Einführung der Herausgeber

  • Michael Printy
  • Jeffrey T. Zalar

Dieses Modul bietet eine Auswahl an Texten, Bildern und audiovisuellen Materialien zur Wissens- und Bildungsgeschichte in Deutschland im Zeitraum von etwa 1500 bis heute. Voranstellen möchten wir einige Überlegungen über die „Geschichte des Wissens“ als Forschungsfeld. Dazu gehört die Beschreibung ihrer Entstehung und Entwicklung ebenso wie ihrer analytischen Absichten. Anschließend erläutern wir die Grundprinzipien und Kriterien für die vorliegende Sammlung von Primärquellen. Schließlich geben wir Empfehlungen zum Einsatz der Quellensammlung in Forschung und Lehre.

Die „Geschichte des Wissens“ als Forschungsfeld

Seit der Entstehung der modernen akademischen Methoden im 19. Jahrhundert ist die Ideengeschichte ein blühendes Forschungsgebiet. Sie konzentrierte sich auf die großen Theorien und Entdeckungen der menschlichen Erfahrung – und auf die Männer und Frauen, die sie als erste hervorbrachten, und stützte sich auf die Behauptung, alles Wissen sei kumulativ und damit seinem Wesen nach fortschrittlich.[1] Die Ideengeschichte ist allerdings durchaus nicht identisch mit der Wissensgeschichte, die ihrerseits bis Anfang der 1990er Jahre „als exotischer oder gar exzentrischer Gegenstand galt“.[2] Die Geschichte des Wissens ist ein breiter kontextualisiertes und multidisziplinäres Unterfangen. Als Disziplin, die sich am Schnittpunkt von Bereichen wie Soziologie, Anthropologie und Wissenschaftsgeschichte befindet und sensibel ist für die wachsende Skepsis hinsichtlich der Objektivität und Linearität von Wissensansprüchen, ist die Wissensgeschichte während der letzten Jahrzehnte ins Zentrum des historischen Interesses gerückt. Hierhin haben sie verschiedene Triebkräfte gebracht. So haben beispielsweise SoziologInnen in der Tradition von Karl Mannheim (1893–1947) und Pierre Bourdieu (1930–2002) die Idee des „situierten“ Wissens weiterentwickelt. Die Vertreter dieser Idee sind überzeugt, dass Wissen als solches wenig aussagt. Um zu verstehen was Wissen für die verschiedenen Gruppen von Menschen bedeutet, die mit ihm in Berührung kommen, muss Wissen im Hinblick auf die sozialen, institutionellen und kulturellen Bedingungen, unter denen es produziert und verbreitet wird, verstanden werden, da diese Bedingungen Bedeutung hervorbringen und tatsächlich maßgeblich bestimmen.[3] WissenschaftshistorikerInnen haben unterdessen ihre Forschungen über die Untersuchung der wissenschaftlichen Disziplinen im engeren Sinne und ihrer verschiedenen VertreterInnen hinaus erweitert, um Fragen nachzugehen, wie beispielsweise Vorstellungen von Objektivität und Beweiskraft in politische, kulturelle und selbst sprachliche Kontexte eingebettet waren, die ihrerseits bedingten, wie diese Vorstellungen formuliert wurden. Die Erkenntnis, dass scheinbar neutrale und zeitüberdauernde Konzepte wie „Objektivität“ und „Beweis“ historisch konstruiert sind, ermöglichte es, nicht nur große Ideen und die dahinter stehenden DenkerInnen zu untersuchen, sondern auch ein sich ausweitendes Spektrum von Wissensorten, -praktiken und akteurInnen mit einzubeziehen.[4] Daraus folgt, dass dieser Perspektivenwechsel, der sich auf Wissen (oder Wissensformen) bezieht, die ihrerseits in verschiedenen Kontexten verortet und verhandelt werden, sowohl den „Inhalt“ des Wissens als auch die Strukturen und Konventionen betrifft, die es prägen, definieren und verbreiten.

