Levent Sinirlioglu über den „Enthüllungsunternehmer“ Günter Wallraff (1987)

Kurzbeschreibung

Marginalisierung, Xenophobie und Ausbeutung—Günter Wallraffs Buch Ganz unten (1985) enthüllte die verheerenden Arbeitsbedingungen sowie den rassistisch geprägten Alltag türkischer Gastarbeiter in Deutschland. Der Erfolg des Buches katapultierte seinen Autor ins mediale Rampenlicht. Monate später warf Levent Sinirlioğlu, der seit über einem Jahrzehnt in Deutschland arbeitete und Wallraff für seine Recherchen seine Identität lieh, die Frage auf, inwieweit der Autor und der mediale Umgang die im Buch kritisierten sozialen Verhältnisse replizierte. Sinirlioğlu wurde ein weiteres Jahr später Opfer polizeilicher Willkür: die Körperinspektion, der er sich unterziehen musste, führte zur Versetzung des Beamten, nachdem Sinirlioğlu öffentlich über seine Erlebnisse berichtet hatte.

Quelle

„Vielleicht seinen Feinden ähnlich geworden”

SPIEGEL: Herr Sinirlioglu, Sie sind der Türke (Ali), der dem Enthüllungsautor Günter Wallraff für dessen nicht ungefährliche Recherchen zum Buch „Ganz unten“ den Namen lieh. So hat es Wallraff in einer Dankadresse seines Buches selber millionenfach verbreitet. Die konspirative Beziehung zwischen Ihnen beiden war so eng, daß Wallraff sie in einer türkischen Tageszeitung eine „siamesische Zwillingsgeschichte“ genannt hat. Wie denken Sie heute über ihren „Zwillingsbruder“ Wallraff?

SINIRLIOGLU: Günter Wallraff ist ein Mann mit einem Doppelgesicht. Wobei ihm das Geschäft aufhört und das politische Engagement anfängt, ist mir inzwischen schleierhaft.

SPIEGEL: Das ist ein harter Vorwurf, Herr Sinirlioglu. Aber bevor Sie uns von Ihren Erfahrungen mit Wallraff berichten: Was verbirgt sich eigentlich hinter Wallraffs merkwürdiger Formulierung, Sie hätten ihm den Namen geliehen?

SINIRLIOGLU: Wallraff brauchte für seine Tarnarbeit gültige Papiere, die Papiere eines in der Bundesrepublik lebenden Türken natürlich. Diese Papiere habe ich ihm überlassen.

SPIEGEL: Welche Papiere waren das?

SINIRLIOGLU: Wallraff trug meinen Ausweis in seiner Jacke, ist mit meinem Führerschein Auto gefahren und hat meine Arbeitserlaubnis und meine Lohnsteuerkarte benutzt.

SPIEGEL: Aber Wallraff hat doch zum Teil bei Firmen gearbeitet, denen ordentliche Papiere herzlich gleichgültig waren.

SINIRLIOGLU: So gleichgültig auch wieder nicht. Selbst wenn die Lohnsteuerkarten nur in der Schublade liegen, werden sie doch im Fall von Kontrollen schnell ausgefüllt.

SPIEGEL: War es für einen in der Bundesrepublik lebenden Türken nicht ein beträchtliches Risiko, für mehrere Monate alle Ausweispapiere aus der Hand zu geben?

SINIRLIOGLU: Das Risiko der Kollegen auf dem Schwarzarbeitsmarkt, die sich alles gefallen lassen müssen, ist weit größer. Ich würde es wieder tun.

SPIEGEL: Sie haben Wallraff aber nicht nur mit Ihren Dokumenten ausgeholfen. Sie haben für die Buchrecherchen auch Ihren Job als Taxifahrer aufgegeben und Wallraff bei seinen „Einsätzen“ begleitet.

