Eduard Israel Kley, „Der Geist in Israelitischen Volksschulen“ (1821)

Kurzbeschreibung

In diesem Textauszug geht es um den Kernpunkt deutsch-jüdischer intellektueller Kultur im langen 19. Jahrhundert. Seit der Aufklärung des 18. Jahrhunderts waren Forderungen nach einer allgemeinen Bildung für die jüdische Jugend aufgekommen. Nach 1815 wurden diese Forderungen lauter, als die vollständige bürgerliche Gleichstellung für Juden in den Staaten des Deutschen Bundes zum öffentlichen Diskussionsthema wurde. Doch die Art von Bildung, die die Juden vor Augen hatten, insbesondere diejenigen im entstehenden Bürgertum, umfasste nicht nur die praktische Ausbildung in einem Gewerbe oder Beruf. Eine vielseitige humanistische Bildung sollte sicherstellen, dass junge Menschen ihr Erwachsenenleben nicht nur als wirtschaftliche Produktivitätseinheiten antraten, sondern auch als gedeihende Individuen, deren Begabungen einen umfassenden und anhaltenden Prozess der Ausbildung durchlaufen hatten. Diese Schwerpunktsetzung auf Bildung, argumentierten Theoretiker wie Eduard Israel Kley (1789–1867), würde aus Juden nicht nur bessere Juden, sondern auch bessere Deutsche machen, nämlich solche, die annehmbarer für diejenigen seien, die sie beharrlich aus dem sozialen, kulturellen und politischen Leben ausgeschlossen hatten. Dies war zumindest die Hoffnung und Strategie der bürgerlichen jüdischen Assimilationisten bis weit in das 20. Jahrhundert hinein.

Quelle

V. Der Geist in Israelitischen Volksschulen[1])

Wenn das äußere Leben mit seinen Verhältnissen würdig sich gestalten soll, sei es bei einzelnen Menschen, oder ganzen Menschenklassen, in den großen Körpern der Gemeinden, der Völker und Nationen, so muß es in einer richtigen Ansicht und Beschaffenheit des inneren Lebens bedingt sein und aus diesem sich gehörig entwickeln.

Von der erlangten Einsicht und Geistesbildung des Einzelnen hängt sein Handeln ab, sowohl in Beziehung auf sich, als auf andere; und der Grad der Erkenntniß, welcher sich verhältnißmäßig in allen Theilen eines zusammengesetzten Körpers ausspricht, beurkundet die Gesammtbildung des Ganzen, von der allein das gemeinschaftliche Streben und Mitwirken Aller zu einem und demselben Zwecke, so wie deren gemeinschaftliche Wohlfahrt ausgehen können. Wenden wir diesen Satz, welcher allgemeine Gültigkeit hat, auf die Israelitischen Glaubensgenossen in Deutschland an, so verdient er hier mehr als irgendwo die größte Beherzigung, denn nirgend mehr als hier leuchtet es ein, wie sehr die äußeren Verhältnisse in dem innern Leben derselben bedingt sind.

So viele Stimmen in den letzten fünf Jahren über die bürgerliche Verbesserung der Israeliten, sowohl dawider, als dafür, sich erhoben und so verschieden die Urtheile über diesen Gegenstand gelautet haben, darin sind sie alle einig, daß zuvörderst für den verbesserten Unterricht der Jugend, für die Bildung und Veredelung des künftigen Geschlechts gesorgt werden muß. Wie sehr dies Bedürfniß von allen hell und billig denkenden unter den Israeliten selbst gefühlt wird, beweisen die Fortschritte, welche der Unterricht in den verschiedenen Anstalten gemacht hat, die seit zwanzig oder dreißig Jahren mit seegenreichem Erfolge wirken; nicht bloß in den Staaten, wo die Gleichstellung der bürgerlichen Verhältnisse entweder ganz oder mit einigen Modifikationen erfolgt und der so wichtige Gegenstand des Schulunterrichts unter die Aufsicht und Fürsorge der Regierungen gestellt worden ist, sondern auch in den Staaten, wo die Israeliten einer etwaigen Bestimmung ihrer Verhältnisse durch die erlauchten Regierungen sehnsuchtsvoll noch entgegen sehen.