In einem anregenden programmatischen Essay über die Absichten des Forschungsfeldes charakterisiert der Schweizer Historiker Philipp Sarasin die Geschichte des Wissens als Ansatz, mit dem „die gesellschaftliche Produktion und Zirkulation von Wissen untersucht werden soll“. Dieser Ansatz basiert auf zwei Grundannahmen. Erstens: „Wissen zirkuliert zwischen Menschen und Gruppen“ und verbleibt nicht innerhalb enger sozialer oder räumlicher Grenzen. Diese Annahme fordert HistorikerInnen dazu auf, das gesamte Spektrum derjenigen Individuen zu untersuchen, auf die sich Wissen möglicherweise ausgewirkt hat – oder eben nicht. Zweitens: „Wissen ist ein historisches Phänomen und wird von uns ausschließlich als solches behandelt, das heißt: nicht hinsichtlich der Frage, ob bestimmte Wissensbestände nun wahr oder falsch, besser oder schlechter, nützlich oder unnütz sind.“ Vielmehr geht es, so Sarasin weiter, darum, „wie, wann und gegebenfalls warum ein bestimmtes Wissen auftaucht – und wieder verschwindet. Ferner: welche Effekte es hat, in welchen Zusammenhängen es funktioniert, wer seine Träger sind, in welchen Formen es erscheint“.[5] Diese Annahme, die auf der bereits erwähnten Skepsis der Objektivität gegenüber beruht, eröffnet den HistorikerInnen einen analytischen Raum, um der schlichten Frage nachzugehen, wie Wissen in sozialen Kontexten funktionierte – was seinerseits ein interessantes Forschungsthema ist. Dieser neue „Denkrahmen“ hat den Vorteil, an die Stelle der materialistischen und ökonomischen Tendenzen der Sozialgeschichte einen dynamischen kulturhistorischen Ansatz zu setzen, der sich auf Gesellschaftliches bezieht, zugleich aber auch die Persönlichkeiten, Praktiken, Sprachmodi und Verbreitungsmedien von Wissen in all ihrer Vielfältigkeit in den Blick nimmt.[6]

Die Wissensgeschichte ist somit ein Modus, eine Reihe bekannter Fragen neu zu stellen. Diese Neuausrichtung wirkt sich positiv auf verwandte Disziplinen aus. Als Forschungsmatrix positioniert sich die Wissensgeschichte an der Schnittstelle einer wachsenden Anzahl von Forschungsfeldern: Wie bereits erwähnt zählen dazu die Soziologie, Anthropologie und Wissenschaftsgeschichte, aber auch die Sozialgeschichte, Buchgeschichte, Kulturgeschichte, Migrationsgeschichte und andere. Alle diese Bereiche haben in den zurückliegenden Jahrzehnten Veränderungen erfahren, ihre Untersuchungsgebiete erweitert, ältere Hierarchisierungen in Frage gestellt und Machtverhältnisse hinterfragt, insbesondere in Bezug auf Geschlecht, Rasse, Religion und soziale Schicht. In einigen Fällen hat ein wissensgeschichtlicher Ansatz zur Entwicklung dieser Bereiche beigetragen und ihnen zu vielversprechenden Neuausrichtungen verholfen. So ist beispielsweise die Geschichte der Staatsmacht in kolonialen Gebieten zwar vielfach geschrieben worden. Doch neuere Studien haben begonnen, Praktiken der Informationsbeschaffung von „WissensarbeiterInnen“ in diesen Gebieten zu untersuchen, ihre Bedeutung hervorzuheben und Instrumente und/oder Erscheinungsformen von Staatsmacht offenzulegen.[7] Mit Objekten aus einheimischen Blumen-, Tier- und Präparationssammlungen sind wir seit langem vertraut, aber neuere Studien können erklären, wie diese Sammlungen Wohnhäuser zu eigenständigen Wissensorten werden liessen (und also alles andere als statisch oder dekorativ waren), mit weitreichenden Auswirkungen auf die Dynamiken der familiären Machtverhältnisse und auf Diskussionen über eine angemessene Schulbildung.[8] Die vielleicht erstaunlichste Entwicklung betrifft den Status der Religion. Während ältere Studien den Religionen jede Fähigkeit zur Wissensproduktion absprachen, wird in der neueren Forschungsliteratur darauf insistiert, dass Religionen als legitime Wissensstrukturen ernst genommen werden müssen und dass ihre Anhänger im weiteren Sinne als legitime Wissende anerkannt werden müssen. [9] Diese umfassendere Perspektive erlaubt Aufschluss darüber, in welcher Beziehung historische Wissensstrukturen zueinander stehen und wie Wissende in all ihren Erscheinungsformen und unabhängig von ihren Bekenntnissen Wissen produzierten, weitertrugen, übersetzten und in Zirkulation brachten, indem sie sich selbst auf einem zunehmend überfüllten und umkämpften Marktplatz der Ideen situierten.

