs in Übersee habe. In den 1920er Jahren instrumentalisierte Adolf Hitler das Gefühl, durch die Niederlage von 1918 und den Versailler Vertrag erniedrigt worden zu sein, und versprach den Deutschen, ihnen ihre Würde zurückzugeben. Der deutsche Patriotismus blieb auch während des Kalten Krieges präsent, obwohl er auch hier in Diskurse zur Erreichung von Normalität eingebettet war – was nicht unwichtig war für eine Gesellschaft, die zwei Weltkriege verloren hatte und zweigeteilt war (nachdem sie bereits weiter östlich bedeutende Gebiete verloren hatte). Sowohl Ost- als auch Westdeutschland waren in der Nachkriegszeit von ihrem jeweiligen Wohlfahrtsstaat abhängig; außenpolitisch waren beide in multilaterale Koalitionen eingebettet. Innenpolitisch versuchten beide Staaten, ein hohes Maß an sozialen Leistungen zu erbringen. Konvergenz der beiden Systeme, nicht Divergenz, scheint im Rückblick der Trend zu sein.[22] Obwohl die westdeutschen Staats- und Regierungschefs stolz auf ihre soziale Marktwirtschaft waren, blieben sie in der NATO und der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft meist ein stiller Partner. Ostdeutsche Funktionäre versuchten, dem Staat durch verschiedene Praktiken Loyalität einzuflößen, sei es durch die Jugendweihe oder die Verehrung von Spitzensportlern. Doch die Debatten darüber, welches Deutschland normaler, weniger kriegstreiberisch und „besser“ sei (d.h. welches die NS-Vergangenheit erfolgreicher bewältigt habe), hätten nicht hitziger geführt werden können.

Nach der Wiedervereinigung 1989/90 schien Deutschland wieder „normal“ zu sein. Damals beschäftigten die Deutschen vor allem innenpolitische Fragen oder die Pläne der Europäischen Union zur Währungsunion und Osterweiterung. In den 1990er Jahren erschwerten politische Sensibilitäten gegenüber den Nachbarländern und fremdenfeindliche Gewalt im eigenen Land vielen Deutschen das Gefühl der Verbundenheit mit dem Staat, obwohl viele einen tiefen Stolz auf vermeintlich deutsche Werte empfanden, die mit der sozialen Marktwirtschaft verflochten waren. Doch die Kriege im ehemaligen Jugoslawien und die Terroranschläge vom 11. September 2001 brachten Veränderungen in der internationalen Ordnung mit sich, die traditionelle Militärbündnisse zerstörten und Uneinigkeit über das angemessene Ausmaß militärischer Interventionen verursachten—ein angesichts der Vergangenheit des Landes besonders brisantes Thema. Gleichzeitig begann die Kürzung bestimmter Sozialleistungen die Bindung der Deutschen an den Staat zu belasten, da der Stolz auf die Unterstützung eines großzügigen Sozialsystems ein wichtiger Bestandteil des kollektiven Selbstbewusstseins der Deutschen ist. Schließlich hat die zunehmende Multiethnizität der deutschen Gesellschaft den hegemonialen Diskurs über deutsche Werte in Frage gestellt, wie die Momentaufnahmen zum Gedenken an den Krieg, zur Leitkultur und zur Definition von Patriotismus deutlich machen.

Fazit

Eine Behandlung des Deutschseins als Verhandlungsraum bietet die Möglichkeit, bestimmte historische Ergebnisse anzusprechen, die weiterer Überlegungen bedürfen. Die Art und Weise, wie Deutschsein definiert und zugeschrieben wird, hat sich im Laufe der Zeit verändert, manchmal ist es offen und kontingent, zu anderen Zeiten geschlossen und festgeschrieben. Wie bereits erwähnt, war es nicht unsere Absicht, innerhalb dieses Moduls allgemeingültige Erzählungen zu schaffen. Stattdessen haben wir verschiedene Quellen zusammengetragen, die zur Gegenüberstellung einladen, in der Hoffnung, eine offene Diskussion statt geschlossener Auseinandersetzungen zu fördern. Die Nutzerinnen und Nutzer sollen innerhalb dieses Moduls, im Rahmen des Gesamtprojekts German History Intersections und schließlich in Verbindung mit German History in Documents and Images auf diese Quellen in verschiedenen Konfigurationen zugreifen können. Die vorgestellten Quellen stellen einen Ausgangspunkt dar und sollten zusammen mit anderen Online-Quellen, redaktionell bearbeiteten Sammlungen in gedruckter Form und natürlich mit Original-Archivmaterialien genutzt werden. Wir hoffen, dass WissenschaftlerInnen und Lehrende gleichermaßen in diesem Modul die Werkzeuge und die Anregung finden werden, um zu verstehen, wie Deutschsein an verschiedenen Punkten der Geschichte, in verschiedenen Situationen und von verschiedenen Deutschen wahrgenommen—und in Frage gestellt—wurde.

