Werner Schiffauer, „Schlachtfeld Frau“ (2005)

Kurzbeschreibung

Werner Schiffauer ist Professor für Vergleichende Kultur- und Sozialanthropologie an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder. Seine Forschung konzentriert sich auf die Lebenswelten muslimischer Einwanderer in Deutschland. „Ehrenmorde“ an muslimischen Frauen sind ein zentrales Thema in der Berichterstattung über das Leben von Migranten. Dem Thema nahm sich auch der mehrmals ausgezeichnete Film Die Fremde (2010) mit Sibel Kekilli an.

Hatun Sürücü wurde am 7. Februar 2005 durch mehrere Kopfschüsse an einer Bushaltestelle in Berlin getötet. Kurz darauf wurden ihre drei Brüder festgenommen. Sürücüs jüngster Bruder wurde 2007 zu einer neunjährigen Jugendstrafe verurteilt, während die zwei älteren Brüder aus Mangel an Beweisen freigesprochen wurden und sich mittlerweile in der Türkei befinden.

Quelle

Die Zahl der „Ehrenmorde“ an türkisch-stämmigen Frauen nimmt in der letzten Zeit drastisch zu. Mit dem Islam haben sie wenig zu tun – aber viel mit Selbstausgrenzung.

Die Ermordung der jungen Deutsch-Türkin Hatin Sürücü in Berlin konfrontiert uns mit einer erschreckenden Tatsache: Die Zahl der Ehrenmorde nimmt in der letzten Zeit drastisch zu, nachdem wir über die Jahre einen deutlichen Rückgang zu beobachten hatten.

Dieser Rückgang war oft nicht so deutlich, weil in der deutschen Öffentlichkeit die Tendenz existierte, jedes Familien- und Eifersuchtsdrama in türkischen Familien als Ehrenmord zu etikettieren.

Auch die Täter bringen bei derartigen Familiendramen manchmal Ehre ins Spiel, um sich zu rechtfertigen. Ehrenmorde jedoch wie derjenige in Berlin, Morde, die im Namen der Familie und unter Beihilfe von Familienmitgliedern ausgeführt wurden – in diesem Fall womöglich von den Brüdern Hatin Sürücüs –, waren selten geworden.

Bisher ging man davon aus, dass dem System der Ehre mit der Migration der Boden entzogen wurde. In den anatolischen, süditalienischen, albanischen oder arabischen Ländern war die bäuerliche Familie die entscheidende soziale, politische und ökonomische Einheit.

Sie arbeitete zusammen, hielt bei Konflikten zusammen und war bei sozialen Notlagen aufeinander angewiesen. Der Wert der Ehre reflektierte diese überragende Stellung der Familie. Er drückte ihre Unantastbarkeit aus.

Der Körper der Frauen symbolisiert die Ehre

Jeder Angriff auf die Familie verlangte Vergeltung. In besonderem Maße symbolisierte der Körper der Frauen – ihre sexuelle Integrität – die Ehre.

Jeder außereheliche sexuelle Kontakt stellte nicht nur die Ehre der Frau, sondern den ihrer gesamten Familie in Frage. Im Dorf war der Respekt vor der Ehre überlebensnotwendig: Man achtete die Integrität des anderen, denn jede Verletzung würde weitreichende Folgen haben.

Wer nicht auf seine Ehre achtete, wurde rasch ausgegrenzt – er konnte seine Kinder nicht mehr verheiraten, seine Töchter waren Freiwild und er hatte das Nachsehen in dörflichen Konflikten.

Auch im Dorf war man sich im Übrigen der Tatsache sehr bewusst, dass die Forderungen der Ehre nichts mit dem Islam zu tun hatten. Wenn Ehrkonflikte eskalierten und es Tote gab, wurde dies mit dem Satz kommentiert: „Hier ist vom Islam nichts geblieben.“

Diese Bedeutung der Ehre relativierte sich mit der Migration in die türkischen Großstädte, vor allem aber mit der Migration nach Deutschland. In der urbanen Umwelt fiel der Zwang weg, sich gegen andere zu behaupten.

Ein schlechter Ruf war nach wie vor unangenehm – aber nicht mehr lebensentscheidend. Zudem waren die Einwanderer in der Stadt weit weniger auf die Familie angewiesen als im Dorf.