Allerdings bleibt unklar, wie diese verschiedenen Studien, die sich tendenziell auf einzelne Perioden, Orte, Konzepte und Praktiken konzentrieren, eine übergreifende Theorie der Wissensgeschichte begründen könnten. Zu dieser Frage liefert Simone Lässig hilfreiche Vorschläge. Sie zeigt, wie ein wissensgeschichtlicher Ansatz dazu beitragen kann, Fragen zu Einwanderung und Integration im frühen 20. Jahrhundert in Amerika zu beantworten: „Eine neue Geschichte des Wissens – die sich im Prinzip auf die Geschichten des Wissens konzentrieren sollte – kommt nicht umhin, ein breites Spektrum von Wissensformen zu berücksichtigen. Dieses Spektrum reicht von Wissen, das durch Alltagserfahrung erworben wurde, bis hin zu dem Wissen von KünstlerInnen, HandwerkerInnen und FacharbeiterInnen, von administrativer und unternehmerischer Expertise bis hin zum Wissen akademischer Gelehrter und ForscherInnen.“[10] Desweiteren identifiziert sie drei wichtige Aspekte der Geschichte des Wissens als Untersuchungsmethode, die sich auf deren analytischen Nutzen auswirken. Erstens zwinge das sozial verstandene Wissen „HistorikerInnen dazu, die komplexe Beziehung zwischen Struktur und Agency zu überdenken“. Zweitens erweitere die Geschichte des Wissens grundlegend unser Verständnis dessen, was Wissen ausmacht, da sie als Untersuchungsobjekte alles umfasse, von kanonischem Wissen, wie Wissen über „Wissenschaft“, bis hin zu verlorenem, prekärem und heimlichem Wissen sowie Unwissenheit. Drittens muss die Methode eingestehen, dass „Wissen nie nur eine emanzipatorische Kraft gewesen ist“, ungeachtet der hartnäckigen Behauptung, die auf Platon zurückgeht. Dieses Zugeständnis stellt die Fachleute auf dem Forschungsfeld vor die Herausforderung, Wissen, wie auch immer es erfahren wurde, in einem breiten Spektrum historischer Zusammenhänge zu erforschen. [11] Insgesamt sind mit dieser flexiblen Methode also verschiedene Bereiche historischen akademischen Interesses angesprochen. Gleichzeitig eröffnet sie neue Sichtachsen in angrenzende Disziplinen.