SINIRLIOGLU: Nicht bei allen. Ich lernte Wallraff erst kennen, als er mit der Arbeit bereits begonnen hatte: bei McDonald’s am Hamburger Gänsemarkt. Aber in den Monaten danach war ich meist in seiner Nähe und stand ihm rund um die Uhr zur Verfügung.

Meine Aufgabe im Mitarbeiterstab war es vor allem, Wallraff in das illegale Leiharbeitergeschäft einzuschleusen. Da kannst du nicht einfach kommen und sagen: Gute Tag, ich Türk, such Arbeit, Kinder viel Hunger. Da kommst du nur rein, wenn du sauber bist.

SPIEGEL: Sauber sein heißt: Das Vertrauen der illegalen Arbeiter haben?

SINIRLIOGLU: Ja, und Wallraff konnte es nicht haben. Er kannte die Leute nicht, und er spricht kein Türkisch. Also habe ich es ihm in einigen Fällen besorgt, indem ich mit dem Autor durch die halbe Bundesrepublik gefahren bin, die türkischen Kollegen in ihren Kneipen angesprochen und ihnen gesagt habe, ein guter Freund bräuchte unbedingt Arbeit.

SPIEGEL: Die übelste Figur des Buches ist der Oberhausener Leiharbeiterchef Vogel alias Adler, der Arbeiter, darunter auch Wallraff alias „Ali“ Levent, an Thyssen vermittelte. Wallraff diente sich später zum Chauffeur Vogels hoch. Haben Sie ihm auch diesen Job besorgt?

SINIRLIOGLU: Ja, gemeinsam mit türkischen Freunden. Anfang August 1985 übernahm ich dann in der Rolle von Wallraffs „Bruder“ Abdullah den Job als Vogels Privatchauffeur. Wallraff begann mit dem Schreiben des Buches, ich sammelte an seiner Stelle weitere Informationen über den Arbeiterhändler.

SPIEGEL: Heißt das, daß Wallraff die in seinem Buch beschriebenen Erfahrungen als Chauffeur des Herrn Vogel nicht alle selbst gemacht hat?

SINIRLIOGLU: In „Ganz unten“ berichtet Wallraff von einer kuriosen Geschichte, die tatsächlich ich für ihn erlebt habe. Ich verspürte vor Vogels Wohnung, als ich beim Auto auf die nächste Tour wartete, einmal ein menschliches Bedürfnis.

Ich klingelte und erkundigte mich nach der Toilette. Da es aber für Herrn Vogel ganz unvorstellbar war, sein deutsches Klo von einem Türken verpesten zu lassen, schickte er mich wie einen Hund wieder vor die Tür. Na, Sie kennen die Geschichte sicher aus dem Buch.

SPIEGEL: Ist das Ihr einziger Erlebnis-Beitrag zum Enthüllungsbuch?

SINIRLIOGLU: Nein. Alle Erlebnisse, die Abdullah in „Ganz unten“ hat, sind meine Erlebnisse gewesen.

SPIEGEL: Aber von der Toilettengeschichte berichtet Wallraff in der „Ich (Ali)“-Form. Von Abdullah ist in diesem Fall keine Rede.

SINIRLIOGLU: Ich weiß, da hat er gemogelt. Vielleicht, weil er die Bonbons gerne für sich reservieren wollte, aber damit habe ich keine Probleme. Wenn Wallraff eine Arbeitsstelle verließ, hat er eben einen Nachfolger hinterlassen. In Fällen, wo so ein Mitarbeiter eine spannendere Episode erlebt hat als er selbst, wurde diese Episode im Buch der Zentralfigur „Ali“ zugeordnet. Das macht Uwe Herzog Kummer, nicht mir.

SPIEGEL: Sie meinen den Bremer Journalisten, der für sich in Anspruch nimmt, 28 Seiten von „ganz unten“ geschrieben zu haben?

