Die Reaktion der liberalen österreichischen Presse auf Bismarcks Politik (1886)
Kurzbeschreibung
Die Nachbarländer Deutschlands, insbesondere Österreich und Russland mit ihren polnischen Gebieten, verfolgten die Ausweisungen aufmerksam. Hier stellt die liberale österreichische Zeitung Neue Freie Presse die tiefe Spaltung der deutschen politischen Landschaft über die Deportationen fest—und wie diese Bismarck neue Energie zu verleihen schien.
Quelle
Das Polendrama vom 28., 29. und 30. Januar 1886.
(Original Correspondenz der „Neuen Freien Presse“.)
Berlin, 31. Januar.
Wieder einmal hat ein mächtiger Ausbruch der gewaltigsten Gestalt, welche unser Jahrhundert seit dem ersten Napoleon gesehen, die Gemüther erschüttert. In dem alten, rauchgeschwärzten, karg erhellten Holzbau auf dem Dönhofsplatz, der vor einem Vierteljahrhundert der Schauplatz der bitteren Kämpfe der Conflictszeit war, toste in diesen Tagen der Kampf der Rede wie damals des Minister-Präsidenten v. Bismarck-Schönhausen gegen die Fortschrittspartei, so jetzt des zum Reichskanzler und Fürsten emporgestiegenen Gegners von damals gegen das arg zusammengeschmolzene Häuflein der alten, aber wie er noch ungebeugten Widersacher. Müßte nicht Einer, der nur jene beiden Zeitgrenzen gegen einander hält, glauben, es hätte zwischen diesen Gegnern von damals bis heute derselbe Kampf geherrscht und, was wir heute noch von den einstigen Kämpfern im Landtage sehen, sei der spärliche Rest, den fortgesetzte Niederlagen im Streite um dieselbe Sache schließlich übrig gelassen? Und doch wissen wir, daß ein guter Theil von ihnen sich vor neunzehn Jahren mit dem glücklichen Sieger ausgesöhnt hatte, daß sie alle ohne Ausnahme von 1871 bis 1879 Hand in Hand mit den erbitterten Gegnern von heute, der gegenübersitzenden Rechten, die wohlgemuthen Bundesgenossen von damals waren, daß der Abgeordnete Rickert, der wenn man Herrn v. Puttkamer glauben müßte, so tief gesunken sein soll, nur einer jener verbündeten National-Liberalen der Siebziger-Jahre ist, der weder in fortschrittlicher noch in nationaler Hinsicht sich im geringsten geändert hat. Und trotz alledem ist dennoch der Kampf der jüngsten Tage im Grunde der gleiche wie vor fünfundzwanzig Jahren; es ist heute derselbe Streit von Macht und Freiheit, wie in den gewitterschwangeren Tagen des Conflicts. Nur ist er minder tragisch auf der einen, trauriger im Sinne der Freiheitsmänner, als in jener Zeit.
Die Gegner sind nur zum Theile noch dieselben. Was jetzt anders ist, obschon man nicht sagen kann, daß es lange so sein werde, das ist die Haltung der wohlhabenden und behaglichen Classen des Bürgerthums, deren Ausdruck die Mehrheit ist, welche gestern den Antrag Achenbach annahm. Ihre Vertreter nehmen die ganze Rechte und einen Theil der Linken des Hauses ein, so weit nämlich die National-Liberalen reichen. Damals jubelte die Menge, die sich vor dem Abgeordnetenhause drängte, den Führern der Linken, den Waldeck, Virchow, Twesten, Gneist, entgegen und empfing mit eisiger Kälte den Minister-Präsidenten. Auch heute drängt sich die Menge vor dem Hause, aber sie begrüßt feierlich denselben Premier-Minister, während die Abgeordneten still ins Haus huschen. Es war bis zu diesen Tagen nie üblich, daß beim Eintritt des Kanzlers oder irgend eines Ministers in die Ministerbank sich ganze Theile der Versammlung erhoben hätten; es ist auch im Reichstage nicht gebräuchlich; denn es galt die der Verfassung entsprechende Anschauung, daß die Minister, unter denen Fürst Bismarck der Erste unter Gleichgestellten ist, mit ihrem Erscheinen nur ihrer Pflicht entsprechen. Im Reiche sind ja auch Bundesrath und Reichstag gleichberechtigte Factoren der Gesetzgebung, und in Preußen besteht ein ähnliches Verhältniß zwischen Landtag und Regierung, nur ist hier dem Könige eine weit höhere und mächtigere Stelle eingeräumt als im Reiche. Als aber am 28. Januar der Kanzler in seiner bekannten dunklen Generals-Uniform im Saale erschien, den er seit dem Februar 1881 nicht betreten hatte, da erhob sich rauschend mit tiefer Verbeugung und ehrfurchtsvollem Augenaufschlag die Rechte des neugewählten Hauses wie beim Eintritte eines Vorgesetzten und mit ihr ein Theil der National-Liberalen. Es gehört dieser Auftritt, welcher den Fürsten selbst, der Massenhuldigungen gegenüber eine gewisse Schüchternheit besitzt, zu verblüffen schien, mit zum Gesammtbilde des dreitägigen Dramas.