Die Quellensammlung: Zusammenstellung und Ordnung

Bei der Zusammenstellung dieser Sammlung von Quellentexten, Bildern und audiovisuellen Materialien haben wir verschiedene Leitgedanken berücksichtigt. Erstens war angesichts des langen Zeitraums seit 1500 bei der Materialauswahl Sorgfalt geboten: Unsere Quellensammlung erhebt Anspruch auf Relevanz und Zugänglichkeit, nicht aber auf Tiefe und Vollständigkeit. Zweitens: Da dieses Modul Teil des Projekts German History Intersections ist, wurden viele unserer Entscheidungen durch die beiden anderen Module des Projekts („Germanness“ und „Migration“) beeinflusst. Im Wissen darum, dass interessierte NutzerInnen daher Zugriff auf zusätzliche Materialien zu diesen Themen haben würden, haben wir uns erlaubt, einige wichtige Themenbereiche zu Wissen und Bildung in Deutschland auszulassen, wie beispielsweise das Wissen von Migranten. Ein drittes Auswahlkriterium war die Verfügbarkeit. Anders gesagt: Wir haben solchen Materialien den Vorzug gegeben, die nicht ohne weiteres in anderen frei zugänglichen Online-Quellensammlungen verfügbar sind (oder in absehbarer Zeit dort enthalten sein werden). Wir haben uns nicht daran hindern lassen, esoterisch Anmutendes und Ungewöhnliches in den Fällen aufzunehmen, in denen Relevanz oder reines Interesse überwogen. Eine letzte Überlegung war, ein Gleichgewicht zwischen den Quellen zum Thema „Wissen“ auf der einen und solchen zum Thema „Bildung“ auf der anderen Seite herzustellen. In der Regel haben wir keine strenge Unterscheidung zwischen den beiden Konzepten vorgenommen. Weil die Geschichte der deutschen Bildung aber bereits so umfangreich untersucht und dokumentiert worden ist (insbesondere für die Sekundar- und Postsekundarstufe), fühlten wir uns nicht verpflichtet, die institutionelle Bildungsgeschichte in dieser Sammlung vollständig abzubilden. Obwohl wir die Bedeutung bestimmter Schlüsselepisoden, -texte oder -institutionen in der deutschen Bildungsgeschichte nicht unterschätzen wollen, haben wir andere Aspekte in den Vordergrund gestellt, darunter solche, die das Verständnis der LeserInnen für die vielfältigen Bereiche vertiefen können, in denen „Wissen“ produziert, bewertet und vermittelt wurde.

Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen haben wir uns an die Arbeit gemacht. Unser Hauptanliegen war dabei nicht, eine theoretische Grundlage für das Forschungsfeld bereitzustellen. Vielmehr wollten wir Kategorien entwickeln, um die uns zur Verfügung stehenden umfangreichen Quellen zu organisieren. Im Laufe der Zeit haben wir diese auf zehn reduziert:

1. Wissensorte
2. Wissenspraktiken
3. Wissensarbeit und Wissensnetzwerke
4. Geheimes und implizites Wissen
5. Wissenskonflikte und Wissenskontroversen
6. Naturwissen
7. Körperwissen und Anthropologie
8. Wissenstechnologien
9. Sozial- und Geisteswissenschaften
10. Wissenspopularisierung

Diese zehn Kategorien leiteten uns bei der Suche und Organisation unserer Quellen. Einige der Kategorien, deren Sinngehalt scheinbar einfach war, halfen uns, unvorhergesehene Ideen zu entwickeln. Die Kategorie „Wissensorte“ führte uns zum Beispiel nicht nur zu den klassischen Beispielen (Schulen, Museen, Laboratorien und Akademien), sondern brachte uns auch dazu, über Haushalte, Klöster, Bibliotheken für Blinde und Zoos nachzudenken. Aus der Perspektive der Kategorie „Wissenskonflikte und Wissenskontroversen“ rückten nicht nur Quellen aus vorhersehbaren Bereichen wie die Beziehungen zwischen Kirche und Staat und zwischen liberalem und konservativen politischen Lager in den Blick, sondern auch die Beziehungen zwischen Männern und Frauen sowie zwischen Eliten und Untergebenen.