SINIRLIOGLU: Ja, wir Türken haben Uwe Herzog immer den „kleinen Wallraff“ genannt, weil er den Meister bis in die Gestik nachgeahmt hat. Wir türkischen Mitarbeiter wußten von vornherein, daß wir nicht zum eigenen Ruhm dabei sein würden. Mein Gott, wer da was herausgefunden hat, ist doch wirklich egal, das Ergebnis ist entscheidend. Nebenbei gesagt: an Herzogs Stelle wäre ich zurückhaltender. Wenn er frühmorgens aus der Kneipe kam, machte sich Wallraff auf den Weg ins Thyssen-Werk.

SPIEGEL: Wallraffs Glaubwürdigkeit ist vor allem von konservativen Kritikern des Buches in Zweifel gezogen worden. Diese Kritiker werfen ihm Manipulationen vor uns behaupten, seine Reportage zeichne von den Realitäten ein zu düsteres Bild.

SINIRLIOGLU: Der Schriftsteller Wallraff hat nicht nur die menschenunwürdigen Zustände im Schwarzarbeitergeschäft absolut richtig, im Verhältnis 1:1 wiedergegeben. Ich kann auch die Richtigkeit aller anderen Schilderungen im Buch bezeugen.

SPIEGEL: Was werfen sie Wallraff dann überhaupt vor?

SINIRLIOGLU: Ich werfe dem Schriftsteller Wallraff gar nichts vor. Ich greife die Institution Wallraff an. Das ist der Punkt. Nach dem Erfolg des Buches habe ich Wallraff nur noch als Institution erlebt, die sich vor ihrer politischen Verantwortung davonstehlen wollte und mit den engsten Mitarbeitern ein übles Spiel trieb.

SPIEGEL: Als Firma Enthüllung & Co.?

SINIRLIOGLU: Als die Firma Enthüllung ohne Co.! Denn daß er Mitarbeiter hatte, wußte er plötzlich nicht mehr. Und die, die ihr Recht von ihm verlangten, hat er auf seine Weise genauso willkürlich behandelt, wie es auch der Leiharbeiterchef Vogel getan hat. Die meisten haben dabei den Durchblick verloren, wofür die Institution Wallraff eigentlich stand: für politische Aufklärung und soziale Gerechtigkeit oder für schräge Geschäfte?

SPIEGEL: Was meinen Sie damit?

SINIRLIOGLU: Sprechen wir zunächst über sein Verhalten in Geldangelegenheiten. Wallraff präsentiert sich in der Öffentlichkeit als ein Verfechter der Gleichheit und Demokratie, aber ungleicher und undemokratischer als er kann man seine Mitarbeiter nicht behandeln.

Er verdiente mit seinem Buch über acht Millionen, wir wurden zur Verwendung des Geldes nicht befragt. Und die Bezahlung seiner Leute regelte Wallraff wie jeder andere Chef, der billig davonkommen will.

SPIEGEL: Können Sie Beispiele nennen?

SINIRLIOGLU: Einigen von uns wurde eine Erklärung vorgelegt, mit der sie alle Ansprüche auf ein Honorar aus dem Film „Ganz unten“ abtraten. Sie unterschrieben und wurden mit 200 oder 300 Mark abgespeist. Von einem anderen weiß ich, daß ihm acht Monate nach Erscheinen des Buches ein mit der ominösen Notiz „Du verstehst schon“ versehener Scheck über 5000 Mark von Wallraff ins Haus flatterte. Oder nehmen Sie das Beispiel des Photographen Hinrich Schultze, der ein halbes Jahr lang an Wallraffs versteckter Kamera gebastelt hatte und dann dreieinhalb Monate für ihn bei McDonald’s war.

Ein Teil der Ergebnisprotokolle über McDonald’s in „Ganz unten“ stammen von Hinrich. Aber er wird noch nicht einmal in der Danknotiz Wallraffs an 28 „Freunde und Mitarbeiter“ in „Ganz unten“ erwähnt und bekam bis heute ganze 2000 Mark. Der Wallraff-Mitarbeiter Uwe Herzog dagegen dürfte wohl 100 000 Mark erhalten haben. Ich frage Sie: Nach welchen Maßstäben hat Wallraff diese krassen Unterschiede gemacht?

