Kalman W., Zeitzeugenbericht über geheimes Radio im Ghetto Lodz (Rückblick, 1993)

Kurzbeschreibung

Audioaufnahme des Zeitzeugenberichts von Kalman W., der 1920 in Lodz Polen, geboren wurde. Er erinnert sich, dass er im Ghetto Lodz heimlich Radio hörte und die Nachrichten verbreitete. Seinem Bericht zufolge hörte er Sendungen sowohl auf Polnisch als auch auf Deutsch. Er erinnert sich, dass die kommunistischen Sendungen nicht besonders gut waren, dass aber die BBC intelligente politische Analysen lieferte. Er erinnert sich auch daran, Nachrichtenberichte über den Brand des Warschauer Ghettos im April 1943 gehört zu haben.

Quelle

Übersetzung

[ . . . ]

Immer zu einer bestimmten Zeit kamen Menschen bei uns zuhause vorbei und mein Vater hat ihnen die Nachrichten aus dem Radio aus dem Ausland erzählt. Ich habe ihn gefragt, wie er an diese Nachrichten herankommt – ich fragte „was ist das, was ist das?“ Er antwortete nur, dass er ein paar Nachrichten hört, das war alles.

Eines Tages beschloss ich herauszufinden, was hier genau vor sich ging.

Die Leute fingen an, zu uns nach Hause zu kommen und ich fand heraus, dass mein Vater Bekannte hatte, die ein verstecktes Radio besaßen. Zu bestimmten Zeiten gingen sie dorthin und hörten Nachrichten und sagten sie dann ihren Freunden weiter. Das hat alles mit einem Kantor im Ghetto angefangen, der Tafel hieß (siehe The Chronicle of the Lodz Ghetto, S. 499). Er konnte viele Sprachen. Viktor Rundbaker hatte sich ein Radio aus Ersatzteilen zusammengebaut und die Leute kamen in sein Zimmer, um die Nachrichten zu hören. Und sie verbreiteten dann die Nachrichten an andere weiter.

Dieser Mann wurde berühmt. Also hat ein Cousin von mir, der sich auskannte – er hieß Shaye Kalman – mit Rundbaker ausgemacht, dass er ein zweites Notbehelfsradio baut. Dieses Radio wurde in dem Haus versteckt, in dem wir wohnten, in der Wohnung eines Nachbarn. Als mir das klar wurde, begann ich, Teil dieser „Sache“ zu sein. Ich habe auch angefangen, die Nachrichten zu hören und sie im Ghetto zu verbreiten. Es gab Tafel‘s Radio in der Wohnung der Wexlers. Es gab noch ein anderes Radio im Ghetto von einem Mann namens Altschuler, ich kannte ihn nicht, aber ich wusste, dass es noch andere gab.

Schließlich ließ auch mein Cousin Shaye, der politisch ein revisionistischer Zionist war, noch ein Radio bauen. Seins war größer und es war in der Wohnung gegenüber von unserer, unterm Dach, in der Wohnung der Lubinskys (siehe The Chronicle of the Lodz Ghetto, S. 499). Dieser Herr Lubinsky hatte seine Familie nach Bedzin oder irgendeiner anderen Stadt geschickt, deshalb war er alleine in seiner Wohnung im Ghetto. Er war gut befreundet mit meinem Vater seit der Zeit, als mein Vater ein Warenlager für den Stoffverkauf hatte.

Wir haben also die Nachrichten verbreitet. Mein Vater hatte Angst, weil wir gehört hatten, dass Tafel die zionistischen Aktivisten in sein Haus einlud. Mein Vater fand das zu gefährlich, weshalb wir das zweite Radio bauen ließen. Und dieses Radio war in unserer Wohnung. Drei- bis viermal am Tag saß ich vor dem Radio mit meinen Kopfhörern. Es war primitiv, aber ich konnte die Nachrichten des BBC hören.

Ich habe angefangen, drei- bis viermal am Tag Radio zu hören, manchmal sogar in der Nacht. Wir waren nicht mehr von der Welt abgeschnitten. Meistens haben wir BBC gehört, sie haben auf Polnisch und Deutsch gesendet, das waren die Sprachen. Manchmal haben wir auch einen polnischen kommunistischen Sender gehört, der von der Ostfront sendete [polnisch], aber meist die BBC. Die kommunistischen Sendungen waren langweilig [genauer: waren nicht sehr gut], ohne jede politische Analyse. Die BBC hatte intelligente Analysten, die alles genau erklärten, und die Sendungen haben uns Hoffnung gegeben. Sie haben sogar jeden Tag ein Lied übertragen, das den Menschen in den Camps Mut machen sollte.

Waren das bekannte Lieder?

[er sagt ein paar Liedtexte auf]

Gibt es ein Lied, an das Sie sich ganz besonders erinnern?

Ich weiß nicht mehr so genau. Es fing an mit „zehn Millionen, zehn Millionen hinterm Zaun in den Lagern“ und so weiter.

Eines Tages sitze ich gerade am Radio und finde einen polnischen Sender, der sich wie ein Untergrundsender aus den besetzten polnischen Gebieten anhört. Er hieß „Swit“ [oder Spit? so klingt es im Hebräischen] (siehe The Chronicle of the Lodz Ghetto, S. 498). Bis zur Befreiung war ich davon überzeugt, dass es ein Untergrundsender war. Als ich herausgefunden habe, dass die Übertragung tatsächlich aus London kam, konnte ich es nicht fassen. Sie hatten die Hintergrundgeräusche – man konnte Hunde bellen hören, Tore haben gequietscht – die es absolut echt gemacht haben. Ich war der festen Überzeugung, dass aus irgendeinem Dorf gesendet worden war.

Eines schönen Tages im April 1943, als ich mal wieder „Swit“ hörte, höre ich diese Worte: „Eine Welt von freien Menschen. Könnt Ihr uns hören? Das Warschauer Ghetto brennt!“ Bis heute kann ich diese Worte nicht vergessen. Diese Nachricht hat mich überrascht. Ich bin sofort zu meinem Vater und dem Rest und habe es ihnen erzählt. Es war das letzte Mal, dass ich diese Worte gehört habe. Es ist mir einfach im Kopf geblieben. [ . . . ]

Übersetzung ins Deutsche aus der englischen Übersetzung der jiddischen Originaltranskription: Elisabeth Mait

Quelle: Kalman W., Zeitzeugenbericht (HVT-3565) [Audioaufnahme], aufgenommen im Juli und August 1993. Clip zur Verfügung gestellt vom Fortunoff Archive for Holocaust Testimonies, Yale University Library, http://hdl.handle.net/10079/bibid/4298273

Lucian Dobroszycki, Hrsg., The Chronicle of the Łódź Ghetto, 1941-1944. Verkürzte Ausgabe. New Haven: Yale University Press, 1984.

Kalman W., Zeitzeugenbericht über geheimes Radio im Ghetto Lodz (Rückblick, 1993), veröffentlicht in: German History Intersections, <https://germanhistory-intersections.org/de/wissen-und-bildung/ghis:audio-1> [01.12.2023].