Auch auf thematische und konzeptionelle Überschneidungen zwischen verschiedenen und innerhalb einzelner unserer Kategorien wurden wir aufmerksam. Beispielsweise funktionieren „Naturwissen“, „Körperwissen und Anthropologie“ sowie „Sozial- und Geisteswissenschaften” als wichtige eigenständige Kategorien. Gleichzeitig beziehen sie sich aber auch auf Wissensbereiche – Natur, Körper sowie die Sozial- und Geisteswissenschaften –, die sich in unterschiedlichen historischen Kontexten gegenseitig durchdringen. „Wissenspraktiken“, „Wissenstechnologien“ und „Wissenspopularisierung“ sind voneinander zu unterscheiden und zugleich der Produktion und Verbreitung von Wissen zuzuordnen. „Wissenspraktiken“ umfassen Aktivitäten wie Sammeln, Beobachten und Quantifizieren. „Wissenstechnologien“ fassen diese Praktiken zusammen, fokussieren aber auf die für sie relevanten Instrumente wie Druckerpressen, Mikroskope und Computer. „Wissenspopularisierung“ ist ohne Bezugnahme auf die Praktiken und Technologien, die den Typus des verbreiteten Wissens charakterisieren, nicht zu verstehen. „Wissensarbeit und Wissensnetzwerke“, „Geheimes und implizites Wissens“ und „Wissenskonflikte und Wissenskontroversen“ passen ebenfalls zusammen, da sie die spezifisch gesellschaftliche Natur von Wissen in den Vordergrund stellen. Die Akzentverschiebung auf WissensarbeiterInnen und ihre Netzwerke lässt erkennen, dass selbst „anspruchsvolle“ intellektuelle Anstrengungen, wie die wissenschaftliche Astronomie, in einem sozialen Umfeld stattfanden, das durch vorgefertigte Konzepte, verbindliche Evaluationssprachen und die Einbeziehung aller möglichen Behörden, Instrumente und HelferInnen geprägt war. Dieses dichte soziale Gewebe bereitet zudem den Boden für intellektuelles Handeln und ermöglicht es uns, die Bedeutung aller verschiedenen Typen von Wissenden und deren Praktiken zu erkennen. Wenn Bauern erst einmal als Produzenten und Konsumenten von (landwirtschaftlichem) Wissen betrachtet werden – als Wissende, die es verdienen, im Rahmen einer historischen Untersuchung Universitätsprofessoren und Krankenhausärzten gleichgeordnet zu sein –, können wir erkennen, dass sich fast jedes Mitglied der Gesellschaft mit einem viel breiteren Spektrum an Wissensaktivitäten auseinandersetzt als gemeinhin angenommen wird. Die Kategorisierung von Wissen als „heimlichem Wissen“ dient ebenfalls dazu, die gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen des Wissens zu betonen, während die Kategorie des „impliziten Wissens“, das sich als bemerkenswert eigensinniges Konzept bei der Generierung brauchbarer Primärquellen erwiesen hat, Annahmen und Praktiken aufruft, die in ihrem eigenen Kontext vielleicht nicht reflektiert wurden. Die Kategorie „Wissenskonflikte“ schließlich beleuchtet die oft umstrittene Frage, was Wissen ausmacht. Solche Konflikte können natürlich auch in allen neun anderen Kategorien gefunden werden. Sie reichen von „Vulkanismus“-Debatten über die geologische Geschichte der Erde zur Rolle des Staates in den Beziehungen zwischen Konfessionen bis hin zur Wissensmobilisierung durch den Staat für Zwecke der politischen Repression. Bei der Beobachtung, wie sich unsere Themen „überschneiden“ und ergänzen, haben wir festgestellt, dass die deutsche Wissensgeschichte in der Moderne einen gewissen inneren Zusammenhang besitzt, so selektiv die Inhalte der vorliegenden Quellensammlung auch sein mögen.

Nachdem wir die allgemeinen Kategorien festgelegt hatten, stellten wir Listen mit Themen oder Begriffen zusammen, die jede Kategorie umfasste. Unter „Wissenspraktiken“ listen wir beispielsweise auf: Beobachten, Sammeln, Quantifizieren, Qualifizieren, Analysieren, Kritisieren, Spekulieren, Experimentieren, Klassifizieren und Verwalten von Wissen. Die unter „Wissensarbeiter“ aufgeführten Begriffe waren noch breitgefächerter. Dazu gehören: LehrerInnen, Bauern, Priester, Pastoren, Rabbiner, Regierungsregistratoren, Gerichtsschreiber, Chirurgen, Alchemisten, Regierungsspione, Propagandisten, Bibliothekare, Enzyklopädisten, Übersetzer, Expeditionsteilnehmer, Missionare, Kartografen, Nudisten, „Experten“, Computerhacker usw.[12] Auf der Grundlage dieser Begriffs- und Themenlisten machte sich jede/r HerausgeberIn, innerhalb seines/ihres Forschungsgebietes (aber ohne allzu strenge Einschränkungen) auf die Suche nach relevanten Quellen. Unsere Forschung legte den Schluss nahe, dass einige Themen, wie Schulen und Bibliotheken, mehrfach erwähnt werden mussten, um Entwicklungen über einen langen Zeitraum hinweg zu berücksichtigen. Andere Themen wie frühneuzeitliche „Wunderkammen“, die Tiermenagerien des Fin-de-siècle und die Sexualitäts-„Atlanten“ der Nachkriegszeit tauchen in der Sammlung zwar berechtigterweise, aber nur vereinzelt auf.

