Als Deutschland sein Herz für Boatpeople entdeckte (1. September 2015)

Kurzbeschreibung

Über 40.000 „Boat People“—sogenannt, weil sie Verfolgung und Unterdrückung in Vietnam über den Seeweg zu entkommen suchten—fanden in Westdeutschland ein neues Zuhause. In Folge des Vietnamkrieges verschärfte die vietnamesische Regierung ab 1975 Repressionen und Verfolgung von Minderheiten und politischen Gegnern. Besonders betroffen war die chinesische Minderheit („Hoa“), die im Zuge des eskalierenden Konflikts mit China von der Regierung systematisch verfolgt und vertrieben wurde. Daraufhin flohen hunderttausende von Menschen aus Vietnam, oft über das offene Südchinesische Meer Richtung Malaysia, Indonesien und Thailand, wo sie auf maroden Frachtern oder in überfüllten Lagern untergebracht wurden. Nach Schätzungen der UNHCR starben mindestens 200.000 bis 400.000 Menschen auf der Flucht. Angesichts dieser dramatischen Lage entwickelte sich in der Bundesrepublik eine breite Hilfsbewegung. Der niedersächsische Ministerpräsident Ernst Albrecht entschloss sich, die ersten 1.000 Flüchtlinge in Niedersachsen aufzunehmen. Dieser Artikel von 2015 bietet einen Rückblick auf die politischen Entscheidungen und beschreibt das Leben einiger vietnamesischer Flüchtlinge in der Bundesrepublik.

Das Leid der „Boat People“ veranlasste nicht nur deutsche Regierungsstellen zu helfen: so charterten Rupert und Christel Neudeck mit prominenten Unterstützern wie Heinrich Böll 1979 den Frachter „Cap Anamur“, um direkt vor Ort Hilfe für Geflüchtete zu leisten. Auch vierzig Jahre später ertrinken Menschen auf der Flucht im Meer: allein seit 2014 haben zwischen 15.000 und 20.000 Menschen bei der Flucht über das Mittelmeer ihr Leben verloren.

Quelle

Ende der 70er-Jahre flohen Millionen Menschen vor dem kommunistischen Vietcong aufs offene Meer hinaus. Doch niemand wollte sie haben. Es war ein deutscher Politiker, der das Leiden für viele beendete.

Es war Ende Mai 1979, als Tu Dung Dang mit seinen Eltern an die Küste fuhr. Dang war damals 12 Jahre alt und lebte in Vietnam. „Wir fuhren an einen Nebenfluss, der zum Meer führte“, erzählt er. „Da habe ich dann schon gesehen, dass da drei große Schiffe oder Boote lagen. Die waren ziemlich groß für ein Fluchtschiff.“

Dangs Boot war groß genug für 300 Leute. In See stachen sie mit doppelt so vielen. Seine Eltern hatten nur Geld, um die Flucht für eines der Kinder zu zahlen. Sie selbst blieben zurück. Sieben Tage war Dang auf See, sieben Tage fürchteten er und die anderen um ihr Leben. Sie trafen auf Piraten und entkamen nur knapp einem Sturm. Ein anderes Boot kenterte und Dang sah, wie Hunderte seiner Landsleute elendig ertranken. „Das ist so ein Erlebnis, wo ich dann sagen würde, das werde ich ein Leben lang nie vergessen.“

36 Jahre später ist Tu Dung Dang einer von rund 35.000 vietnamesischen Boatpeople, die in der Bundesrepublik Zuflucht fanden. Wie die Aufnahme der Flüchtlinge heute war auch ihre Aufnahme damals umstritten. Wie die Flüchtlinge heute wurden auch sie Opfer rechtsextremer Gewalt. Und: Auch ihre Integration verlief anfangs schwierig. Heute sind die Vietnamesen Beamte, Ärzte, Ingenieure und IT-Experten. Wodurch ihre Integration am Ende gut klappte? Sie selbst sagen: Es war vor allem die große Willkommenskultur der Deutschen und der Erlass des Asylverfahrens.

Rund 1,5 Millionen Menschen flohen Ende der 70er-Jahre mit dem Boot aus Vietnam vor den siegreichen kommunistischen Vietcong und ihren Umerziehungslagern. Rund 250.000 kamen auf dem Seeweg ums Leben. Dangs Boot schaffte es aus dem Mekongdelta nach Indonesien, wo er sich als kleiner Junge in einem Flüchtlingslager als Straßenverkäufer durchschlug. Mithilfe des deutschen Rettungsschiffs „Cap Anamur“ kam er schließlich nach Deutschland und vergaß nie den Tag seiner Ankunft in Berlin. „Und als ich da aus dem Flugzeug stieg“, erzählt er, „wurde ich von einer ganz, ganz korpulenten Ärztin umarmt, und so fest, dass ich dann eben, halt, dass mir die Luft weg blieb. Das war die herzlichste Umarmung, die ich je in meinem Leben erlebt habe. Das zeigte, dass wir willkommen waren.“

Von der Leyens Vater handelte entschlossen

Tatsächlich war zu diesem Zeitpunkt die breite Mehrheit der deutschen Bevölkerung für die Aufnahme der Vietnamesen. Lange aber war die Hilfsbereitschaft der Deutschen gering gewesen. Vor allem die linke Studentenbewegung war gegen die Flüchtlinge aus dem proamerikanischen Südvietnam. Auch die Chefs der Bundesländer waren, noch bis lange nach 1979, verhalten, sagten, sie hätten nicht genug Unterkünfte, die Integration sei kompliziert und kostspielig. Am Ende war es Niedersachsens Ministerpräsident Ernst Albrecht (CDU), der 1978 die Stimmung änderte.

