Ludwig Prandtl, „Über Flüssigkeitsbewegung bei sehr kleiner Reibung“ (1904)

Kurzbeschreibung

Der Ingenieur Ludwig Prandtl diskutierte in seinem Beitrag die „Flüssigkeitsbewegung bei sehr kleiner Reibung“, den Strömungsverlauf von Wasser oder Luft. Insbesondere analysierte Prandtl, wie sich Substanzen mit sehr kleiner Reibung verhielten, wenn sie auf die „Wände der festen Körper“ stießen und welche besondere Bedeutung hier der sogenannten „Grenzschicht“ zukam. Im Mittelpunkt seiner Forschungsarbeiten stand dabei nicht nur der Strömungsverlauf, sondern auch die entstehenden Verwirbelungen, die ein wichtiges Arbeitsfeld der Strömungsmechanik bzw. -lehre darstellten. (siehe auch Abbildung zum Wasserkasten; Abbildungen im Text)

Quelle

In der klassischen Hydrodynamik wird vorwiegend die Bewegung der reibungslosen Flüssigkeit behandelt. Von der reibenden Flüssigkeit besitzt man die Differentialgleichung der Bewegung, deren Ansatz durch physikalische Beobachtungen wohl bestätigt ist. An Lösungen dieser Differentialgleichung hat man außer eindimensionalen Problemen, wie sie u.a. von Lord Rayleigh[1] gegeben wurden, nur solche, bei denen die Trägheit der Flüssigkeit vernachlässigt ist, oder wenigstens keine Rolle spielt. Das zwei- und dreidimensionale Problem mit Berücksichtigung von Reibung und Trägheit harrt noch der Lösung. Der Grund hierfür liegt wohl in den unangenehmen Eigenschaften der Differentialgleichung. []

Die bei weitem wichtigste Frage des Problems ist das Verhalten der Flüssigkeit an den Wänden der festen Körper. Den physikalischen Vorgängen in der Grenzschicht zwischen Flüssigkeit und festem Körper wird man in genügender Weise gerecht, wenn man annimmt, daß die Flüssigkeit an den Wänden hafte, daß also dort die Geschwindigkeit überall gleich Null bezw. gleich der Körpergeschwindigkeit sei. Ist nun die Reibung sehr klein und der Weg der Flüssigkeit längs der Wand nicht allzu lang, so wird schon in nächster Nähe der Wand die Geschwindigkeit ihren normalen Wert haben. In der schmalen Übergangsschicht ergeben dann die schroffen Geschwindigkeitsunterschiede trotz der kleinen Reibungskonstanten merkliche Wirkungen.

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Ich will nun noch kurz von Versuchen berichten, die ich zum Vergleich mit der Theorie unternommen habe. Der Versuchsapparat (in Fig. 10 in Aufriß und Grundriß dargestellt) besteht aus einer 1½ m langen Wanne mit einem Zwischenboden. Das Wasser wird durch ein Schaufelrad in Umlauf versetzt und tritt, durch einen Leitapparat a und vier Siebe b geordnet und beruhigt, ziemlich wirbelfrei in den Oberlauf ein; bei c wird das zu untersuchende Objekt eingesetzt. Im Wasser ist ein aus feinen glänzenden Blättchen bestehendes Mineral (Eisenglimmer) suspendiert; dadurch treten alle einigermaßen deformierten Stellen des Wassers, also besonders alle Wirbel durch einen eigentümlichen Glanz hervor, der durch die Orientierung der dort befindlichen Blättchen hervorgerufen wird.

