Advanced Chemistry, „Fremd im eigenen Land“ (1992)

Kurzbeschreibung

Die Gruppe Advanced Chemistry gilt als erste deutsche Hip-Hop-Band, die in ihren Texten politische Inhalte ansprach. Sie zählt zu den wenigen deutschsprachigen Mitgliedern der „Universal Zulu Nation“, einer in den 1970er Jahren in New York von Afrika Bambaata gegründeten Hip-Hop-Vereinigung. Das Stück beginnt mit einer eingespielten Radionachricht – im Text nicht enthalten –, die ihn als Reaktion auf den Rostocker Brandanschlag auf ein Wohnheim für Asylbewerber vom August 1992 kenntlich macht.

Quelle

Ich habe einen grünen Pass mit 'nem goldenen Adler drauf
Dies bedingt, dass ich mir oft die Haare rauf
Jetzt mal ohne Spaß: Ärger hab' ich zuhauf
Obwohl ich langsam Auto fahre und niemals sauf
(All das Gerede von europäischem Zusammenschluss)
Fahr' ich zur Grenze mit dem Zug oder einem Bus
Frag' ich mich, warum ich der Einzige bin, der sich ausweisen muss
Identität beweisen muss!
(Ist es so ungewöhnlich, wenn ein Afro-Deutscher seine Sprache spricht)
Und nicht so blass ist im Gesicht?
Das Problem sind die Ideen im System
(Ein echter Deutscher muss auch richtig deutsch aussehen)
Blaue Augen, blondes Haar, keine Gefahr
Gab's da nicht 'ne Zeit wo's schon mal so war?
„Gehst du mal später zurück in deine Heimat?“
Wohin? nach Heidelberg? wo ich ein Heim hab?
„Nein du weisst, was ich mein...“
Komm lass es sein, ich kenn diese Fragen, seitdem ich klein
Bin, in diesem Land vor zwei Jahrzehnten gebor'n
Doch frag' ich mich manchmal: Was hab ich hier verlor'n?
Ignorantes Geschwätz, ohne End'
Dumme Sprüche, die man bereits alle kennt
„Eh, bist du Amerikaner oder kommste aus Afrika?“
(Noch ein Kommentar über mein Haar, was ist daran so sonderbar?)
„Ach du bist Deutscher, komm erzähl kein Scheiß!“
(Du willst den Beweis? Hier ist mein Ausweis
Gestatten Sie, mein Name ist Frederik Hahn
Ich wurde hier geboren, doch wahrscheinlich sieht man es mir nicht an
Ich bin kein Ausländer, Aussiedler, Tourist, Immigrant)
Sondern deutscher Staatsbürger und komme zufällig aus diesem Land
(Wo ist das Problem? Jeder soll gehn, wohin er mag
Zum Skifahren in die Schweiz, als Tourist nach Prag
Zum Studieren nach Wien, als Au-Pair nach Paris zieh'n
Andere wollen ihr Land gar nicht verlassen), doch sie müssen flieh'n
(Ausländerfeindlichkeit, Komplex der Minderwertigkeit
Ich will schockieren und provozieren
Meine Brüder und Schwestern wieder neu motivieren
Ich hab schon 'nen Plan
Und wenn es drauf ankommt, kämpfe ich Auge um Auge, Zahn um Zahn
Ich hoffe die Radiosender lassen diese Platte spielen
Denn ich bin kein Einzelfall, sondern einer von vielen)
Nicht anerkannt, fremd im eigenen Land
Kein Ausländer und doch ein Fremder

[Refrain]
Kein, kein Fremder
Kein, kein Fremder
Kein, kein Fremder im eigenen Land!

Ich habe einen grünen Pass mit 'nem goldenen Adler drauf
Doch mit italienischer Abstammung wuchs ich hier auf
Somit nahm ich Spott in Kauf
In dem meinigen bisherigen Lebensablauf
Politiker und Medien berichten ob früh oder spät
Von einer „überschrittenen Aufnahmekapazität“
Es wird einem erklärt, der Kopf wird einem verdreht
Dass man durch Ausländer in eine Bedrohung gerät
Somit denkt der Bürger, der Vorurteile pflegt
Dass für ihn eine große Gefahr entsteht
Er sie verliert, sie ihm entgeht
Seine ihm so wichtige deutsche Lebensqualität
Leider kommt selten jemand, der frägt
Wie es um die schlechtbezahlte, unbeliebte Arbeit steht
Kaum einer ist da, der überlegt, auf das Wissen Wert legt
Warum es diesem Land so gut geht
Dass der Gastarbeiter seit den 50ern unentwegt
Zum Wirtschaftsaufbau, der sich blühend bewegt
Mit Nutzen beitrug und noch beiträgt
Mit einer schwachen Position in der Gesellschaft lebt
In Krisenzeiten die Sündenbockrolle belegt
Und das eigentliche Problem, dass man übergeht
Wird einfach unauffällig unter den Teppich gefegt
Nicht anerkannt, fremd im eigenen Lan
Kein Ausländer und doch ein Fremder

[Refrain]

Ich habe einen grünen Pass mit 'nem goldenen Adler drauf
Doch keiner fragt danach, wenn ich in die falsche Straße lauf
„Komm, dem hau'n wir's Maul auf!“
Gut dass ich immer schnell war beim Hundertmeterlauf
Gewalt in Gestalt einer Faust, die geballt
Oder 'nem blitzenden Messer, 'ner Waffe die knallt
Viele werden behaupten, wir würden übertreiben
Doch seit zwanzig Jahren leben wir hier, sind es leid zu schweigen
Pogrome entstehen, Polizei steht daneben
Ein deutscher Staatsbürger fürchtet um sein Leben
In der Fernsehsendung die Wiedervereinigung
Anfangs hab ich mich gefreut, doch schnell hab ich's bereut
Denn noch nie seit ich denken kann, war's so schlimm wie heut
Politikerköpfe reden viel, doch bleiben kalt und kühl
All dies passt genau in ihr Kalkül
Man zeigt sich besorgt, begibt sich vor Ort
Nimmt ein Kind auf den Schoß, für Presse ist schon gesorgt
Mit jedem Kamerablitz ein neuer Sitz im Bundestag
Dort erlässt man ein neues Gesetz
Klar, Asylbewerber müssen raus
Und keiner macht den Faschos den Garaus
Dies ist nicht meine Welt, in der nur die Hautfarbe und Herkunft zählt
Der Wahn von Überfremdung politischen Wert erhält
Mit Ignoranz jeder Hans oder Franz sein Urteil fällt
Krach macht und bellt, sich selbst für den Fachmann hält
Ich bin erzogen worden, die Dinge anders zu seh'n
Hinter Fassaden blicken, Zusammenhänge versteh'n
Mit Respekt „en direct“ zu jedem Menschen stehen
Ethische Werte, die über nationale Grenzen gehen
Ich hab 'nen grünen Pass mit 'nem goldenen Adler drauf
Doch bin ich fremd hier

Quelle: Advanced Chemistry, „Fremd im eigenen Land“, MZEE Records, 1992, in Transit Deutschland. Debatten zu Nation und Migration, Hrsg. Deniz Göktürk, David Gramling, Anton Kaes und Andreas Langenohl, München: Konstanz University Press, 2011, S. 160-161.

Advanced Chemistry, „Fremd im eigenen Land“ (1992), veröffentlicht in: German History Intersections, <https://germanhistory-intersections.org/de/migration/ghis:document-102> [09.12.2024].