Emine Sevgi Özdamar, „Schwarzauge und sein Esel“ (1992)

Kurzbeschreibung

Im Zuge der Debatte um die Verleihung des Ingeborg-Bachmann-Preises bat Die Zeit die Autorin Emine Sevgi Özdamar (geboren 1946 in Malatya/Türkei) um eine Stellungnahme über ihre Erfahrungen als Migrantin in Deutschland. Der folgende Text beantwortet diese Frage indirekt, indem er die Geschichte einer Bühneninszenierung als Mikrokosmos der multikulturellen Gesellschaft erzählt. Karagöz, wörtlich Schwarzauge, ist der Held und Namensgeber des türkischen Schattenspiels, das traditionell eine Bühne für soziale Satire bot.

Quelle

Mein erstes Theaterstück war „Karagöz in Alamania“, 1982. Das bedeutet in Deutsch: „Schwarzauge in Deutschland“.

Ich habe es geschrieben, weil ich den Brief eines türkischen Gastarbeiters gefun­den hatte. Ich habe diesen Gastarbeiter nicht gekannt. Er war für immer in die Türkei, in sein Dorf, zurückgekehrt.

Das Wort „Gastarbeiter“: Ich liebe dieses Wort, ich sehe vor mir immer zwei Personen, eine sitzt da als Gast, und die andere arbeitet.

Sein Brief war mit einer Schreibmaschine geschrieben. Das zweite, was mir auf­fiel, war, daß er an keiner Stelle schlecht über Deutschland sprach. Er sagte: „Ein Arbeiter hat keine Heimat, wo die Arbeit ist, da ist die Heimat.“ Er schrieb über seine Frau, die es weder in der Türkei noch in Deutschland aushalten konnte. Sie ging immer hin und her, und jedesmal war sie schwanger.

Die Frau hatte ihm in Deutschland einmal erzählt, daß sie mit seinem Onkel im Dorf in der Türkei vom gleichen Baum Kirschen gegessen hatte. Er war in die Tür­kei gefahren, 3.000 Kilometerweit, ließ seine Frau in Deutschland allein, nur, um seine Verwandten zu fragen, wer zuerst unter dem Kirschbaum gestanden hatte. Seine Frau oder sein Onkel? Wer war zum Baum gelaufen, und wer ist zu dem, der da Kirschen aß, gelaufen?

Er fragte im Dorf die Verwandten und Nachbarn. Die Sache wucherte und wucherte.

In Deutschland wurde er von türkischen maoistischen Studenten politisiert. Er verteilte mit ihnen zusammen vor einer Fabrik Flugblätter gegen die türkischen Faschisten. Die Faschisten kamen, die maoistischen Studenten verschwanden, lie­ßen ihn allein. Die türkischen Faschisten schlugen ihn ins Gesicht, sein halbes Gesicht war gelähmt. Ich konnte in seinem Brief seine türkische Sprache nicht gut verstehen. Ich wollte über ihn ein Drama schreiben und ihn nach Deutschland zur Premi­ere einladen. Ich wollte ihm zeigen, daß sein Leben ein Roman war – so wie er es auch in seinem Brief behauptet hatte. Deswegen fuhr ich mit dem Zug von Deutschland in die Türkei.

In Österreich stiegen auch Jugoslawen in den Zug, Bauarbeiter. Manche hatten ihre Finger absichtlich mit dem Hammer kaputtgeschlagen, um krank geschrieben zu werden, und fuhren mit bandagierten Händen zu ihren Frauen nach Jugosla­wien.

Es saßen Griechen, Türken und Jugoslawen zusammen im gleichen Zug, ihre gemeinsame Sprache war Deutsch. In Jugoslawien stiegen auch ein paar türkische Väter in den Zug, alte Männer. Sie waren mit leeren Särgen aus der Türkei nach Jugoslawien gekommen, um ihre toten Söhne und Töchter, die mit ihren Autos auf der Fahrt von Deutschland auf der Straße in Jugoslawien bei Autounfällen gestor­ben waren, in die Türkei zu holen. Die Väter rauchten Zigaretten, standen auf dem Zugkorridor und sprachen leise über den Weg und über ihre toten Kinder. Einer sagte: „Dieser Weg hat uns unsere fünf Seelen weggenommen.“

Die jugoslawischen Männer sangen Sehnsuchts- und Liebeslieder über ihre Frauen, zu denen sie zurückfuhren, und übersetzten diese für uns in ihrem gebro­chenen Deutsch. Wir weinten und lachten. Tagelang, so eine Fahrt.

