Silvia Koerner über ihre Flucht vor der Roten Armee (Rückblick, 2002)

Kurzbeschreibung

In diesem rückblickenden Bericht, der Teil eines Zeitzeugenprojekts des Deutschen Historischen Museums war, schrieb Silvia Koerner (geb. 1938) ihre Erinnerungen an die Flucht aus ihrem Dorf in der Uckermark vor der Roten Armee am Ende des Zweiten Weltkriegs nieder. Silvia floh mit ihrer Mutter und ihren Geschwistern aus Angst vor Vergeltungsaktionen der Rote-Armee-Soldaten gegen die deutsche Zivilbevölkerung Richtung Westen.

Quelle

Eines nachts im Frühjahr 1945 wurde ich, wie ich annahm, durch ein Gewitter aus dem Schlaf gerissen. Durch die Gardinen hindurch sah ich einen Lichtschein mal schwächer, mal stärker aufflackern und wartete auf den nächsten Donnerschlag. Der kam aber nicht. Statt dessen war meine Mutter ins Kinderzimmer getreten. Sie weckte meinen Bruder und meine Schwestern und sagte zu uns vieren: „Zieht euch an. Die Russen sind hier. Sie haben die Brücke gesprengt. Wir müssen fliehen!“ (Als wir noch in Berlin wohnten, war immer nur allgemein vom Feind die Rede gewesen. Jetzt waren aus dem Feind Russen geworden, von denen sich die Erwachsenen erzählten, daß sie plündern, vergewaltigen und morden würden. Da bekam ich schon einige Angst, obwohl ich gar nicht so richtig wußte, was das mit dem Plündern und Vergewaltigen auf sich hatte.)

Wir zogen uns also an und gingen danach gemeinsam auf den Hof. Dort hatten sich schon der Rittergutsbesitzer und sein ganzer Clan versammelt und waren eifrig und hektisch, aber ungewöhnlich stillschweigend, damit beschäftigt, Pferde vor die Wagen zu spannen, die Wagen mit allerhand Sachen wie Decken, Spaten, große Speckseiten, Brot und anderen Lebensmitteln zu beladen, um schließlich selbst auf den Wagen Platz zu nehmen und abzufahren. Sprachlos standen wir da und sahen dem Treiben eine Weile zu, bis Mutti verstand, daß sich niemand auf dem Rittergut um uns kümmern würde. Wir würden uns selbst helfen müssen, so gut es eben ging. Aus diesem Grunde verließen wir das Gehöft zu Fuß. Auf der Dorfstraße waren schon viele Menschen auf der Flucht, aus unserem Dorf und aus den Dörfern der Umgebung. Wir ordneten uns in den Treck ein und waren nun auch auf der Flucht vor den Russen.

Alle gingen schweigsam. Das einzige, was zu hören war, waren die Hufe der Pferde und die Räder der Wagen auf dem Kopfsteinpflaster und das dumpfe Geräusch von Bombeneinschlägen weiter entfernt. Alles spielte sich in einer Beleuchtung ab, die an Feuerwerk erinnerte. Nun wußte ich aber, daß es sich weder um Gewitter noch Feuerwerk handelte. Es war Krieg! Ich hatte eigentlich nur wenig Angst, denn ich hatte ja Mutti und meine Geschwister bei mir. Das war mir für den Augenblick genug. Aber ich grübelte darüber nach, wie lange diese Nachtwanderung wohl dauern würde, eine Stunde oder zwei oder vielleicht die ganze Nacht bis zur Morgendämmerung? Und ich hätte auch gern bewußt, wohin es eigentlich gehen sollte. Ohne exakt sagen zu können, wie lange wir auf dem Landweg gegangen sind, bogen die Wagen aus unserem Dorf plötzlich ab auf einen kleineren Weg, der zu einem Feld in der Nähe der Ucker führte. Dort machte die ganze Kolonne halt.

Die Leute kletterten von ihren Wagen herab, lasteten diese ab, nahmen ihre Spaten und begannen auf einem angrenzenden Feld, das etwas höher lag als das, auf dem wir angehalten hatten, zu graben. In diesen Erdlöchern wollten sie sich vor den Russen verstecken. Wie schon zuvor auf dem Gehöft des Rittergutes war sich jeder selbst der Nächste und wollte nur seine eigene Haut retten. Wir hatten keinen Spaten und niemand wollte uns seinen leihen. Also sah sich Mutti um, um auch für uns ein passendes Versteck zu finden. Ihr Blick fiel auf einen großen Heuhaufen in der Nähe. „Hört zu“, sagte sie zu uns, „wir werden uns dort in dem Heuhaufen verstecken“. Und sie fuhr fort: „ich werde zuerst hinein kriechen, danach kommt ihr und legt euch mit euren Körpern auf meinen und deckt diesen sozusagen. Danach, wenn wir alle auf unseren Plätzen sind, werde ich euch kneifen. Wenn ich euch nämlich kneife, dann werdet ihr schreien und wenn ihr schreit, dann werden die Russen glauben, daß ihr nur schreiende Kinder seid, die weder Mutter noch Vater haben. Und wenn sie das glauben, dann werden sie weiterziehen. Sie sind nur hinter Erwachsenen her und kümmern sich nicht um Kinder! Habt ihr verstanden, was ich gesagt habe?“