Die Verwendung der Quellensammlung

Unsere Arbeitsweise haben wir auch deswegen hier skizziert, um zu betonen, dass es keine vorgeschriebene Art der Nutzung für diese Sammlung gibt. Im Unterschied zu einem Reader für ein Seminar oder gewissen Anthologien von Primärquellen gibt unsere Sammlung kein zugrundeliegendes Narrativ oder eine zusammenfassende Sichtweise vor. In vielen Fällen werden die Quellen problemlos ihren Zusammenhang mit der Wissens- und Bildungsgeschichte erkennen lassen, wie bei den Materialien zu Archiven, Museen, Bibliotheken und Schulen. In anderen Fällen ist der Zusammenhang jedoch möglicherweise weniger offensichtlich, wie beim Artikel über Zuckerrüben oder dem Foto von Milchkannen, die in einem Keller im Warschauer Ghetto vergraben wurden. Besonders in diesen Fällen können sich LeserInnen an den begleitenden Kurztexten und Bildunterschriften orientieren, deren Inhalt und Formulierung von rein deskriptiv bis bewusst pädagogisch reichen.

Insgesamt haben wir uns um freien und flexiblen Ansatz bemüht. Wir hoffen, dass sich die LeserInnen auf die zehn vorgeschlagenen Kategorien einlassen werden und dabei ihre eigenen Entdeckungen machen und Zugänge zu weiterführenden Forschungsfragen finden. Die Sammlung soll daher sowohl als spannende Lektüre als auch als Ansporn für Forschung und vertieftes Lesen dienen. So könnten die vorgestellten Textauszüge aus einem Hebammenhandbuch des 17. Jahrhunderts beispielsweise Fragen nach vergleichbaren Handbüchern aufwerfen, die in späteren Epochen veröffentlicht wurden. Alternativ kann dasselbe Handbuch aber auch ganz andere Fragestellungen anregen.

Das betreffende Handbuch wurde von einer bekannten Hebamme für AristokratInnen in Dialogform verfasst. Wie viele andere Frauen verfassten in dieser oder zu anderen Zeiten Texte im medizinischen Bereich? Wie erfolgreich oder verbreitet war die Dialogform allgemein in der didaktischen Literatur? Ausschnitte aus Günter Gaus’ Fernsehinterview mit Hannah Arendt von 1964 beleuchten deren eigene Bildungsgeschichte und zeichnen ein Bild ihrer Vorstellungen über die Rolle politischer TheoretikerInnen in der Gesellschaft. Gleichzeitig wirft das Interview auch Fragen auf zur Rolle des Fernsehens in der Popularisierung von „Hochkultur“ im 20. Jahrhundert. Es lädt auch zu Vergleichen ein: Inwiefern unterschied sich dieses Medium von anderen sowohl vor als auch nach ihm? Ebenso können die Text- und Videoausschnitte über die „Frankfurter Küche“ (1927) aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet werden. Die Textauszüge erklären, wie sich Architekten und Designer rationale Gestaltungsprinzipien zu eigen machten, um den Arbeitsaufwand bei der Zubereitung von Mahlzeiten zu reduzieren. Das Video zielt sowohl auf die Weiterbildung zeitgenössischer VerbraucherInnen als auch auf die Popularisierung der Visionen und Absichten, die hinter dieser bahnbrechenden Umgestaltung der modernen Küche stehen. Gleichzeitig macht das Video auch deutlich, dass die Arbeit in der alten wie in der neuen Küche sowohl explizites als auch implizites Wissen erfordert und erinnert uns daran, dass Hausarbeit auch Teil der Geschichte des Wissens ist. Diese Beobachtung kann ihrerseits weitere Fragen nach implizitem Wissen in anderen Zeitepochen und anderen Aspekten der Hauswirtschaft aufwerfen.