Die auf der Tafel zusammengestellten Photogramme sind auf diese Weise erhalten. Bei allen geht die Strömung von links nach rechts. Nr. 1-4 behandelt die Bewegung an einer in die Strömung hineinragenden Wand. Man erkennt die Trennungsfläche, die von der Kante ausgeht; sie ist in 1 noch sehr klein, in 2 bereits mit starken Störungen überdeckt, in 3 reicht der Wirbel über das ganze Bild, 4 zeigt den „Beharrungszustand“; man bemerkt auch oberhalb der Wand eine Störung; da in der Ecke infolge der Stauung des Wasserstroms ein höherer Druck herrscht, löst sich (vergl. S. 5) mit der Zeit auch hier der Flüssigkeitsstrom von der Wand ab. Die verschiedenen im „wirbelfreien“ Teil der Strömung sichtbaren Streifen (besonders in Nr. 1 und 2) rühren davon her, daß beim Beginn der Bewegung die Flüssigkeit nicht völlig ruhig war. Nr. 5 und 6 gibt die Strömung um ein kreisförmig gebogenes Hindernis, oder, wenn man will, durch einen stetig verengten und wieder erweiterten Kanal. Nr. 5 zeigt ein Stadium kurz nach Beginn der Bewegung. Die eine Trennungsfläche ist zu einer Spirale aufgewunden, die andere langgestreckt und in sehr regelmäßige Wirbel zerfallen. Auf der konvexen Seite nahe am rechten Ende bemerkt man den Beginn einer sich ablösenden Strömung; Nr. 6 zeigt den Beharrungszustand, bei dem sich die Strömung ungefähr in engstem Querschnitt ablöst.

Nr. 7-10 zeigt die Strömung um ein kreiszylindrisches Hindernis (einen Pfahl). Nr. 7 zeigt den Beginn der Ablösung, 8 und 9 weitere Stadien; zwischen den beiden Wirbeln ist ein Strich sichtbar, dieser besteht aus Wasser, das vor Beginn der Ablösung der Übergangsschicht angehört hatte. Nr. 10 zeigt den Beharrungszustand. Der Schweif von wirbelndem Wasser hinter dem Zylinder pendelt hin und her, daher die unsymmetrische Augenblicksgestalt. Der Zylinder enthält einen längs einer Erzeugenden verlaufenden Spalt; stellt man diesen so, wie in Nr. 11 und 12 und saugt mit einem Schlauch Wasser aus dem Zylinderinnern ab, so kann man die Übergangsschicht einer Seite abfangen. Wenn sie fehlt, muß auch ihre Wirkung, die Ablösung, ausbleiben. In Nr. 11, das zeitlich Nr. 9 entspricht, sieht man nur einen Wirbel und den Strich. In Nr. 12 (Beharrungszustand) schließt sich, obwohl, wie man sieht, nur ein verschwindender Teil des Wassers ins Innere des Zylinders tritt, die Strömung bis zum Schlitz eng an die Wand des Zylinders an; dafür hat sich aber jetzt an der ebenen Außenwand der Wanne eine Trennungsfläche gebildet (eine erste Andeutung dieser Erscheinung ist bereits in 11 zu sehen). Da in der sich erweiternden Durchflußöffnung die Geschwindigkeit abnehmen muß und daher der Druck steigt[2], sind die Bedingungen für ein Ablösen der Strömung von der Wand gegeben, so daß auch diese auffallende Erscheinung in der vorgetragenen Theorie ihre Begründung erhält.

Anmerkungen

[1] *) Proceedings Lond. Math. Soc. 11 S. 57 = Papers I S. 474f.
[2] *) Es ist ½ ϱv2 + V + p = const. auf jeder Stromlinie.

Quelle: Ludwig Prandtl, „Über Flüssigkeitsbewegung bei sehr kleiner Reibung“. Sonderdruck aus den „Verhandlungen des III. Internationalen Mathematiker- Kongresses, Heidelberg 1904“, Druck und Verlag von B. G. Teubner, Leipzig, 1905, S. 484-91, in Ludwig Prandtl, Albert Betz, Vier Abhandlungen zur Hydrodynamik und Aerodynamik. Neudruck aus den Verhandlungen des III. Internationalen Mathematiker-Kongresses zu Heidelberg und aus den Nachrichten der Gesellschaft für Wissenschaft zu Göttingen. Unveränderter Nachdruck der Ausgabe von 1927. Göttingen: Im Selbstverlag der Aerodynamischen Versuchsanstalt Göttingen E.V., 1944, S. 2-8.

Ludwig Prandtl, „Über Flüssigkeitsbewegung bei sehr kleiner Reibung“ (1904), veröffentlicht in: German History Intersections, <https://germanhistory-intersections.org/de/wissen-und-bildung/ghis:document-202> [05.12.2024].