Oh ja, und ob ich verstanden hatte, denn nun wußte ich, was mich erwartete! Ich wußte aber auch, was ich zuvor schon über die Russen gehört hatte, nämlich, daß sie furchtbar waren und alles mögliche anstellten, besonders mit den Frauen!

Die Nacht im Heuhaufen erschien mir unendlich lang. Mutti kniff mich und ich schrie. Sie kniff mich wieder und ich schrie wieder, und zwischen meinen eigenen Schreien konnte ich die Schreie meiner Geschwister hören. Es war schon merkwürdig, denn als ich die Schreie meiner Geschwister hörte, und bevor es wieder so weh tat, daß ich selber erneut schrie, überkam mich so etwas wie Freude, wahrscheinlich war es ganz einfach Schadenfreude. Die Schreie meiner Geschwister bestätigten mir doch, daß sie auch gekniffen wurden und nicht nur ich!

In der Morgendämmerung des nächsten Tages krochen wir vorsichtig aus dem Heuhaufen heraus und die Dorfbewohner aus ihren Erdlöchern. Es zeigte sich, daß uns keine Russen in der vergangenen Nacht entdeckt hatten. Wir wußten aber, daß die Gefahr noch nicht vorbei war. Sie konnten in der kommenden Nacht oder in der Nacht darauf kommen. Mutti lieh sich deshalb einen Spaten und grub auch ein Loch, in dem wir uns verstecken konnten. Den Tag verbrachten wir im Freien, aber nur sitzend, liegend oder kriechend, weil immer wieder Flugzeuge wie aus dem Nichts kamen und im Tiefflug über uns flogen. Nicht weit von unserem Lager entfernt und eingezäunt standen einige Kühe und grasten. Niemand wagte sich an sie heran, um sie zu melken. Die Gefahr, daß ein Flugzeug im Tiefflug auftauchen würde, war zu groß. Das Muhen der Kühe wurde immer lauter. Sie wollten gemolken werden, denn ihre Euter waren angeschwollen und sahen aus wie aufgeblasene Ballons. Aber nichts half. Die Kühe mußten leiden und aushalten, bis die Milch in ihren Eutern versiegen würde und wir, die wir hungrig und durstig waren, mußten es auch weiterhin bleiben.

Als es zu dämmern begann, krochen wir in unser Erdloch. Mutti kroch zuerst hinein, danach folgten meine Geschwister und zuletzt ich. Um alle in dem Loch Platz zu haben, mußten wir uns zusammenpressen. Wir lagen durcheinander in einem Haufen von Körpern, Armen und Beinen. Und nachdem ich diejenige war, die zuletzt in das Loch gekrochen war, so war ich auch diejenige, die sich zusammengepfercht am Ausgang des Loches befand.

Ich war eingeschlummert und wurde von Männerstimmen geweckt, die eine Sprache sprachen, die ich nicht verstand. Augenblicklich wurde mir klar: „Das müssen die Russen sein!“ Allein dieser Gedanke lähmte mich vor Schreck!

Nachdem sich jedoch der erste Schreck gelegt hatte, schaute ich vorsichtig hoch. Dort, ungefähr einen Meter von mir entfernt, sah ich ein Paar Stiefel und ein Bajonett auf einem Gewehr, das mal hier und mal dort im Erdboden stocherte und immer näher auf mich zukam! Rasch streckte ich einen Arm nach innen ins Loch aus und es gelang mir, mich an einem Arm oder Bein festzuhalten, an dem ich mich weiter in das Loch hineinziehen konnte, um außer Reichweite des Bajonetts zu kommen.

Sehr viel später erzählte ich Mutti von meinen Erlebnissen in dieser Nacht und welche Ängste ich ausgestanden hatte. Da erst verstanden wir beide, was ich meiner Mutti angetan hatte. Sie sagte: „Ich war die ganze Zeit über wach gewesen und hörte die Russen miteinander sprechen. Doch plötzlich griff jemand nach meinem Bein und zog daran. Ich glaubte natürlich, daß es ein Russe war, der mich herausziehen wollte. Den Rest der Nacht verbrachte ich deshalb bewegungslos und getraute mich kaum zu atmen!“

Schließlich entdeckten uns die Russen und befahlen uns aus den Erdlöchern herauszukommen. Sie gaben Anweisungen, daß wir uns in Reihen aufstellen sollten; die Erwachsenen in einer Reihe, wir Kinder in einer anderen. Ihre Anweisungen gaben sie in einem Wortschwall auf russisch unter Zuhilfenahme von Zeichensprache und dem einen oder anderen Wort auf deutsch. Die Soldaten, die bei uns Kindern standen, hatten zwei große Leinensäcke mit dabei. Während sie die Säcke aufknüpften, lachten sie laut und diskutierten geheimnisvoll auf russisch miteinander. Wir verhielten uns abwartend. Was konnten die wohl vorhaben? Sicherlich nichts Gutes, nach allem, was wir über sie gehört hatten! Da war es schon gut, wenn man auf der Hut war!