Mit dem größeren Spielraum des Einzelnen trat der Gedanke einer von allen Familienmitgliedern geteilten Ehre in den Hintergrund. Wenn jetzt von Ehre die Rede war, dann immer mehr in Bezug auf das Individuum.

Ein Verstoß gegen die Keuschheitsregeln fiel nicht mehr auf die Familie zurück, als ehrlos galt allenfalls das betroffene Familienmitglied.

Der Zwang, der im Dorf auf der ganzen Familie gelastet hatte, bei Ehrverletzungen aktiv zu werden, entfiel. All dies stimmt natürlich nach wie vor, was sich schon daran zeigt, dass trotz der hohen Zahl von zerrütteten Migrantenfamilien Ehrenmorde eine extrem seltene Ausnahme sind.

Allerdings geriet dabei aus dem Blick, dass es Orte gab, an denen der Ehrdiskurs – in modifizierter Weise – auch in einem urbanen Umfeld weiter lebte. Wichtig waren vor allem männliche Jugendgangs. In diesen Gruppen wurde der Gedanke der Ehre von der Familie auf die Gang übertragen. Ein Angriff auf einen war ein Angriff auf alle.

Sie hat‘s geschafft. Er nicht.

Diese Gangs hielten zusammen, waren solidarisch, stark – und gewaltbereit. Der Gedanke der Ehre färbte auch das Frauenbild ein: Man unterschied zwischen „Straßenmädchen“ von zweifelhafter Ehre, mit denen man sexuelle Beziehungen einging, und den „Familienmädchen“, die für eine Ehe in Frage kamen.

Und es gab eine Tendenz, die eigene Schwester zu kontrollieren, wenn sie nicht mehr dem Bild des „Familienmädchens“ entsprach. In einem Fall, zu dem ich als Gerichtsgutachter hinzugezogen wurde, war die Aufschneiderei in der Gruppe Auslöser eines Mordversuchs.

Neu ist die Betonung der Ethnizität, das zur Schau getragene Bewusstsein, Türke, Araber, „Ausländer“ zu sein. Männliche Jugendliche an Kreuzberger Schulen, so wird berichtet, mobben junge Türkinnen, wenn sie kein Kopftuch tragen.

Auch die Äußerungen nach dem Mord an Hatin Sürücü deuten in diese Richtung. An der Thomas-Morus-Oberschule in der Nähe des Tatortes sagten Jugendliche, dass man die Täter verstehen könne: „Die hat doch selber Schuld. Die Hure lief rum wie eine Deutsche.“

Dies korrespondiert mit einem neuen Selbstverständnis jugendlicher Migranten. Je mehr sie in Deutschland heimisch werden, desto mehr nimmt das Bewusstsein von Ausgrenzung zu.

Etwas verkürzt dargestellt hatte die erste Generation der Einwanderer eine starke Heimatorientierung – sie empfanden Deutschland als Fremde und hatten ein deutliches Bewusstsein davon, nicht dazuzugehören. Für die zweite Generation war Deutschland zur – schwierigen – Heimat geworden.

Sie musste den Spagat zwischen Elternhaus und Schule bewältigen, die in Klischees befangen waren und sich gegenseitig abwerteten. Das Elternhaus sah in der deutschen Umwelt nur Sittenverderbnis und Unmoral; die Schule betrachtete das türkische Elternhaus wiederum als Hort von Patriarchalismus, Autoritarismus, Frauenfeindlichkeit und häuslicher Gewalt.

Viele junge Türken dieser Generation lösten das Dilemma, indem sie sich radikal individuierten. Sie wollten weder Deutsche noch Türken sein, sondern ausschließlich sie selbst. Gelegentlich kam es schon in dieser Generation, verstärkt aber in der dritten und vierten Generation, zur Re-ethnisierung.

Ausschlaggebend waren Erfahrungen von wirtschaftlicher Ausgrenzung, sozialer Diskriminierung und kulturellem Anpassungsdruck. „Wer sind wir denn, das wir uns vorschreiben lassen, wie wir es mit dem Kopftuch halten sollen?“, fragte mich einmal ein durchaus säkularisierter junger Türke.