Und in der That, welche Stellung auch durch eine solche Bestimmung ihnen gegeben werden sollte, was Nützlicheres, Zweckmäßigeres, Wohlthätigeres, sowohl für sich selbst, als für Deutschland, in dessen Gesammtbildung sie eine bedeutende Klasse ausmachen, könnte begonnen, was sollte mit größerer Sorgfalt, mit regerem Eifer ins Werk gesetzt werden, als die Entwicklung und Gestaltung des inneren Lebens, dasselbe zur wahren Bildung, zur sittlichen und religiösen Veredelung hinzuleiten? Denn von außen her, von oben herab, kann doch nur die Bestimmung und Gestaltung der äußeren Verhältnisse erfolgen; entspricht das innere Leben diesen Bestimmungen nicht, so dürfen die menschenfreundlichsten Absichten doch kaum zur Hälfte erreicht werden und die Gegensätze dann um so schärfer hervortreten. Das innere Leben aber kann nur im Innern sich bilden. Daher ist es nicht genug, wie bis jetzt wohl geschehen, daß Einzelne, besser unterrichtet und für ihren künftigen Beruf in der menschlichen Gesellschaft vorbereitet werden, und, wie die Erfahrung zeigt, auch würdig dastehen, sondern die ganze Masse der jetzigen Jugend muß veredelt und einer sorgfältigern Behandlung übergeben werden. Gehörig eingerichtete und zweckmäßig geleitete Volksschulen sind das einzige, wesentliche Mittel zu diesem Zwecke, sind daher die dringendste Forderung unserer Zeit.

Nicht bloße Unterrichts-, sondern Bildungsanstalten sollen es sein; denn daß man bei sehr vielen Kenntnissen, wo nicht ungebildet, doch nicht gebildet, ja, was vielleicht noch ärger ist, verbildet sein kann, beweist die tägliche Erfahrung. Kenntnisse verdankt man dem Unterrichte, Bildung einzig und allein der Erziehung; nicht der Umfang der Kenntnisse, sondern die richtige Anwendung derselben auf das Leben zum Besten des Individui nicht weniger, als des Ganzen, bestimmt den Grad der Bildung: die Jugend muß daher in den Volksschulen nicht sowohl unterrichtet, als vielmehr erzogen werden.

Hier soll der Mensch nicht für einen bestimmten Stand oder Beruf vorbereitet und in solchen Geschicklichkeiten und Geschäften besonders geübt werden, die ihm dereinst Gewinn oder Ehre bringen können, hier soll sein Geist keine eigenthümliche Denkweise und Gesinnung annehmen, welche charakteristisches Merkmal dieser oder jener Volksklasse geworden ist, oder werden soll. Durch eine solche einseitige Richtung, welche dem Geiste gegeben wird, einerseits so wie durch ein Uebermaaß von Kenntnissen, deren der junge Kopf oft mit aller Gewalt erfüllt wird, andrerseits, wird das Herz gewöhnlich ganz vernachläßigt, in dem Kopfe selbst selten mehr, als Seichtigkeit und Oberflächlichkeit geschaffen und so statt der Bildung Verbildung herbeigeführt. In den Volksschulen soll, abgesehen von irgend einem bestimmten Stande oder Berufsgeschäfte, das innere Leben des Menschen nach allen Seiten und Richtungen hin, deren es nach Außen fähig ist, sich entfalten und bilden, da soll das junge Geschlecht vor allen Dingen zuerst zu Menschen erzogen und veredelt werden: aus dem veredelten Menschen wird auch der veredelte Israelit und der veredelte Bürger hervorgehen.

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Anmerkungen

[1] Diese interessante Abhandlung, welche bei Gelegenheit der öffentlichen Prüfung in der Israelitischen Freischule zu Hamburg erschien, verdient weiter verbreitet zu werden und wird auch unsern Lesern gewiss sehr willkommen sein. Der Herausgeber.

Quelle: Eduard Israel Kley, „Der Geist in Israelitischen Volksschulen“, in: Sulamith. Eine Zeitschrift zur Beförderung der Kultur und Humanität unter den Israeliten, hrsg. von David Fränkel, 6 (1821) 1, S. 383–86; veröffentlicht in: Hamburger Schlüsseldokumente zur deutsch-jüdischen Geschichte, https://dx.doi.org/10.23691/jgo:source-27.de.v1

Eduard Israel Kley, „Der Geist in Israelitischen Volksschulen“ (1821), veröffentlicht in: German History Intersections, <https://germanhistory-intersections.org/de/wissen-und-bildung/ghis:document-165> [02.12.2023].