Als die Säcke aufgeknüpft waren, zeigten die Soldaten uns Mädchen, wie wir unsere Schürzen halten sollten, um etwas in sie schütten zu können. Danach gruben sie mit ihren Händen in den Säcken und brachten ein weißes Pulver zutage, das sie in unsere Schürzen füllten. Gestikulierend und lachend zeigten sie uns, wie wir unsere Gesichter in das Pulver tauchen und es auflecken sollten. Widerwillig tauchte ich also mein Gesicht in das Pulver in der Schürze, streckte meine Zunge heraus und leckte an dem Pulver. Oh, welch angenehme Überraschung: es schmeckte gut, es war süß und es machte satt! Die Russen hatten uns Puderzucker gegeben! Puderzucker, den sie sackweise in der Bäckerei des Dorfes gestohlen hatten! Die aufrichtige Freude dieser beiden Russen über unsere frohen, lachenden und weiß gefärbten Gesichter, die ab und zu aus den Schürzen herausschauten, um eine Pause im Lecken einzulegen, war befreiend für Russen wie Deutsche, groß wie klein! Die Jungen, die ja keine Schürzen anhatten, (warum eigentlich nicht?) mußten ihre Hände zu Schöpfkellen formen, die auch mit Puderzucker gefüllt wurden.

Nach diesem glücklicherweise netten und friedlichen Zusammentreffen mit den ersten russischen Soldaten im Frühjahr 1945 kehrten wir zurück ins Dorf. Es gab aber viele, u.a. der Rittergutsbesitzer und seine Familie, die es vorzogen, ihre Flucht in westlicher Richtung fortzusetzen. Viele Russen, die später durchs Dorf zogen, waren nicht so wohlgesinnt und freundlich, wie diese ersten, mit denen wir Bekanntschaft gestiftet hatten. Bereits auf dem Weg ins Dorf konnten wir ahnen und uns vorstellen, wie es im Dorf aussehen würde. Die Äcker und Felder, an denen wir vorbeigingen, waren übersät von kleineren und größeren Bombenkratern, manchmal ohne, manchmal mit toten, aufgeschwollenen und stinkenden Körpern von Pferden, Kühen, Schweinen und anderen Tieren. Die Dorfstraße glich, nach all den dort eingeschlagenen Granaten, einem Durchschlag. Über dem gesamten Gebiet hing ein beißend süßlicher Geruch von Tod und Verwesung!

Das Rittergut war, wie viele andere Gebäude im Dorf, verlassen und leer. Die Zerstörung innen im Haus war enorm! Möbel und Einrichtung lagen zusammengeschossen und kaputtgeschlagen wahllos herum. Die Toiletten waren mit Essen gefüllt, Konserven mit Urin und Kot! An den Wänden waren Spuren von getrocknetem Essen und Kot zu sehen! Mutti, meine Geschwister und ich, teilten das große Haus nur mit Mäusen! Tagsüber war es ungewöhnlich ruhig im Haus. Desto lebendiger wurde es in den Nächten, wenn die Mäuse über unsere Betten sprangen! Wenn ich nicht schnell genug die Bettdecke übers Gesicht zog, konnte ich am nächsten Morgen ihre nächtlichen Aktivitäten in meinem Gesicht im Spiegel betrachten! Um den Mäusen zu entkommen und, weil es auch viele kleinere verlassene Häuser im Dorf gab, zogen wir um in ein kleines Haus auf der anderen Seite der Dorfstraße. Natürlich war auch dieses Haus verwüstet. Aber mit vereinten Kräften machten wir es einigermaßen bewohnbar.

Kurz nachdem wir uns in dem kleineren Haus einquartiert hatten, erkrankte Mutti an Typhus und kam nach Prenzlau ins Krankenhaus. Von diesem Tag an im Frühjahr 1945 hieß es für uns vier Geschwister (Dieter 10, Silvia 7, Edith und Jutta 6), daß wir uns allein durchschlagen mußten, wenn wir überleben wollten.

Silvia Koerner über ihre Flucht vor der Roten Armee (Rückblick, 2002), veröffentlicht in: German History Intersections, <https://germanhistory-intersections.org/de/migration/ghis:document-126> [08.12.2024].