Anmerkungen

[1] Neil Gregor deutete in seiner Rezension von Sabine Mecking, Yvonne Wasserloos, Hrsg., Inklusion & Exklusion: ‘Deutsche’ Musik in Europa und Nordamerika 1848–1945 (Göttingen: V&R unipress, 2016), in German History 35, Nr. 3 (2017), S. 455-46 diese Schlußfolgerung an. In Bezugnahme auf eines der Buchkapitel bemerkte er, bestimmte Zuschreibungen von „Germanness“ seien „always at the centre of a field of open debate“ und keineswegs „a point of settled consensus“.
[2] Wir sind uns auch bewusst, dass die gewählte Terminologie der Epochen und der Periodisierung einen Eurozentrismus widerspiegeln mag, der oft den historiographischen Konzepten selbst inhärent ist. Ebenso ist hervorzuheben, dass Quellen, die aus eurozentrischen Perspektiven erstellt wurden, ihrerseits dieselben Perspektiven reproduzieren können. Leider lässt sich dies nicht vermeiden.
[3] Generell zur Frühen Neuzeit siehe Paul Münch, Lebensformen in der frühen Neuzeit. 1500 bis 1800, (Berlin: Ullstein Buchverlag, 1998); Münch, Das Jahrhundert des Zwiespalts. Deutschland 1600–1700. (Stuttgart: Kohlhammer, 1999); and Euan Cameron, Hrsg., Early Modern Europe: An Oxford History (Oxford und New York: Oxford University Press, 2001). Die Frage, ab wann ein nationales Bewusstsein feststellbar ist, bleibt kontrovers. Zum Thema deutsche Nation und deutsche Identität in der Frühen Neuzeit, Georg Schmidt, Hrsg., Die deutsche Nation im frühneuzeitlichen Europa. Politische Ordnung und kulturelle Identität? (München: Historisches Kolleg, 2010); Caspar Hirschi, Wettkampf der Nationen. Konstruktionen einer deutschen Ehrgemeinschaft an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit (Göttingen: Wallstein Verlag, 2005).
[4] Zum 19. und frühen 20. Jahrhundert, Helmut Walser Smith, The Continuities of German History. Nation, Religion, and Race across the Long Nineteenth Century (Cambridge und New York: Cambridge University Press, 2008). Für die Zeit nach 1945 Rita Chin, Heide Fehrenbach, Geoff Eley und Atina Grossman, Hrsg., After the Nazi Racial State. Difference and Democracy in Germany and Europe (Ann Arbor: University of Michigan Press, 2009).
[5] Zu Region James Retallack, Hrsg., Saxony in German History. Culture, Society, and Politics, 1830–1933 (Ann Arbor: University of Michigan Press, 2000).
[6] Levke Harders, „Migration und Biographie. Mobile Leben beschreiben“, in Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 29, Nr. 3 (2018), S. 17-36, auch zum theoretischen Ansatz der Intersektionalität in der englisch- und deutschsprachigen Forschung.
[7] Zu nationaler Indifferenz, siehe Tara Zahra, „Imagined Non-Communities: National Indifference as a Category of Analysis“, Slavic Review 69 (Spring 2010), S. 93-119.
[8] Ein Beispiel wäre: Birgit Weyhe, Madgermanes (Berlin: Avant-Verlag, 2016). Sie beschreibt dort die Erfahrungen und Erinnerungen ehemaliger Vertragsarbeiter aus Mosambik in der DDR.
[9] Doris L. Bergen, „The Nazi Concept of ‚Volksdeutsche‘ and the Exacerbation of Anti-Semitism in Eastern Europe, 193945“, Journal of Contemporary History 29, Nr. 4 (1994), S. 569-82.
[10] Kenneth Barkin, „W. E. B. Du Bois and the Kaiserreich“, Central European History 31, Nr. 3 (September 1998), S. 155-70.