SPIEGEL: Was meinen Sie denn selbst?

SINIRLIOGLU: Ich habe einen deprimierenden Verdacht. Den Verdacht, daß er seine deutschen Mitarbeiter bewußt besser bezahlt hat. Das waren journalistische Profis wie Herzog, und dieser harte Kern der Geldverdiener bestand aus fünf oder sechs Leuten. Mit ihnen handhabte Wallraff die Sache professionell. Uns Türken gegenüber wählte er eine andere Sprache: die Sprache des politischen Engagements.

SPIEGEL: Aber der schlechtbezahlte Mitarbeiter, der für Wallraff die versteckte Kamera gebaut hat, war doch ein deutscher Kollege.

SINIRLIOGLU: Ja, aber ein so stiller und anständiger, daß Wallraff wohl gedacht hat, mit ihm könne er wie mit einem an Bescheidenheit gewöhnten Türken umspringen. Mir hat dieser deutsche Kollege einmal gesagt, er fühle sich wie Wallraffs Privat-Türke.

SPIEGEL: Wieviel haben Sie bekommen?

SINIRLIOGLU: Unter den Türken war ich der Großverdiener. Insgesamt habe ich von Wallraff 20 000 Mark Arbeitslohn bekommen. Als er mir allerdings irgendwann während der Arbeit am Buch beim Auszahlen meines Lohns die Frage stellte, ob ich vielleicht einige Wochenendfahrten zu meiner Familie nach Hamburg dazu genutzt hätte, mir durch Taxifahren einen zusätzlichen Verdienst zu verschaffen, habe ich ihm die Scheine auf den Tisch geknallt.

SPIEGEL: Worauf wollte er Ihrer Meinung nach mit der Frage hinaus?

SINIRLIOGLU: Er dachte wohl, wenn ich mir am Wochenende auf andere Weise Geld verdiente, wonach mir damals übrigens nicht der Sinn stand, könnte er mir das vom Lohn abziehen.

SPIEGEL: Beim Arbeitslohn von 20 000 Mark ist es geblieben?

SINIRLIOGLU: Nein, als die Auflage bei ungefähr 600 000 war, teilte er mir ungefragt mit, er wolle mir ein Sonderhonorar spendieren. Solche Versprechungen hat er vielen von uns gemacht. Drei Monate nach dem Erscheinen, die Auflage war über eine Million geklettert, fragte ich ihn, was er mit dem Sonderhonorar gemeint habe. 10 000 Mark, schlug er vor. Bei dieser Auflage fand ich aber 30 000 Mark angemessener; er dachte wohl, es hätte schlimmer kommen können, und war sofort einverstanden.

Von dieser Summe habe ich 9100 Mark für einen politischen Zweck gespendet. Außerdem mußte ich für Wallraff einige Sonderleistungen erbringen, auf die ich aber nicht eingehen will.

SPEIGEL: Warum nicht?

SINIRLIOGLU: Weil ich keine schmutzige Wäsche waschen möchte.

SPIEGEL: Inzwischen bewegt sich die Auflage bei 2,75 Millionen. Haben Sie noch finanzielle Forderungen an Wallraff?

SINIRLIOGLU: Nein. Als ich sah, wie auch noch der Film „Ganz unten“ kommerzialisiert wurde, habe ich mich mit einem Anwalt beraten, was mir und meinen Freunden zusteht; wir wollten uns nicht für dumm verkaufen lassen. Aber juristisch war nichts zu machen. Einigen Freunden ist Wallraff trotzdem noch etwas schuldig. Mir persönlich sind diese Geldangelegenheiten längst zuwider, und manchmal träume ich davon, daß ich im Lotto gewinne und als erstes 50 000 Mark an Wallraff überweise.