Wenn man sich der Quellensammlung mit Fantasie annähert, kann dies noch weitere interpretative Vorteile mit sich bringen. Der Eintrag über Elsaß-Lothringen in der weitverbreiteten Enzyklopädie Meyers großes Konversations-Lexikon in der Ausgabe von 1903 lässt zunächst erkennen, wie das historische Wissen über dieses umstrittene Gebiet in den Jahrzehnten nach dem Deutsch-Französischen Krieg (1870–71) im Rahmen eines nationalistischen und militärischen Projekts mobilisiert wurde. Darüber hinaus zeigt der Artikel auch, wie eine scheinbar neutrale Enzyklopädie – ein Medium bürgerlicher Bildung und Inbegriff der Seriosität – zu einem Vehikel der Staatspropaganda werden konnte. Einträge aus dem privaten Tagebuch des Seefahrers Heinrich Zimmerman (1781) aus seiner Zeit als Besatzungsmitglied auf James Cooks dritter Reise (1776–80) dokumentieren die Beteiligung von Deutschen an außereuropäischen Entdeckungsreisen und belegen das praktische Wissen, das einfache Seeleute zum Überleben benötigten. Der Text wirft aber auch Fragen nach dem deutschen Markt für Berichte über Auslandsreisen in exotische Länder auf und damit Themen, die mit anderen Materialien sowohl in dieser Sammlung als auch darüber hinaus weiter verfolgt werden können. Dies sind nur einige Beispiele für die verschiedenen Perspektiven, die auf jede der hier präsentierten Quellen angewendet werden können – und wir hoffen, dass es noch viele weitere solcher Beispiele gibt, die entdeckt werden wollen!

Obwohl wir davon ausgehen, dass die LeserInnen die hier präsentierten Quellen frei nutzen werden, auch unter Bezugnahme zu anderen nationalen Wissensgeschichten, möchten wir abschließend einige wichtige Themen in der vorliegenden Sammlung hervorheben, die für die Besonderheiten einer spezifisch „deutschen“ Wissensgeschichte stehen. Das erste dieser Themen ist die anhaltende Bewegung von Wissen über gesellschaftliche Grenzen hinweg. Daher werden Quellen, die sich mit der Produktion von Wissen durch eine Elite, durch Professoren, Staaten, religiöse Autoritäten und dergleichen, befassen, Quellen „aus dem Volk“ gegenübergestellt, um zu zeigen, dass Wissen gleichzeitig in verschiedene Richtungen reiste. Ein zweites Thema ist die Verbreitung wissenschaftlicher und technischer Wissensweisen. Das Ausmaß dieser Verbreitung zeigt sich erklärtermaßen in den deutschen Staaten des 19. und 20. Jahrhunderts. Es ist jedoch wichtig zu betonen, dass frühere Epochen eine ähnlich „egalisierte“ Verbreitung solchen Wissens erkennen lassen. Auch darauf ist zu achten. Ein drittes herausragendes Thema ist die anhaltende Relevanz von religiösem Wissen wie auch religiös situiertem Wissen. Ersteres könnte als Wissen über Doktrin, Praxis und heilige Texte bezeichnet werden. Letzteres – religiös situiertes oder beeinflusstes Wissen – steht nicht nur für den traditionellen religiösen Pluralismus in den deutschen Staaten, sondern auch für das breite Spektrum religiöser Institutionen, Verbände und Diskurse des Zusammenlebens und Konflikts, die während des gesamten Zeitraums dieses Moduls eine so wichtige Rolle in allen Aspekten des deutschen Lebens gespielt haben. Unsere Quellen verweisen auf die zentrale Stellung des Lesens in der deutsch-jüdischen Kultur; zugleich zeigen sie auch, wie das Studium von Mollusken als Imperativ protestantischer Frömmigkeit interpretiert werden konnte und wie Wahrnehmungen von Bildungszielen das gesellschaftliche Schicksal von Katholiken bestimmen konnten.

