Adriana Altaras, „Da gab es plötzlich so viel Platz in den Schwimmbädern“: Eine jüdische Deutsche und ihre Schwiegermutter (2011)

Kurzbeschreibung

Die deutsche Schauspielerin und Theaterregisseurin Adriana Altaras (*1960 in Zagreb) erzählt in ihrem autobiographischen Roman aus ihrem Leben und dem Leben ihrer aus dem ehemaligen Jugoslawien stammenden Eltern. Dabei thematisiert sie den wenig subtilen Antisemitismus, dem sie begegnete. Wichtig ist hier die Deutung, die ihm zugrunde liegt. Denn wenn nichtjüdische Deutsche Juden als „anders” verstehen, fassen sie Deutschsein weiterhin als nichtjüdisch.

Quelle

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„Bin ich eine schlechte Mutter oder nur eine schlechte Jüdin?“, frage ich am Abend meinen Mann. „Das Judentum wird über die Mutter weitergegeben, ist das nicht jüdische Mütterlichkeit genug?“, antworte ich mir vorauseilend selbst. Georg grinst und hält sich klugerweise raus. Er erträgt den Gottesdienst nur schwer. Der Gesang des Kantors, die Reden des Rabbiners gefallen ihm. Aber warum alle Gemeindemitglieder während des Gottesdienstes gleichzeitig reden müssen, kann er nicht nachvollziehen. Schweigen scheint keine jüdische Stärke zu sein.

Georg spricht generell wenig. Als sei Reden unanständig. In Westfalen haben sie wohl Kommunikation mit Prostitution verwechselt. Momentan ist er noch stiller als gewöhnlich. Vor einiger Zeit ist sein Vater gestorben. Auch bei den Deutschen wird gestorben. Ein freundlicher Mann mit einem schweren Oberkörper, in dem noch eine Kugel aus Norwegen steckte, 1943. Jedes Mal, wenn er mich sah, drückte ihn der Einschuss, und er gab kleine scherzhafte Kriegsepisoden zum Besten. Ich mochte ihn. Er war klug, belesen, und er schämte sich. Er holte sich auf einer Kreuzfahrt in Norwegen eine Lungenentzündung und starb wenige Wochen später daran. Und da soll mir noch einer sagen, es gebe keinen Gott.

Seine Frau blieb allein mit dem roten Backsteinhaus und den Rabatten im Garten. Über dem Klavier hängt ein Porträt von ihr aus den 30er-Jahren. Ein hübsches BDM-Mädchen mit flachsblonden Zöpfen. Manchmal versuche ich herauszufinden, ob sie unter Einsamkeit leidet. Sie redet in einem fort, singt, kichert beherzt dazwischen, und ich fürchte, dass eher ihre Zuhörer verrückt zu werden drohen als sie selbst.

„Deine Mutter singt, völlig unmotiviert, merkst du das“, frage ich meinen Mann häufiger. Ihm ist es bisher nicht störend aufgefallen. Sie hat fünf Kinder zur Welt gebracht und mit eisernem Willen erzogen. Zu den jährlichen Familientreffen in Westfalen fehle ich meistens. Ich habe Premieren, ei­nen wichtigen Drehtermin, eine Nierenbeckenentzündung ... „Deine Tante wohnt monatelang bei uns und du kommst nicht mal mit zum Achtzigsten von Mutti!“, durfte ich mir schon anhören. Warum wohl? Aber er hat recht.

Wenn mir die Ausreden ausgehen, muss ich mit. Vollkommen naiv plappert sie dann aus ihrer Jugend als Lehrerstochter.

„Da gab es plötzlich so viel Platz in den Schwimmbädern, den Juden war es doch jetzt verboten zu baden, uns aber nicht…“

Ihre Erzählungen sind völlig wertfrei: „Mein Vater ist nie in die Partei eingetreten – sondern war sehr musikalisch ...“ So war das eben. Manchmal spüle ich, während sie redet. Manchmal dreht es mir den Magen um. Ich mag sie irgendwie, aber ist so viel Naivität möglich?

Ich habe mich nie bemüht, ein Treffen zwischen unseren Familien zu organisieren. Meine Fantasie genügte völlig, um es mir in den grellsten Farben auszumalen: Wehrmachtsoldat trifft auf Kommunistin, BDM-Mädchen auf Partisan ... Nein. Solange alle lebten, taten wir einfach so, als gebe es die jeweils anderen Eltern nicht. Als seien alle tot. Irgendwann würden sie sowieso sterben. Nach dem Tod ihres Mannes folgte sie unserer Einladung und kam nach Berlin. Die Kinder und mein Mann freuten sich – sie sich auch. Es wurde eine Katastrophe. Alles, was ihr nicht schmeckte, kam von unten „aus dem Süden“. Wobei der Süden kurz nach Tirol begann. „Euereins ist eben von Geburt aus nervös“, erklärte sie mir, als ich nach und nach begann, die Fassung zu verlieren. Schon bald weigerte ich mich, auch nur einen einzigen deutschen Eintopf zu mir zu nehmen, den sie für uns kochte. Erklärte, dass Eintopf faschistisch sei, und trat in den Hungerstreik. Ich erlebte mich von einer völlig neuen Seite.

Das Ganze ging sieben Tage lang, dann fuhr sie zurück nach Hause, nach Westfalen. Mein Mann, ihr Sohn, schwieg. Was blieb ihm auch übrig zwischen Mutterkreuz und Jewish princess? Er verschanzte sich in seinem Tonstudio und tagelang war außer Bachs wohltemperiertem Klavier nichts mehr von ihm zu hören.

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Quelle: Adriana Altaras, Titos Brille. Die Geschichte meiner strapaziösen Familie. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2011, S. 198–200. Mit freundlicher Genehmigung des Verlags Kiepenheuer &Witsch GmbH &Co. KG, Köln.

Rita Chin, The Crisis of Multiculturalism in Europa. A History. Princeton: Princeton University Press, 2017.

Fatima El-Tayeb, Undeutsch: die Konstruktion des Anderen in der postmigrantischen Gesellschaft. Bielefeld: transcript-Verlag, 2016.

Adriana Altaras, „Da gab es plötzlich so viel Platz in den Schwimmbädern“: Eine jüdische Deutsche und ihre Schwiegermutter (2011), veröffentlicht in: German History Intersections, <https://germanhistory-intersections.org/de/deutschsein/ghis:document-244> [23.10.2024].