Es kam zu einer Neuentdeckung der Herkunft. Diese Generation wertete das Stigma um, das der Existenz des Ausländers anhaftete, sie bekannte sich selbstbewusst zu ihrer Existenz als „deutsche Ausländer“.

Dieses neue Selbstbewusstsein der dritten Generation ist der gemeinsame Hintergrund der Entstehung verschiedener Sub- und Protestkulturen. Eine säkulare Bewegung lässt sich in der Gegenkultur der Kanak-Attack entdecken – und findet Ausdruck in dem Lebensgefühl, dass es „cool“ ist, Ausländer zu sein.

Eine religiöse Bewegung drückt sich in Kopftuchbewegung und gesteigerter Religiosität aus. Eine dritte, kulturalistische führt dazu, dass die jungen Ausländer ihr ethnisches Anderssein betonen. Dafür greifen sie auf kulturelle Elemente zurück, die oft aus dem Kontext gerissen werden – wie Kopftuch und eben Ehre.

Die Mischung einer gesellschaftlichen Randlage in den Einwanderervierteln und dem Bewusstsein von Differenz kann ein gewaltsames Gebräu ergeben.

Hier bildet sich eine ethnische Unterklasse. In diesem Zusammenhang ist der Rückgriff auf die Ehre nicht nur deshalb problematisch, weil er sich vorzüglich zur Markierung von Grenzen zur Mehrheitsgesellschaft eignet, sondern auch, weil er den Zugriff auf die Frauen nahe legt, um Unterschiede zwischen gesellschaftlichen Gruppen zu markieren.

Wir besitzen Ehre, die andern nicht – und dies lässt sich an „unseren“ Frauen ablesen. Die Wut auf die deutsche Gesellschaft insgesamt richtet sich dann schnell gegen die Frauen, die sich den damit einhergehenden Erwartungen entziehen – indem sie aufsteigen und aussteigen.

Der relative Erfolg dieser jungen Frauen in Schule und Beruf konfrontiert ihre Brüder mit der Tatsache, dass die Randlage unter Umständen doch nicht so aussichtslos ist, wie es heißt. Wenn sie dann noch „wie Deutsche“ werden, ist das fast Verrat.

Der Wahn, die Wut

Die Gruppe, auf die sich für diese jungen Leute „Ehre“ bezieht, ist neben der Familie und der Gang jetzt auch die gesamte Gruppe der „deutschen Ausländer“.

All dies erklärt noch nicht die Ermordung einer jungen Frau, es zeigt aber den Zusammenhang, in dem eine Gruppe von Brüdern sich in einen Ehrwahn hineinsteigern kann. Anders als bei den dörflichen Ehrenmorden scheint die Initiative weniger von den Patriarchen auszugehen. Das Gewicht der Generationen hat sich verschoben.

Mit dem Islam hat dies nur insofern zu tun, als auch er als Versatzstück von diesen Jugendlichen benutzt wird: So wird das Kopftuch oder der Schlachtruf „Scheiß-

Jesus“ zur Abgrenzung von der Mehrheitsgesellschaft benutzt. Mit Islam hat beides nichts zu tun.

Dennoch bietet die Tatsache, dass oft auch der Islam zur Symbolisierung herangezogen wird, eine Chance: Anders als der ethnische Diskurs erlaubt der Islam Brücken zur Mehrheitsgesellschaft.

Über den Islam wäre ein Zugang zu den Jugendlichen denkbar, er könnte ihnen vermitteln, dass Islam mit Zwang unvereinbar ist oder dass Jesus als einer der wichtigsten Propheten im Islam gilt und die abrahamitischen Religionen eine gemeinsame Wertgrundlage besitzen.

Wir werden das Phänomen nur in den Griff bekommen, wenn wir die islamischen Gemeinden ins Boot holen.

Quelle: Werner Schiffauer, „Schlachtfeld Frau“, Süddeutsche Zeitung, 25. Februar 2005. Online verfügbar unter: https://www.sueddeutsche.de/kultur/deutsche-auslaender-schlachtfeld-frau-1.804443

Werner Schiffauer, „Schlachtfeld Frau“ (2005), veröffentlicht in: German History Intersections, <https://germanhistory-intersections.org/de/migration/ghis:document-114> [03.12.2023].