[11] Jürgen Osterhammel, „Reisen an die Grenzen der Alten Welt. Asien im Reisebericht des 17. und 18. Jahrhunderts“, in Peter J. Brenner, Hrsg., Der Reisebericht. Die Entwicklung einer Gattung in der deutschen Literatur (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1989), S. 224-60, hier S. 229. Siehe auch Antje Flüchter, „Transethnic Unions in Early Modern Travel Literature“, in David M. Luedtke und Mary Lindemann, Hrsg., Mixed Matches. Transgressive Unions in Germany from the Reformation to the Enlightenment (New York: Berghahn, 2014), S. 150-65.
[12] Bernhard Struck, Nicht West-nicht Ost. Frankreich und Polen in der Wahrnehmung deutscher Reisender zwischen 1750 und 1850 (Göttingen: Wallstein, 2006). Die deutsche Ostgrenzen nach 1918 sollte für ImmigrantInnen aus Osteuropa unüberwindlich sein, während Deutsche sie nach Osten überschreiten durften; siehe Annemarie Sammartino, The Impossible Border. Germany and the East, 1914-1922 (Ithaca: Cornell University Press, 2010).
[13] H. Glenn Penny und Stefan Rinke, „Germans Abroad: Respatializing Historical Narrative“, in Geschichte und Gesellschaft 41 (2015), S. 173-96; Franka Bindernagel, Deutschsprachige Migranten in Buenos Aires. Geteilte Erinnerungen und umkämpfte Geschichtsbilder 1919-1932 (Paderborn: Schöningh, 2018); und Stefan Manz, Constructing a German Diaspora. The “Greater German Empire,” 1871-1914 (New York: Routledge, 2014).
[14] Mark Roseman, „Racial Discourse, Nazi Violence, and the Limits of the Racial State Model“, in Beyond the Racial State: Rethinking Nazi Germany, herausgegeben von Devin O. Pendas, Mark Roseman und Richard F. Wetzell (Cambridge und New York: Cambridge University Press, 2017), S. 33-34.
[15] Susanne Zantop, Colonial Fantasies. Conquest, Family, and Nation in Precolonial Germany, 1770-1870 (Durham: Duke University Press, 1997).
[16] Patricia Hill Collins, Valerie Chepp, „Intersectionality“, in The Oxford Handbook of Gender and Politics, herausgegeben von Georgina Waylen, Karen Celis, Johanna Kantola und S. Laurel Weldon (Oxford und New York: Oxford University Press, 2013), S. 58-87.
[17] Uffa Jensen, Gebildete Doppelgänger. Bürgerliche Juden und Protestanten im 19. Jahrhundert (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2005).
[18] Avraham Barkai, „Between East and West: Jews from Germany in the Lodz Ghetto“, Yad Vashem Studies 16 (1984), S. 271-332.
[19] Zur katholischen Distanz zum Sedan-Tag (sowie generell auch zum Grenzthema) David Blackbourn, James Retallack, „Introduction“, in Localism, Landscape, and the Ambiguities of Place. German-speaking Central Europe, 1860-1930, herausgegeben von David Blackbourn und James Retallack (Toronto: University of Toronto Press, 2016).
[20] Celia Applegate, A Nation of Provincials. The German Idea of Heimat (Berkeley: University of California Press, 1990); Alon Confino, The Nation as a Local Metaphor: Württemberg, Imperial Germany, and National Memory, 1871–1918 (Chapel Hill: University of North Carolina Press, 1997).
[21] Krista O’Donnell, Renate Bridenthal und Nancy Reagin, Hrsg., The Heimat Abroad. The Boundaries of Germanness (Ann Arbor: University of Michigan Press, 2005), S. 1.
[22] Die Konvergenz der Politik in der von den Amerikanern dominierten „Ersten Welt“ und der sowjetisch dominierten „Zweiten Welt“ in Bezug auf Wissenschaft, Arbeitsmigration und Umwelt wurde in Arbeiten zu den so genannten „Atomstädten“, in denen Plutonium hergestellt wurde, untersucht. Siehe Kate Brown, Plutopia: Nuclear Families, Atomic Cities, and the Great Soviet and American Plutonium Disasters (Oxford und New York: Oxford University Press, 2013).