Albrecht, der Vater von Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU), hatte im Fernsehen die Bilder des Frachters „Hai Hong“ gesehen. Entsetzliche Bilder wie Österreich heute. Menschenschmuggler hatten 2.500 Boatpeople an Bord genommen. Doch kein Land wollte sie aufnehmen. Zwei Monate irrte das Schiff von Hafen zu Hafen. Die Bilder der Hunger und Durst leidenden Menschen erreichten Deutschland mit der „Tagesschau“ und riefen Entsetzen hervor.

Albrecht nahm einige Hundert der „Hai Hong“-Passagiere auf, und so nahm die Geschichte der Boatpeople in Deutschland ihren Lauf. Nur wenige Monate später gründeten der Journalist Rupert Neudeck und seine Frau Christel den Verein Cap Anamur/Deutsche Not-Ärzte e.V. Neudeck rief im Fernsehen zu Spenden auf und rettete mit der „Cap Anamur“ über 10.000 Vietnamesen aus dem Südchinesischen Meer.

„Die Unterstützung der deutschen Gesellschaft war überwältigend“, erinnert sich der heute 76-jährige Neudeck. Tausende Deutsche spendeten, zahlreiche Familien nahmen Vietnamesen auf. Auch Dang fand bei einem deutschen Ehepaar ein erstes Zuhause, bis seine Eltern ihm nach Deutschland folgten. Dang machte Abitur, studierte Verwaltungs- und Rechtswissenschaften. Heute arbeitet er in der Bußgeldstelle der Berliner Polizei.

Mai Thuy Phan-Nguyen ist heute Ärztin. „Wir wurden mit offenen Armen empfangen“, sagt die 39-Jährige. Problemlos seien ihnen Deutschkurse und eine Ausbildung ermöglicht worden. Auch Kim-Hoa Trinh, der heute bei einem Telekommunikationsunternehmen arbeitet, erinnert sich an eine große Willkommenskultur. „Wir sollten die neuen Flüchtlinge heute auch wieder mit offenen Armen empfangen“, sagt er. „Das fand ich damals für unsere ersten Schritte in Deutschland sehr wichtig.“

Vietnamesen waren auch Opfer von Anschlägen

Doch es gab auch Schattenseiten, sehr dunkle. 1980 verübten Neonazis einen Brandanschlag auf ein Flüchtlingsheim in Hamburg. Zwei Vietnamesen starben. Zehn Jahre später erneut Anschläge: Auch wenn es diesmal vietnamesische Vertragsarbeiter der DDR und nicht Boatpeople waren, richtete sich 1991 in Hoyerswerda und 1992 in Rostock-Lichtenhagen die Gewalt wieder gegen Vietnamesen.

Anfang der 80er-Jahre lebten in Deutschland viel weniger Ausländer im Vergleich zu heute. Die Vietnamesen waren die ersten, die von außerhalb Europas kamen. „Es gab damals nicht so viele unterschiedliche Gruppen“, sagt Hong Phuc Nguyen. Dadurch sieht er die heutige Aufnahme der Flüchtlinge in Deutschland erschwert. Doch nicht nur wegen der kulturellen Unterschiede. Auch wegen der schieren Zahl und der Überforderung der Behörden kann er gut verstehen, warum viele Menschen Bedenken haben. Er ist selbst ratlos, wie man die Aufnahme von 800.000 Asylbewerbern bewältigen kann.

Nguyen kam als Neunjähriger nach Deutschland und hatte anfangs viel Mühe mit der Sprache. So musste er zuerst auf die Hauptschule, kam dann in die Realschule, schließlich aufs Gymnasium. Er studierte Wirtschaftsingenieurwesen und arbeitet jetzt bei der Deutschen Telekom.

Neudeck sieht die Integration der vietnamesischen Boatpeople als Musterbeispiel. „Die Vietnamesen zeigen, dass Integration kein Prozess sein muss, bei dem man zuzahlt, sondern bei dem man auch viel gewinnen kann“, sagt der Cap-Anamur-Gründer. „Ihre Integration hat wunderbar funktioniert, wenn wir sehen, dass viele Vietnamesen gute Jobs haben, zum Bildungsbürgertum gehören und Eltern ihre Kinder anhalten, in der Schule die Besten zu sein.“ Allerdings sei damals erleichternd hinzugekommen, dass die Bundesregierung schon 1979 entschieden hatte, Vietnamesen, die von deutschen Schiffen gerettet wurden, sofort Asyl zu gewähren. Ihnen blieben die zähen, monatelangen Anträge erspart.

„Ich hoffe, dass es dazu wieder kommen wird“, sagt Neudeck und fordert ein neues, offeneres Einwanderungssystem, wie etwa das Amerikas, das einmal im Jahr Visa verlost. „Wir müssen weg von der Vorstellung, dass das Asyl der einzige Zugang zu Deutschland ist. Ich bin überzeugt, dass wir dann ganz andere Ergebnisse sehen würden.“

Quelle: Benno Müchler, „Als Deutschland sein Herz für Boatpeople entdeckte“, Die Welt, 1. September 2015. Online verfugbar unter: https://www.welt.de/politik/deutschland/article145865929/Als-Deutschland-sein-Herz-fuer-Boatpeople-entdeckte.html

Als Deutschland sein Herz für Boatpeople entdeckte (1. September 2015), veröffentlicht in: German History Intersections, <https://germanhistory-intersections.org/de/migration/ghis:document-209> [06.12.2024].