Aras Ören, Dankrede zur Verleihung des Chamisso-Preises (1985)

Kurzbeschreibung

Aras Ören (geb. 1939 in Istanbul) lebt seit 1969 in Berlin. 1973 wurde er Redakteur des türkischen Radioprogramms beim Sender Freies Berlin. Seine Gedichte und Prosawerke, darunter die Berlin-Poeme „Was will Niyazi in der Naunynstraße“ (1973) und „Deutschland, ein türkisches Märchen“ (1978) sowie der Zyklus von sechs Berlin-Romanen „Auf der Suche der Gegenwart“, schrieb Ören in türkischer Sprache; sie wurden ins Deutsche übersetzt. Ören wirkte auch als Schauspieler in den Filmen Shirins Hochzeit (1976) und Otohüs (1976) mit. In seiner Dankrede zur Verleihung des Adelbert-von-Chamisso-Preises im Februar 1985 stellt er sich als „deutscher Dichter“ vor und spricht von der Vision „einer neuen europäischen Identität“, die auf transnationaler Erfahrung und Verflechtung der Sprachen beruht.

Quelle

[] Wir beklagen uns heute oft, daß wir inmitten einer sich stürmisch entwickeln­den Welt der Kommunikationstechniken als Individuen alleine gelassen werden mit der uns umgebenden Kommunikationslosigkeit, die wir nicht selten als nahezu per­fekte Sprachlosigkeit erleben. Es sieht so aus, als wären wir an Grenzen der Sprache gestoßen, an einen Punkt, wo es für uns kein Vor und kein Zurück mehr gibt.

Doch etwas fällt einem sofort auf, wenn man dies feststellt, und es klingt paradox: auf der einen Seite die rasch expandierende Kommunikationstechnik, auf der ande­ren die Verdammung des Individuums zu Kommunikationslosigkeit. Doch es ist nicht meine Absicht, mich hier mit dem Widerspruch auseinanderzusetzen, viel­mehr will ich als Schriftsteller, als einer, der mit dem geschriebenen Wort umgeht, auf eines aufmerksam machen: Unter den sich verändernden technischen und sozia­len Bedingungen muß es unsere Aufgabe sein, die Rolle der Kunst, soweit sie Mensch und Gegenstand, also die Wirklichkeit widerspiegelt, unter dem Vorzeichen der neu entstandenen Identitätsverflechtung zu sehen, sie zu verändern und ihre Funktion neu zu definieren. Andernfalls geraten wir in eine Situation, in der wir uns als bloße Schreiberlinge mit der Reproduktion von Ikonographien verschiedenster Art begnü­gen müssen. Bei der Bestimmung der neuen Rolle, die die Literatur zu übernehmen hat, gehöre ich weder zu jenen, die die Medien mit Verachtung strafen noch zu denen, die in ihnen einen Konkurrenten sehen, der das Buch im Laufe der Zeit an den Rand drängen wird. Obwohl es den Verfechtern der sogenannten Kommunika­tionsfreiheit um nichts anderes geht als um die möglichst totale Okkupation der Köpfe, der Phantasien und des Bewußtseins, wäre es lächerlich, wie ein zeitgenössi­scher Don Quichotte gegen diese Entwicklung anzukämpfen.

Für mich besteht die Aufgabe eines Schriftstellers darin, aus dem allen Konse­quenzen zu ziehen, die Bewußtseinsindustrien, wie Enzensberger sagt, ins Blickfeld zu rücken und Ausschau zu halten nach Neuland, dieses zu erschließen und zu bestellen, also, wie bereits gesagt, die Rolle der Literatur neu zu bestimmen. Und gerade dabei gewinnt der schöpferische Geist an Bedeutung. Gleichzeitig legt er dar­über Zeugnis ab, wie tolerant und offen er gegenüber anderen ist. In diesem Prozeß geht es nicht nur um Permanenz, es geht vorrangig um einen Akt grundlegender Selbsterneuerung. Fast allen Bereichen der Kunst steht eine schwere Geburt bevor.

Das Unterfangen ist nicht einfach, darüber bin ich mir im klaren, doch meine ich, daß wir nur auf dieser Grundlage in Zukunft aufbauen können. Vielleicht bedarf es dazu noch einiger kräftiger Impulse. Ein wichtiger Antrieb, davon bin ich fest überzeugt, kann heutzutage von uns Ausländern in der deutschen Literatur kommen, und wir stehen zu dieser Aufgabe. Wenn wir sie erfüllen können und man uns dabei anerkennt, wird auch für mich Gültigkeit bekommen, was Adelbert von Chamisso sagte, in dessen Namen ein Preis gestiftet und mir verliehen wurde, wodurch ich mich sehr geehrt fühle. Chamisso sagte nämlich, und diesen Worten kann ich mich dann anschließen: Ich glaube fast, ich bin ein deutscher Dichter. Jeder Künstler steht unter dem Einfluß der historischen und sozialen Bedingungen seiner Zeit. Das ist etwas ganz Natürliches.

