Westdeutscher Kurzfilm über die Notaufnahmelager für Flüchtlinge aus der DDR in Berlin-West (1953)
Kurzbeschreibung
Der Kurzfilm mit dem Titel Berlin-Insel der Hoffnung zeigt die Ankunft von DDR-Flüchtlingen in einem Notaufnahmelager im Kongress- und Ausstellungszentrum in der Kuno-Fischer-Straße 8 im West-Berliner Stadtteil Charlottenburg. Der Film zeigt die Mitglieder einer ländlichen Familie (Vater, Mutter, Tochter und Sohn), die versuchen, die notwendigen bürokratischen Schritte zu unternehmen, um eine Notaufnahme in der Bundesrepublik zu erhalten. Mit der Abgabe des DDR-Ausweises legte die Familie ihre Zugehörigkeit zur DDR ab („Aus jedem Schicksal wird ein Aktenstück.“). Die liminale Phase war geprägt durch eine polizeiliche Prüfung der demokratischen Einstellung, während West-Stempel und West-Geld die neue Zugehörigkeit symbolisierten. Nun beginnt der schwierige Weg der wirtschaftlichen und sozialen Integration.
Quelle
Transkript
Berlin, Insel der Hoffnung (1953)
0:00:20 – 0:00:21
Vorspann
Ein Dokumentarbericht hergestellt im Auftrage des Senats von Berlin. Buch: Herbert Kundler
Regie: Dr. Hanno Jahn
Kamera: Hans Jaehner
Musik: Richard Stauch
Hersteller: Landesbildstelle Berlin
0:00:22 – 0:02:35
Sprecher:
Dieser kleine Fleck auf der Landkarte der Weltpolitik ist einer ihrer Brennpunkte: Berlin. Eine Stadt geteilt in zwei Hälften, Ost und West. Ringsum die Sowjetzone. Überall: In Magdeburg, in Frankfurt an der Oder, in Rostock, in Dresden, in Greifswald, in Leipzig, Schwerin und Görlitz herrscht Diktatur. 18 Millionen Deutsche warten hier auf Befreiung. Sie schauen nach Westen. Rotarmisten, Volkspolizei, Wachtürme, Stacheldraht versperren den Weg. Fliehen kann man nur noch nach West-Berlin, auf den kleinen Fleck auf der Landkarte, auf die Insel der 2,2 Millionen. Die Stunden der Flucht sind Stunden der Angst. Heimlich, unauffällig, fast ohne Gepäck sickern die Flüchtenden in die Stadt. Die Meisten wählen den Weg über Ost-Berlin, kommen von dort zu Fuß nach den Westen, oder mit der S-Bahn, mit der Straßenbahn oder Untergrundbahn. Und dann, wenn der Zug in den Westsektoren hält, kommt das große Aufatmen: In Sicherheit!
Auch er, der Bauer Jansen aus Mecklenburg, hat es sich an manchem Abend ausgemalt mit seiner Frau, wie das ist wenn man sagen kann „Endlich in Sicherheit!“ Es erlöst von Furcht und ohnmächtigem Zorn, aber es ist doch nur ein Anfang, denn nun geht man über fremde Straßen und es beginnen, viele Jahre nach dem Krieg, Lagerleben, untätiges Warten und der Existenzkampf von Menschen, die ihre Heimat, ihren Besitz und oft genug ihre nächsten Angehörigen verloren haben.
Herr Jansen fragt einen Passanten:
Ist’s noch weit, bis zur Flüchtlingsstelle?
Passant:
Nein, da hinten, wo die Leute stehen.
Sprecher:
Hier stehen sie nun, die Neuankömmlinge eines Tages. In manchen Monaten sind 30.000, 40.000, ja fast 50.000 Menschen nach West-Berlin geflohen. Menschen aus allen Teilen der Bevölkerung. Jansen, der Bauer aus Mecklenburg, steht neben dem Eisenbahner, der Student steht neben dem Handwerker, in einer Schlange mit dem Arbeiter und der Arbeiterin. Es ist eine anonyme Menge. Wer jeder Einzelne ist, was er ist, warum er kam, wird in vielen Instanzen geprüft.
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0:02:35 – 0:02:49
Sprecher:
Wer mit ein paar Mark Ostgeld in der Tasche sein Zuhause verlassen hat, will natürlich zunächst einmal wissen, ob er am Abend ein Bett oder einen Strohsack vorfinden wird. Bauer Jansen holt sich den Einweisungsschein für eines der 90 Berliner Flüchtlingslager.
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0:02:50 – 0:04:58
Herr Jansen:
So, wo wir schlafen wissen wir. Jetzt füllen wir die Fragebogen aus und dann geht’s zur Polizei.
Sprecher:
Es ist der übliche Fragebogen, mit den Spalten für Zunamen, Vornamen, Geburtstag usw. Aber beim Ausfüllen der Spalte D, Beruf oder sonstige Tätigkeit seit dem Mai ’45, kommt die Erinnerung wieder an das, was man sich aufzubauen versucht hat in den Jahren nach dem Krieg, was man sich trotz aller Schwierigkeiten erarbeitet hat, in der Hoffnung auf baldige Befreiung.
Die langen Tische der Beamten sehen fast aus wie ein Fließband: Personalausweise werden abgegeben, Quittungen ausgeschrieben. So geht es Tag für Tag.