Da dem Kanzler ohnedies dabei der Löwenantheil der Handlung zufiel, so ist der Chronist, welcher die bezeichneten Züge derselben festhalten will, in Verlegenheit, welchem er sich zuerst zuwenden soll, ob dieser dienenden Haltung der aus Conservativen und National-Liberalen mit verleugnetem Liberalismus gebildeten Mehrheit, die nicht nur jeden Schlager, sondern jeden heftigen Ton, jede verächtliche oder herausfordernde Geberde des Kanzlers mit einem Gejohle der Freude begleitete, die für die feierlichsten, ernstesten Worte der Linken und der Centrumsredner nur höhnende Zurufe und wildes Niederschreien hatte, oder zu der fast immer imponirenden, oft furchtbaren, stets aber fesselnden Gestalt des Kanzlers. Allein Ehre dem Ehre gebührt. Ueberlassen wir diese Mehrheit, welche an die Chambre introuvable der Restauration erinnert und die sich zu der Kammer der Sechziger-Jahre etwa verhält wie das in Ehrfurcht und Gehorsam ersterbende Corps legislatif des ersten Kaiserreiches zur National-Versammlung, ihrem wohlfeilen Triumph, und bleiben wir zunächst bei dem Helden.
Fürst Bismarck unterschied sich diesmal ein wenig von seiner Sprechweise in den letzten Jahren. Seine hohe, durch die Schweninger‘sche Behandlung schmächtiger und elastischer gewordene Gestalt mochte, von dem erst nach dem Conflict historisch gewordenen Schnurrbart abgesehen, an den Bismarck der Sechziger-Jahre erinnern. Sein am ersten Tage mehr als anderthalb Stunden, am zweiten mehr als eine Stunde währender Redefluß ging, während er sonst bald stockt, bald in raschen Sätzen hervorsprudelt, in ununterbrochenem schnellen Strome dahin; namentlich war am ersten Tage das bekannte Räuspern auch nicht einmal zu vernehmen. Die Stimme klang aber, besonders in der großen Rede von Donnerstag, matter als sonst, außer in den absichtlich in gehobenem Tone oder in unmittelbarer Erregung gesprochenen Sätzen. Auch in der Form unterschieden sich die letzten Bismarck-Reden von manchen früheren. Gewöhnlich sind die Reden des Kanzlers sogenannte Erwiderungsreden, deren Aufbau sich eng an die emsigen Notizen anschließt, welche der Fürst während der Reden der Abgeordneten mit seinem ellenlangen Bismarck-Bleistift in den bekannten riesigen aufrechten Schriftzügen aufs Papier wirft, und es ist ebenso bekannt, daß ihm vorbereitete Reden weit weniger gelingen. In den letzten Debatten aber sprach er vorbereitet und gut, das erstemal auf Grund eines sorgfältig angelegten Actenmaterials, welches er sich von seinem Kanzlei-Chef Rottenburg reichen ließ, das anderemal an der Hand der Windthorst‘schen Rede vom vorigen Tage. Namentlich war die Donnerstagsrede meisterlich in ihrer Anlage Der Fürst ging ohne die ihm gewohnte Anknüpfung an den Vorredner mit dem ersten Satze in den Kern der Sache, gab dann einen Rückblick auf die von ihm verurtheilte milde Polen-Politik Hardenbergs und Zerbonis, an welche er den Gegensatz zu der ihr folgenden strengeren Flottwell‘schen Politik und den Grolmann‘schen Germanisationsplänen anknüpfte, und diesem Theile folgte sofort die beißende Satire auf die liberalen Polen-Sympathien in den