Die Toten in den Särgen, wir zu acht im Zugabteil, die gemeinsame Sprache Deutsch. Es entstand fast ein Oratorium, und die Fehler, die wir in der deutschen Sprache machten, waren wir, wir hatten nicht mehr als unsere Fehler.

In meinem Stück „Karagöz in Alamania“ ist der Karagöz (Schwarzauge) ein tür­kischer Bauer. Er macht sich aus seinem Dorf mit seinem sprechenden Esel auf den Weg nach Deutschland und läßt seine Frau im Dorf zurück. Karagöz und der Esel erleben viele Stationen, bevor sie in Deutschland ankommen. Der Esel wird zu einem Intellektuellen, er zitiert Marx und Sokrates, trinkt Wein und raucht Camel-Zigaretten. Die Frau des Karagöz ist immer auf dem Weg zwischen der Türkei und Deutschland, weil sie es nirgendwo aushalten kann. Der Esel redet mit Karagöz’ Opel Caravan über den kommenden Krieg. Das Auto wird böse und ruft seinen Besitzer Karagöz. Karagöz schlägt seinen Esel – der Esel kriegt einen Herzinfarkt und geht mit dem jugendlichen Ebenbild des Karagöz fort, das Karagöz nicht mehr kennt. Karagöz fährt wieder mit seinem Opel Caravan. Eine unaufhörliche Reise.

Ich inszenierte „Karagöz in Alamania“ 1986 im Frankfurter Schauspielhaus. Weil meine Figuren im Stück mit ihren Geschichten und Auftritten behaupten, Stars zu sein, suchte ich auch Schauspieler und Laien, die Stars waren. Zum Bei­spiel fand ich einen älteren türkischen Arbeiter, Nihat, der früher Kebabsalonbesitzer war und ein sehr gutes Gesicht hatte, wie eine Mafiafigur. Eine wunderbare griechische Opernsängerin, deutsche, türkische, spanische Film- und Theaterstars. Wunderbare Gesichter — gute Schauspieler. Dazu hatten wir einen echten Esel, ein Schaf und drei Hühner. Das Schaf war während der Proben auf der Bühne ein schwarzes Lamm.

Am Anfang der Proben war auf der Bühne eine fast heilige Stimmung. Wir machen etwas Besonderes! Zum ersten Mal ein Theaterstück über Türken. Leise Stimmen – Liebesblicke. Langsame Bewegungen. Auch die Tiere waren miteinan­der befreundet. Esel, Schaf und Lamm schliefen im gleichen Stall nebeneinander. Die Schauspielerin, die auf sie aufpaßte, sagte: „Wie die Tiere sich lieben!“

Das dauerte eine Woche. Nach einer Woche fangen die normalen Schwierigkei­ten der Probenarbeit an.

Als die Schauspieler aufeinander böse wurden, fingen nach einer Weile die Tiere an. Der Esel trat das Schaf oder zeigte ihm die Zähne, das Schaf biß den Esel, das Lamm schrie zwischen beiden laut määää. Wir trennten die Tiere im Stall vonein­ander, damit sie sich in der Nacht nicht weiterschlugen. Der türkische Star wollte dem deutschen Star, der den Türken spielte, zeigen, wie man einen Gastarbeiter spielt. Der deutsche Star sagte zu ihm: „Du Kümmeltürke, lerne zuerst einmal richtig Englisch.“ Der türkische Star sagte zu ihm: „Du SS-Mann, you are SS-man.“

Einmal brachte die deutsche Schauspielerin, die auf die Tiere aufpaßte, das Schaf und das Lamm mit zur Probe und rief: „Wer hat hinter der Bühne auf den Kopf des Schafes gespuckt?“ Daraufhin sagte der spanische Schauspieler: „Du mit deiner deutschen Tierliebe — und die Menschen sterben in der Welt vor Hunger.“

Die deutsche Schauspielerin gab dem spanischen Schauspieler eine Backpfeife und sagte: „Du eitler Spanier.“

Ein deutscher Star begrüßte mich jeden Morgen mit den Worten: „Guten Mor­gen, Frau Chomeini.“

Nur Nihat, der ehemalige Kebabsalonbesitzer, lief zwischen den Schauspielern hin und her und rief: „Was ist hier los? Was ist hier los?“

Ein anderer türkischer Star legte eines Morgens einen Brief auf den Regietisch. Er schrieb mir, wenn ich den schwulen deutschen Star weiter mehr lieben würde als ihn, würde er bald in einer türkischen Zeitung seine Gefühle veröffentlichen.

