Maxim Biller, „Die getürkten Deutschen“ (1991)

Kurzbeschreibung

Der jüdische Schriftsteller und Kolumnist Maxim Biller (geboren 1960 in Prag, seit 1970 in Deutschland) veröffentlichte seine ersten satirischen Prosatexte als Journalist in der Zeitschrift Tempo, später auch im Spiegel, der Zeit, und in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. In diesem Textauszug von 1991 greift er die Befürworter der „multikulturellen Gesellschaft“ wie z.B. den CDU-Politiker Heiner Geißler scharf an.

Quelle

Wir werden die Untermenschen zu ihrem multikulturellen Glück schon zwingen, wir werden uns diese viereinhalb Millionen Ausländer noch zurechtbiegen: Eines Tages müssen doch auch sie begreifen, daß man Frauen nicht angrabscht, daß man in der U-Bahn weder lacht noch spricht, daß Sonntag nachmittags nur ein Heide nicht am Kaffee-und-Kuchen-Tisch sitzt und daß Khomeini, Ceauşescu und Idi Amin allesamt große Verbrecher waren, Hitler jedoch ein historisches Versehen.

Klar, daß wir den Negern und Türken weiterhin unseren Müll zum Wegräumen und unsere Slumsiedlungen zum Wohnen überlassen. Das ist zwar ein wenig ungerecht, aber dafür werden wir nun immer häufiger in ihren exotischen Läden exotische Lebensmittel einkaufen und dabei mit ihnen, aus Respekt vor ihrer folkloristisch-marginalen Kultur, in Pidschin-Deutsch honorige Gespräche über ihre Urwaldheimat führen – eine Kommunikation von einem ähnlich hohen Niveau, wie die Gastarbeiter-Programme im ZDF.

Wir werden unseren Untermenschen schon noch beibringen, hessisch zu sprechen, schwäbisch zu kochen und platt zu lachen. Wir befrieden ihre Jugend mit deutscher Heavy-Metal-Kultur, begeistern die Alten mit deutschem Wirtschafts-Chauvinismus und bestechen sie demnächst mit dem Emanzipations-Placebo „kommunales Wahlrecht für Ausländer“. Sie sollen Deutsche werden – so eine Art jedenfalls, sagen wir, Güteklasse II mit fremdenpolizeilich überwachtem Verfallsdatum. Und natürlich geben wir ihnen trotzdem nicht die deutsche Staatsbürgerschaft. Ordnung muß sein. Und natürlich nennen wir das Ganze charmant-verschlüsselt multikulturelle Gesellschaft. Mit Euphemismen und Sprachverschleierungen kennen wir Deutschen uns gut aus.

Und genau deshalb werden wir den Negern und Türken – man muß sie ja nicht unnötig erschrecken – bestimmt nicht verraten, welcher Advocatus diaboli hinter dem allseits, von der „taz“ bis zur „FAZ“, von Daniel Cohn-Bendit bis Manfred Rommel, diskutierten Wort von der multikulturellen Gesellschaft steckt. Es ist ein Mann, den wir nicht ohne Stolz den Auschwitz-Pazifismus-Geißler nennen. Nicht zufällig war gerade er es, dem es gelang, die für unser wiedervereintes, erstarktes Volk immer dringender werdende Ausländerfrage aufzuwerfen – selbstverständlich versteckt hinter einem scheinliberalen Deckmantel von Rassentoleranz und Wirtsvolk-Großmut.

Deshalb, deutsche Mitbürger, keine Panik: Heiner Geißler tritt natürlich nicht für die, haha, multikulturelle Gesellschaft ein, weil er wirklich eine Kosmopolitisierung und Auflockerung unserer Republik wünscht. Nein, Auschwitz-Pazifismus-Geißler hat lediglich mit visionär-pragmatischem Blick erkannt, daß erstens die Neger und Türken schon da sind und man sie deshalb, zumindest Ende des 20. Jahrhunderts, schlecht hinauswerfen oder sonstwas kann, und zweitens, das sie – Zitat! – als „Resteverwerter“ von schlechten Jobs und miesem Wohnraum das sozial-ökonomische Gleichgewicht unserer Überflußgesellschaft prima ausbalancieren. Daß er dabei gleichzeitig, in seinem Buch „Zugluft“ beispielsweise, für etwas eintritt, das es längst gibt, nämlich das Nebeneinander von Deutschen und Nichtdeutschen, das fällt höchstens irgendwelchen neunmalklugen tamilischen Scheinasylanten und spitzfindigen jüdischen Talmudisten auf.

Wir Deutsche dagegen wissen, daß er auf diese Art eine besonders raffinierte, diplomatische Methode zur Abschottung und – aufgepaßt, kein Euphemismus! – sanften Versklavung unserer ausländischen Mitbürger und Mitbürgerinnen gefunden hat und uns so auf einen verheißungsvollen Weg bringen will: die Erschaffung einer Gesellschaft aus hochherrschaftlich-toleranten deutschen Chefs und identitätslosen Heloten, die ihren nationalen und kulturellen Frust als Knallchargen in der „Lindenstraße“ abreagieren dürfen.

Die Parole ist klar: Niemals dürfen die Negertürken, Islamzigeuner und Jugojuden herausbekommen, dass die multikulturelle Gesellschaft nur ein Trick ist, ein neues Schlagwort für unser altbewährtes „Wir sondern das Fremde aus“-Spiel. Denn dann spielen sie womöglich einfach nicht mit. Und wenn das passiert, dann gnade uns Gott. Dann ist Deutschland schon bald ein schlimmeres Rassen- und Sünden-Babel als New York und Singapur, Tel Aviv und Paris zusammen. Dann gibt es bald keinen einzigen echten Deutschen mehr.

Wäre das wirklich eine Katastrophe?

Quelle: Maxim Biller, „Die getürkten Deutschen“, in Deniz Göktürk, David Gramling, Anton Kaes und Andreas Langenohl, Hrsg., Transit Deutschland. Debatten zu Nation und Migration, München: Konstanz University Press, 2011, S. 577-578.

Maxim Biller, „Die getürkten Deutschen“ (1991), veröffentlicht in: German History Intersections, <https://germanhistory-intersections.org/de/migration/ghis:document-101> [24.10.2024].