Vierziger-Jahren. Hiemit war die Unterlage gewonnen für die Darstellung seiner eigenen, die deutsche Action vorbereitenden Politik, die Kennzeichnung der Kurzsichtigkeit seiner fortschrittlichen Gegner in der Conflictszeit und der polnischen Restaurations-Bestrebungen. Hieran erst schloß sich die Darstellung seines eigenen Feldzugsplanes gegen die Polen, und den packenden Schluß bildete die Herausforderung an die Gegner und der vom Kanzler so oft an das nationale Einheitsgefühl gerichtete, von düsterem Blick in die Zukunft begleitete Appell; ein rednerisches Kampfmittel, welches, obschon erst kürzlich von dem erfahrenen und scharfblickenden Bamberger mit feiner Ironie als das Reichs- und Staatspferd gekennzeichnet, doch nie seine Wirkung verfehlt, begeisternd und fortreißend für die rückhaltlosen Bewunderer, welche Heine die „Pharisäer der Nationalität“ nannte, und verblüffend jedenfalls auch für den kritischen Zuhörer, welcher sich der leidenschaftlichen Gewalt des Vortrages, ausgehend von dem mächtigsten Manne der Zeit, nicht entziehen kann. Wir erinnern uns nicht leicht einer früheren Rede des Fürsten, die so aus Einem Guß erschien. Zwar ließ er sich auf jeden Zwischenruf mit einer geharnischten Erwiderung ein, unterbrach sich oft mit pikanten Erinnerungen und Anekdoten, aber niemals ließ er sich, wie sonst, durch solche Zwischenfälle von seinem Gedankengang abbringen. Man kann sich, wenn man die Eigenart dieses merkwürdigen Redners kennt, diese Abweichung von derselben nur dadurch erklären, daß sich vor uns eine Gedankenreihe entrollte, welche demselben in jahrzehntelanger Durcharbeitung vertraut geworden war.
Das Haus war denn auch während der Reden des Kanzlers der Schauplatz der lebhaftesten Bewegung; denn obschon die Freisinnigen sich ruhiger als sonst verhielten und die Polen durch die Ausbrüche elementaren Hasses, welche auf sie niederbrausten, ganz verdutzt waren, so war doch das Centrum, dessen Führer der Mittelpunkt aller Angriffe des Kanzlers war, in steter Aufregung, und stürmische Unterbrechungen, gereizte höhnende Erwiderungen flogen zwischen dem Centrum und der Rechten und dem von den National-Liberalen eingenommenen Theile der Linken hin und her; der Kanzler nahm von Zeit zu Zeit eine dieser Bemerkungen auf, ein lebhaft erregtes Bild, welches aber doch nicht den Grad erbittertster Leidenschaftlichkeit erreichte, welchen wir in den Höhepunkten des Culturkampfes beobachten konnten.
Quelle: Neue Freie Presse, 3 Februar 1886, S. 2. Online verfügbar unter: http://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno?aid=nfp&datum=18860203&zoom=33
Weiterführende Inhalte
Richard Blanke, Prussian Poland in the German Empire (1871–1900). East European Monographs, Nr. 86. Boulder, CO: East European Quarterly, 1981.
Matthew P. Fitzpatrick, Purging the Empire: Mass Expulsions in Germany, 1871–1914. Oxford: Oxford University Press, 2015.
Helmut Neubach, Die Ausweisungen von Polen und Juden aus Preussen 1885/86: Ein Beitrag zu Bismarcks Polenpolitik und zur Geschichte des deutsch-polnischen Verhältnisses. Wiesbaden: O. Harrassowitz, 1967.