SPIEGEL: Hätten Sie die Methoden der Firma Wallraff nicht früher erkennen und Ihre Mitarbeit aufkündigen können?

SINIRLIOGLU: Wir haben uns aus politischer Überzeugung an dem Unternehmen beteiligt. Diese Überzeugung nutzte Wallraff aus, indem er uns, wenn es an die Bezahlung ging, immer wieder an die „Sache“ erinnerte. Das hat auch mich für die Tricks der Firma Wallraff lange blind gemacht. Während aber Wallraff mit der „gemeinsamen Sache“ seine Taschen füllte, stehen viele von uns nach wie vor auf dem Sozialamt und sind zur Schwarzarbeit gezwungen.

Als ich den Arbeiterfeind Vogel durch die Gegend kutschierte, sagte er einmal: „Fünf Mark die Stunde sind viel Geld für einen Türken.“ Vielleicht ist der Arbeiterfreund Wallraff seinen Feinden ähnlich geworden.

SPIEGEL: Tun Sie ihm da nicht Unrecht? Wallraff hat doch immerhin 1,7 Millionen Mark aus dem Verkaufserlös des Buches für die Duisburger Stiftung „Zusammen-Leben“ abgezweigt.

SINIRLIOGLU: Dieses berühmte Wohnprojekt in der Flurstraße ist auch so eine total undurchsichtige Sache. Er war immer sehr einsilbig, wenn wir ihn danach fragten.

Ich glaube ihm kein Wort mehr bezüglich des Wohnprojekts und fordere Günter Wallraff hiermit auf, die ganze Geschichte und auch den sogenannten Hilfsfonds Ausländer-Solidarität durch eine unabhängige Kommission untersuchen zu lassen.

SPIEGEL: Wollen Sie denn auch bestreiten, daß Günter Wallraff sich ganz praktisch für Ausländer eingesetzt und sich beispielsweise mit Erfolg gegen Abschiebungen gewandt hat?

SINIRLIOGLU: Kurz nach Erscheinen des Buches hat es ein paar Initiativen dieser Art gegeben. Durch Mobilisierung der Öffentlichkeit hat Wallraff hier einmal eine Abschiebung verhindern können und dort dazu beigetragen, daß einige Ausländer bei Thyssen fest eingestellt wurden. Das hat nach wenigen Monaten nachgelassen, von der Mobilisierung blieb nur noch die Werbung für sein Buch und den gleichnamigen Film übrig.

SPIEGEL: In meist überfüllten Sälen gab es ungezählte Versammlungen über das Buch. Wie liefen sie ab?

SINIRLIOGLU: Nicht etwa, weil Wallraff mich dazu eingeladen hat, sondern um mir selbst ein Bild zu machen, war ich einige Male dabei. Wallraff kam fast immer eine halbe Stunde zu spät in den Saal: „wegen Prozessen“ oder „weil ich gerade eine Abschiebung verhindert habe“. Dann las er regelmäßig sehr lange aus seinem Buch vor, obwohl es doch beinahe jeder im Saal kannte.

SPIEGEL: Anschließend wurde aber diskutiert?

SINIRLIOGLU: Offenen Diskussionen darüber, wie man die entstandene Solidarität nützen könnte, um z.B. über den Zusammenhang von Ausländergesetz und Schwarzarbeit aufzuklären und die ungerechten Bestimmungen abzuschaffen, ging Wallraff aus dem Weg. Er antwortete lieber auf Fan-Fragen wie „Hatten Sie keine Angst, entdeckt zu werden?“ Es war meist eine reine Personality-Show.

SPIEGEL: Saßen Sie mit auf dem Podium?

SINIRLIOGLU: Nein, bei diesen Selbstdarstellungen wäre ich wohl ein Störfaktor gewesen. Aber ab und zu hat er türkische Kollegen von Thyssen mitgenommen, die er dann wie Koffer bei sich hatte. Denn diese Kollegen konnten kaum deutsch und ihre Rolle beschränkte sich darauf, mit dem Kopf zu nicken, wenn der weiße Mann etwas sagte.