Ein Teil, ein bedeutender Teil meiner Erfahrungen war bestimmt von den gro­ßen Wanderbewegungen aus der Türkei in Richtung Deutschland, aus Agrarlän­dern an der Peripherie in das Zentrum Europas, aus unterentwickelten Regionen in die Industriestaaten, war geprägt von einer Einwanderung, an der auch ich teil­nahm und deren Zeuge ich wurde, von Beginn an. Die Bedingungen, unter denen sie stattfand, die vielen Einzelschicksale, die damit verknüpft sind, haben in allen Phasen ihres Ablaufs einen nachhaltigen Eindruck auf mich ausgeübt und üben ihn noch immer aus. Davon unberührt zu bleiben, ist ohnehin undenkbar, wenn man selbst zu den Beteiligten gehört.

Mitten drin zu stehen und doch nicht dazuzuzählen, würde mangelnde Sensibi­lität und Indifferenz bedeuten. Gewiß mag es so etwas geben. Bei mir war es jedoch nicht der Fall, und zwar, weil ich es nicht wollte. Mindestens während einer Phase meines literarischen Schaffens konzentrierte ich mich bewußt auf diesen Punkt, mit großer Beharrlichkeit. Diese Zeit meiner schriftstellerischen Tätigkeit ist eng verbunden mit den verschiedenen Einwanderungswellen. Beide verliefen parallel zueinander, reflektierten sich.

Das Bewußtsein der Einwanderung und mein literarisches Bewußtsein stehen in ständiger Wechselwirkung, bedingen sich gegenseitig. Dies ist mir ganz deutlich. Unser durch die Einwanderung geprägtes Bewußtsein, die Zerrissenheit, die Loslö­sung von unserer alten und die Suche nach einer neuen Identität sind jedoch nicht nur Merkmale der aktiv und passiv von der Einwanderung Betroffenen. Sie sind zugleich die bestimmenden Faktoren des neuen Bewußtseins, der neuen Identität, nach denen Europa und alle hochindustrialisierten Staaten in den letzten zwei Jahr­zehnten unseres Jahrhunderts Ausschau halten, wobei die hier Zugewanderten eine nicht zu unterschätzende Stoßkraft ausüben.

Mit anderen Worten: Europa ist die Reflexion meines Gesichtes, und umge­kehrt: Ich bin die Reflexion des Gesichtes von Europa. Meine Sprachlosigkeit ist auch die seine. Ich sehe das Phänomen aus dieser Perspektive. Das ist meiner Mei­nung nach wichtig, unterscheidet mich allerdings von manchen türkischen Kolle­gen und vielen deutschen Kulturhändlern, die auf diesem Gebiet tätig sind. Diese wechselseitige Beeinflussung bedeutet eine Erweiterung meiner schöpferischen Kräfte und läßt sie zu einem Bestandteil des kreativen europäischen Zeitgeistes werden. Meine Suche nach der neuen Sprache trägt dazu bei, daß er die Sprachlo­sigkeit an der Grenze der Sprache überwinden kann. Meine Suche nach neuen Kommunikationsmöglichkeiten weist den Zeitgenossen einen Ausweg aus der Kommunikationslosigkeit. Während sie mich in Zukunft als Mahner begleiten, gibt ihnen meine Anwesenheit die Möglichkeit, die verdrängte Vergangenheit neu zu überdenken. In dieser Wechselbeziehung kann die Anerkennung und Bestärkung unserer Literatur und Kunst auch die Anerkennung und Bestärkung des eigenen Bewußtseins und der neugeschaffenen eigenen Werte bedeuten. Nur unter dieser Voraussetzung können Prinzipien wie »Die Bundesrepublik Deutschland ist ein Kulturstaat«, »Die Bundesrepublik Deutschland ist eingebunden in die Kultur­gemeinschaft der europäischen Staaten«, die von den jeweiligen Regierungen, je nach politischem Standort und Philosophie, immer wieder anders interpretiert und in die Praxis umgesetzt werden, auf ihren Wahrheitsgehalt hin überprüft wer­den und ihre Toleranz unter Beweis stellen, also beim Wort genommen werden, was ja wohl ursprünglich auch beabsichtigt war.

Kurz und gut: Unser neuer sozialer und kultureller Kreis und unsere Literatur, ein Produkt dieser Gemeinschaft, werden ganz gewiß ihren Beitrag leisten zur Ent­wicklung einer neuen europäischen Identität. []

Wir heute sind gleichzeitig die Tradition, wir heute sind gleichzeitig das kulturelle Erbe von morgen.

Es ist mein Wunsch, daß das geschriebene Wort über alle Grenzen hinweg eine Brücke zur Kommunikation werden möge, die Phantasie mit Phantasie, Gedanken mit Gedanken, Sprache mit Sprache, Individuum mit Individuum verbindet.

Quelle: Heinz Friedrich, Hrsg., Chamissos Enkel. Literatur von Ausländern in Deutschland, München: dtv 1986, S. 25–29. Ebenfalls abgedruckt in Transit Deutschland. Debatten zu Nation und Migration. Hrsg. Deniz Göktürk, David Gramling, Anton Kaes und Andreas Langenohl. München: Konstanz University Press, 2011, S. 574–76.

Aras Ören, Dankrede zur Verleihung des Chamisso-Preises (1985), veröffentlicht in: German History Intersections, <https://germanhistory-intersections.org/de/migration/ghis:document-118> [06.12.2024].