Herr Jansen:
Den Ost-Ausweis sind wir los, jetzt müssen wir warten, bis sie uns aufrufen, dass wir die Quittung kriegen. Ist gut, daß man Nummern kriegt, da brauchen sie nicht unseren Namen mit dem Lautsprecher auszurufen vor allen Leuten. Wahrscheinlich sehen sie jetzt in ihren Polizeibüchern nach, ob wir was auf‘m Kerbholz haben. Eigentlich ganz beruhigend daß sie das bei allen machen, so weiß man wenigstens, dass keine krummen Hunde in die Lager kommen.
Lautsprecherdurchsage: 36-812, 36-813, 36-796, 36-8...
Herr Jansen:
Das ist unsere Nummer, die wir eben gekriegt haben.
Sprecher:
Die Familie Jansen ist in einem Flüchtlingslager in Neukölln eingewiesen worden. Ein paar Quadratmeter in einer großen Halle, in der man niemals allein, niemals unter sich ist, müssen nun für Wochen, mitunter für Monate, die eigenen vier Wände ersetzen.
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0:04:59 – 0:05:26
Kaum jemand macht sich klar, was es bedeutet, dafür zu sorgen, daß jeder Flüchtling genug zu essen hat. Zählt man alle, die in den Westberliner Lagern sind, so kommt die Bevölkerung einer größeren Stadt zusammen. Zehntausende sind es und Millionen müssen aufgebracht werden für ihre Verpflegung. 1,40 Mark beträgt der Verpflegungssatz pro Kopf und Tag. Die Nahrungsmittelversorgung in der Sowjetzone war schlecht, viele Flüchtlinge sind ausgehungert.
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0:05:27 – 0:05:55
Sprecher:
Vor der Verhandlung vor den Bundesnotaufnahmeausschüssen werden die Fluchtgründe genau überprüft. Die Bundesnotaufnahme wird nur dann gewehrt, wenn die Flucht wegen einer dringenden Gefahr für Leib und Leben oder aus sonstigen zwingenden Gründen erfolgte. Und das bei Zehntausenden zu untersuchen ist eine gewaltige Arbeit, aber niemand soll sagen können, aus Berlin werde ein unkontrollierter Flüchtlingsstrom in den Westen weitergeleitet. Aus jedem Schicksal wird ein Aktenstück.
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0:05:56 – 0:06:17
Schild: Der Leiter des Notaufnahmeverfahrens Berlin und Beauftragte der Bundesregierung.
Musik.
0:06:00 Im Wartezimmer
Herr Jansen:
Na, hat’s geklappt?
Flüchtling, Textilingenieur:
Nee, abgelehnt, kein stichhaltigen Gründe.
Beamter:
Nummer neun, bitte.
Ein anderer wartender Flüchtling fragt:
Wo waren Sie denn in der Zone?
Flüchtling:
In Forst in der Lausitz. Ich bin von Beruf Textilingenieur.
Interview, junger Mann:
Ich hab‘ Schlosser gelernt und wie ich fertig war mit der Lehrzeit, hat der Betrieb mich entlassen.
0:06:20 – 0:06:28
Frau Jansen:
Wir hätten nicht alles Fleisch und Kartoffeln abgeliefert von unserm Soll, haben sie gesagt, und entweder sollten wir nun sofort in die Genossenschaft eintreten oder mein Mann würde ins Zuchthaus kommen.
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0:06:28 – 0:06:40
Herr Jansen:
Wo meine Leute 300 Jahre gesessen haben, da arbeite ich nicht für eine Kolchose. Ich nicht, meine Frau nicht und auch nicht meine Kinder. Das hab‘ ich denen gesagt, aber deutlich.
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0:06:40 – 0:06:52
Sprecher des Aufnahmeausschusses:
Herr Antragsteller und Frau Antragstellerin, der Aufnahmeausschuß hat beraten und beschlossen, Ihnen die Notaufnahme zu gewähren, wegen Verlassens der sowjetischen Besatzungszone aus zwingenden Gründen.
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0:06:52 – 0:08:24
Die anerkannten Flüchtlinge, die Notaufgenommenen, werden nach einer Quote auf die Länder der Bundesrepublik und West-Berlin verteilt. Wenn die Flüchtlinge die Treppe zum Flugfeld heruntergehen, wird eine langgehegte Erwartung Wirklichkeit.
Mit der Landung der Flugzeuge im Westen beginnt für die Bundesrepublik die schwere Aufgabe der wirtschaftlichen und sozialen Eingliederung der Flüchtlinge, die mit den mehr als 10 Millionen Heimatvertriebenen und den bereits geborgenen Sowjetzonenflüchtlingen zusammentreffen. Sie alle suchen auf dem engen Raum des halben Deutschlands nicht nur politische Freiheit, sondern auch Freiheit von Not und eine Zukunft für sich und ihre Kinder. Ihr Schicksal verlangt internationale Hilfe, aber die erste Hilfe erwarten sie von den Menschen, die ihre Sprache sprechen, in den Städten und Dörfern, in denen ihre Flucht endet.
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Transkript: Elisabeth Mait und Katharina Hering
Quelle: Auszüge aus: Berlin -- Insel der Hoffnung. Ein Dokumentarbericht hergestellt im Auftrage des Senats von Berlin, 1953. Buch: Herbert Kundler; Regie: Dr. Hanno Jahn; Kamera: Hans Jaehner; Musik: Richard Stauch. Hersteller: Landesbildstelle Berlin. Quelle: Landesarchiv Berlin, F Rep 400 Nr. 144. Dank an Christoph Dörffel für seine Unterstützung.
© Landesarchiv Berlin
Weiterführende Inhalte
Mary Fulbrook, A History of Germany, 1918–2014: The Divided Nation. Chichester, UK: Wiley-Blackwell, 2015.