SPIEGEL: Wie ist das Echo der türkischen Öffentlichkeit auf „Ganz unten“ gewesen? Es gab ja schon gleich nach der deutschen Ausgabe einen Vorabdruck in einer türkischen Zeitung und dann die türkische Übersetzung des Buches.

SINIRLIOGLU: Wir sind ein Volk, das schnell zu begeistern ist. Liselotte Funcke, die Ausländerbeauftragte der Bundesregierung, wird in der türkischen Presse seit langem als „Mutter der Türken“ gefeiert. In Günter Wallraff haben unsere Journalisten endlich den Vater der Türken gefunden.

Am 12. Mai 1986 erschien in der Zeitung „Millyet“ ein Interview mit Günter Wallraff. Als Autor von „Ganz unten“ habe er nur seine Pflicht getan, sagt er da und behauptet ganz unverfroren, von den damals 3,5 Millionen Gewinn aus dem Buch habe er 3 Millionen für seinen Ausländer-Hilfsfonds beiseite gelegt. Nebenbei teilt der türkische Reporter dem staunenden Publikum mit, daß der berühmte Deutsche sich in seiner Heimat mit einer winzigen Drei-Zimmer-Wohnung bescheidet, daß er nur in zerschlissenen Blue-Jeans und ausgetretenen Turnschuhen herumläuft und einen fast schrottreifen Wagen aus dem Baujahr 1977 fährt. So viele „Druckfehler“ auf engstem Raum habe ich noch in keiner Zeitung gelesen.

SPIEGEL: Muß Wallraff nicht befürchten, daß sich seine ehemaligen türkischen Mitarbeiter gegen ihn solidarisieren?

SINIRLIOGLU: Seit Wallraff merkt, daß die öffentliche Kritik an seinen Praktiken lauter wird, versucht er fieberhaft, vor allem die türkischen Kollegen umzustimmen. Jetzt winkt er sogar mit Geld. Mich haben zwei wichtige Mitarbeiter des Buches beziehungsweise des Filmes „Ganz unten“, Mehmet Ipek und Taner Aday, aus Duisburg angerufen und erzählt, daß Wallraff sich nach langer Zeit durch einen Mittelsmann bei ihnen gemeldet habe und anfragen ließ, ob er ihnen vielleicht noch Geld schulde oder ob sie andere Wünsche an ihn hätten.

Wenn wir wieder unter uns Kollegen über Wallraff reden, fallen Ausdrücke, die nicht zitierfähig sind. Wir sind der Meinung, daß wir unten geblieben sind, während Wallraff jetzt oben ist.

SPIEGEL: Hat der Erfolg des Buches die Türken nicht wenigstens ermutigt, für ihre Interessen aktiver einzutreten und sich nicht länger einschüchtern zu lassen?

SINIRLIOGLU: Bei einigen hat es sicher diese Wirkung gehabt. Aber bei vielen von meinen Landsleuten hat die soziale Wirklichkeit das Gefühl der Erleichterung wieder verdrängt. Das ist natürlich nicht Günter Wallraff vorzuwerfen. Wohl aber werfe ich ihm vor, daß er durch sein ganzes Verhalten nach dem Erscheinen des Buches den Türken sie selbständige Vertretung ihrer Interessen eher erschwert hat.

SPIEGEL: Glauben Sie, daß „Ganz unten“ die Einstellung der Deutschen zu den Ausländern verändert hat?

SINIRLIOGLU: Die Deutschen werden mehr über die dort beschriebene Ausländerfeindlichkeit wissen, nachdem fast drei Millionen das Buch inzwischen erworben haben. Das freut mich. Sicher gehörte zu den Motiven der Käufer auch wirkliches Interesse am Leben von „Gastarbeitern“. Für viele jedoch wird es wohl nur ein preiswertes Alibi fürs Bücherregal gewesen sein.