Ich lud ihn zum Essen ein und kochte türkisch für ihn. Er aß, kritisierte mich, „das Salz fehlt“ usw., aß aber gerne, trank gezuckerten Kaffee. Dann erzählte er mir, daß sein Vater durch das ständige Gefühl, beleidigt worden zu sein, mit 36 Jahren gestorben wäre. Als der deutsche Star hörte, daß ich für ihn gekocht hatte, wollte er sich mit mir treffen. Er gab mir einen Termin um 23 Uhr in einem Lokal und kam zwei Stunden später. Er lachte und sagte: „Oh, du hast auf mich gewartet.“

Eines Tages trug eine Schauspielerin, die eine Türkin spielte, in der Probe ein Kopftuch. Ich fragte sie, warum. Ein deutscher Schauspieler hatte ihr gesagt, sie sollte zu ihrem Türkischsein stehen. Einmal biß der Esel den türkischen Star in den Nacken. Er hatte den Kopf des Esels unter seinem Arm etwas festgehalten, so, als ob der Esel sein Freund wäre, mit dem er gerade scherzte. Der deutsche Bühnen­bildner warf sich über den Esel, damit dieser den Nacken des Stars losließ. Wir brachten ihn ins Krankenhaus, wo er seine Spritze gegen Tollwut bekam. Ein tür­kischer Star sagte: „Ein türkischer Esel würde so etwas niemals tun.“ (Der Esel war ein Frankfurter Esel.) Ein deutscher Star: „Ich verstehe mich mit dem Esel gut, er würde mir so etwas nie antun.“ Dann trat ihn der Esel aber auch. Er kam zu mir und sagte: „Ich werde mit dem Esel sprechen.“

Während der Proben starb der Vater der griechischen Sängerin, ihre Mutter und ihre Großmutter, einem deutschen Star seine hundertjährige Tante. So kamen wir mit vielen Toten und vom Esel Verletzten zur Premiere.

Ich wollte den Arbeiter, dessen Brief mich dazu gebracht hatte, das Stück zu schreiben, zur Premiere einladen. Er war aber auch gestorben — auf einem Stuhl, in seinem Dorf, vor seinem Laden. Herzinfarkt, 41 Jahre alt.

Der Intendant war ein netter Mann, er liebte die Arbeit. Als eine Schauspielerin sagen mußte:

„Ich bleiben zurück -

Mein Mann Alamania

Alaman Frau ficken – bleiben“,

sagte er: „Bitte, sagen Sie das Wort nicht, sonst denken alle Deutschen, die tür­kische Poesie bestände aus solchen Wörtern.“

Daraufhin sagte die Schauspielerin in der Generalprobe: „Mein Mann, Alama­nia, Alaman Frau ficken — bleiben ...“

Vor der Premiere ließ das Theater, ohne mich vorher zu fragen, aus Liebe zu diesem Stück an die Zuschauer ein Flugblatt verteilen, in dem das Theater ver­suchte, das Stück zu erklären: „Manchmal werden Sie sich im Verlauf des Stückes fragen: Wo ist nun wo? Sind wir in der Türkei, sind wir in Alamania? ... Vielleicht haben Sie einige Mühe, sich die Szenen zu gliedern, sie sind nicht logisch geordnet wie in den uns vertrauten Theaterstücken ...“

Das ist sechs Jahre her – ich treffe immer noch Schauspieler, die dabei waren, oder sie rufen mich an. Sie erzählen dann über die anderen:

Sie hat ein Kind, wußtest du das?

Ich habe ihn in Berlin getroffen.

Sie singt gerade an der Mailänder Scala.

Hast du was von ihm gehört?

Jetzt kommt der Winter, ob sie wieder ihren langen Mantel anziehen wird?

Sie verfolgen sich wie die Liebenden.

Quelle: Emine Sevgi Özdamar, „Schwarzauge und sein Esel“, Die Zeit, 26. Februar 1993, in Transit Deutschland. Debatten zu Nation und Migration. Hrsg. Deniz Göktürk, David Gramling, Anton Kaes. München: Konstanz University Press, 2011, S. 582-585.

Emine Sevgi Özdamar, „Schwarzauge und sein Esel“ (1992), veröffentlicht in: German History Intersections, <https://germanhistory-intersections.org/de/migration/ghis:document-94> [24.10.2024].