Die Frage, ob es eine dezidiert „deutsche“ Wissensgeschichte gibt, lässt sich letztlich nur in Bezug auf die immer wiederkehrenden Themen der deutschen Geschichte beantworten. Mit dieser Sammlung möchten wir betonen, dass die Wissensgeschichte in Deutschland zum einen an den größeren Konflikten, die die deutsche Geschichte geprägt haben, Teil hat und zugleich ein neues Licht auf sie wirft, darunter unter anderem die religiösen Auseinandersetzungen der Reformation, wissenschaftliche und soziale Kontroversen im 18. und 19. Jahrhundert, die totalitäre und rassenmörderische Politik der Mitte des 20. Jahrhunderts sowie die umstrittene Kultur und Politik der Nachkriegszeit. Die erste Kategorie in dieser Sammlung, „Wissensorte“, zielt darauf ab, die Vielfalt der Räume zu erfassen, in denen Wissensproduktion, -konsum und -zirkulation stattfinden. Im weitesten Sinne schlägt diese Sammlung jedoch „Deutschland“ selbst als „ Wissensort“ vor und lädt damit NutzerInnen und WissenschaftlerInnen ein, darüber nachzudenken, inwiefern ein wissensgeschichtlicher Ansatz dazu animieren kann, einige der klassischen Probleme der deutschen Geschichtsschreibung zu überdenken. Diese Überlegungen müssen die Perspektiven und Stimmen der Neuankömmlinge am deutschen „Wissensort“ ernst nehmen, was wiederum die Aufmerksamkeit auf die deutsche Identität und die Bewegung der Menschen innerhalb Deutschlands, über seine Grenzen und darüber hinaus lenkt. Hier muss also jede „deutsche“ Wissensgeschichte beginnen, wenn man erforscht, wie sich Wissensweisen mit Fragen von „Germanness“ und Migration überschneiden (um an die beiden anderen Module des Projekts German History Intersections anzuknüpfen).

Anmerkungen

[1] Charles Van Doren, A History of Knowledge: Past, Present, and Future (New York: Ballantine Books, 1991), xv-xxv.
[2] Peter Burke, What Is the History of Knowledge? (Cambridge, UK: Polity Press, 2016), 2.
[3] Ibid., 9-11.
[4] Lorraine Daston und Peter Galison, Objectivity (New York: Zone Books, 2007). Frühere Denkversuche in diese Richtung spiegeln sich im Titel der Studie des Biologen Ludwik Fleck über „Denkstil“ wider: Ludwik Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache: Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollectiv (Basel: B. Schwabe, 1935).
[5] Philipp Sarasin, „Was ist Wissensgeschichte?“ Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 36, Nr. 1 (2011): 159-72; 164-65.
[6] Sarasin, 172.
[7] Beispielsweise Arndt Brendecke, Imperium und Empirie: Funktionen des Wissens in der spanischen Kolonialherrschaft (Köln: Böhlau Verlag, 2009); sowie Jacob Soll, The Information Master: Jean-Baptiste Colbert’s Secret State Intelligence System (Ann Arbor: University of Michigan Press, 2009).
[8] Beispielsweise Philip Ball, Curiosity: How Science Became Interested in Everything (Chicago: University of Chicago Press, 2013).
[9] Burke, What Is the History of Knowledge? 7.
[10] Simone Lässig, „The History of Knowledge and the Expansion of the Historical Research Agenda“,S Bulletin of the German Historical Institute 59 (Fall 2016): 43. Online verfügbar unter: https://perspectivia.net/publikationen/bulletin-washington/2016-59/0029-0058
[11] Ibid., 44-7.
[12] Wir haben hier bewusst die männliche Form der meisten Personenkategorien gewählt, da die meisten dieser Funktionen in der Tat historisch Männern vorbehalten waren und die entsprechenden Quellen daher von männlichen Autoren stammen und eine männliche Sichtweise widerspiegeln.
Übersetzung: aus dem Englischen von Katharina Böhmer