Aber auch wenn sich in den Köpfen der Menschen einiges geändert hat, bleibt im Alltag der Betriebe und Wohnviertel doch fast alles beim alten.

Die Arbeiterverleiher sind zwar vorsichtiger geworden als vor „Ganz unten“, aber es gibt heute nicht weniger, sondern mehr Verleihfirmen als vorher. Als das Buch ein Jahr auf dem Markt war, habe ich zwei Monate lang recherchiert, um herauszufinden, ob sich was geändert hat. In Bayern habe ich bei der Salat-Ernte und bei Mercedes-Benz schwarz gearbeitet. Von veränderten Einstellungen bei den Deutschen habe ich nichts gemerkt.

SPIEGEL: Was sagen Sie, wenn Wallraff Ihnen vorwirft, Ihre Kritik an ihm spiele seinen reaktionären Gegnern in die Hände, sei also eine „rechte“ Kritik?

SINIRLIOGLU: Die Aufenthaltserlaubnis muß ich mir bei der Ausländerbehörde holen, die Arbeitserlaubnis beim Arbeitsamt. Soll ich mir die Erlaubnis, ein Linker zu sein, jetzt bei der Institution Wallraff abholen? Nein, diesen Vorwurf traue ich Wallraff nicht zu, so hat nur Stalin seine Kritiker mundtot gemacht. Wenn die Rechten gegen Wallraff hetzen, werde ich natürlich auch in Zukunft an seiner Seite stehen. Denn eines ist sicher: Sie schlagen Wallraff und meinen uns.

SPIEGEL: Im vergangenen Jahr hat Wallraff die Medien von seinem Umzug nach Holland informiert: Er wolle sich vor Haussuchungen, Bespitzelungen und anderen Nachstellungen in Sicherheit bringen. Wie denken Sie darüber?

SINIRLIOGLU: Ich glaube, daß es eine weniger dramatische Erklärung gibt: Wallraff war der Verantwortung gegenüber den Türken nicht mehr gewachsen.

SPIEGEL: Wäre denn nicht jeder andere in Wallraffs Lage genauso überfordert, der über Monate hinweg pausenlos Anfragen und Hilferufe von Türken bekommt?

SINIRLIOGLU: Der Punkt ist doch, daß sich Wallraff in genau diese Lage selbst gebracht hat, indem er sich immer als Einzelkämpfer hat feiern lassen. Natürlich kann ein einzelner das gar nicht leisten. Aber er hätte ja nicht allein zu sein brauchen.

Aus der Geschichte der Duisburger Ausländersolidaritätsbüros können Sie ersehen, wie gleichgültig Wallraff die Solidaritätsarbeit in Wirklichkeit war. An Geld und Mitarbeitern hat es ihm nicht gefehlt. Aber er hat seinen persönlichen Ruhm und Erfolg über alles gestellt.

Wissen Sie, ich kenne so viele Menschen, die mit 20 Jahren in die Bundesrepublik gekommen sind und mit 40 Jahren und einer kaputten Gesundheit wieder weggegangen sind. Gerade Wallraffs Buch hat gezeigt, wie sie um ihr Leben betrogen werden.

Wahrscheinlich leidet auch Günter Wallraff unter diesen Zuständen. Aber gleichzeitig ist er wohl viel mehr als er sich selber eingesteht vom Erfolgsdenken dieser Gesellschaft geprägt.

Quelle: „Interview mit dem Türken Levent Sinirlioglu über den Enthüllungsunternehmer Günter Wallraff“, Der Spiegel, Nr. 25/1987, S. 188–97.

Levent Sinirlioglu über den „Enthüllungsunternehmer“ Günter Wallraff (1987), veröffentlicht in: German History Intersections, <https://germanhistory-intersections.org/de/migration/ghis:document-116> [06.12.2024].