Das „Kopftuchurteil“ des Bundesverfassungsgerichts (24. September 2003)

Kurzbeschreibung

Die Klägerin Fereshta Ludin (geb. 1972 in Kabul) ist eine deutsche Pädagogin afghanischer Herkunft. Nach diesem so genannten „Kopftuchurteil“ regelte Baden-Württemberg das Schulgesetz auf Landesebene wie folgt: „Lehrkräfte an öffentlichen Schulen nach § 2 Abs. 1 dürfen in der Schule keine politischen, religiösen, weltanschaulichen oder ähnliche äußeren Bekundungen abgeben, die geeignet sind, die Neutralität des Landes gegenüber Schülern und Eltern oder den politischen, religiösen oder weltanschaulichen Schulfrieden zu gefährden oder zu stören.“ Seit dem Scheitern ihres Versuchs, in öffentlichen Schulen zu arbeiten, unterrichtet Ludin an der staatlich anerkannten Islamischen Grundschule Berlin.

Quelle

Das Bundesverfassungsgericht zum Verbot für Lehrkräfte, in Schule und Unterricht ein Kopftuch zu tragen

[] Die Beschwerdeführerin begehrt die Einstellung in den Schuldienst des Lan­des Baden-Württemberg. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde wendet sie sich gegen die von den Verwaltungsgerichten bestätigte Entscheidung des Oberschulamts Stuttgart, durch die ihre Berufung in ein Beamtenverhältnis auf Probe als Lehrerin an Grund- und Hauptschulen mit der Begründung abgelehnt worden ist, ihr fehle wegen der erklärten Absicht, in Schule und Unterricht ein Kopftuch zu tragen, die für das Amt erforderliche Eignung. []

Die 1972 in Kabul/Afghanistan geborene Beschwerdeführerin lebt seit 1987 ununterbrochen in der Bundesrepublik Deutschland und hat 1995 die deutsche Staatsangehörigkeit erworben. Sie ist muslimischen Glaubens. Nach Ablegung der Ersten Staatsprüfung und Ableistung des Vorbereitungsdienstes bestand die Beschwerdeführerin 1998 die Zweite Staatsprüfung für das Lehramt an Grund- und Hauptschulen mit dem Schwerpunkt Hauptschule und den Ausbildungsfächern Deutsch, Englisch und Gemeinschaftskunde/Wirtschaftslehre. []

Den Antrag der Beschwerdeführerin auf Einstellung in den Schuldienst an Grund- und Hauptschulen des Landes Baden-Württemberg lehnte das Oberschul­amt Stuttgart wegen mangelnder persönlicher Eignung ab. Zur Begründung wurde ausgeführt, die Beschwerdeführerin sei nicht bereit, während des Unterrichts auf das Tragen eines Kopftuchs zu verzichten. Das Kopftuch sei Ausdruck kultureller Abgrenzung und damit nicht nur religiöses, sondern auch politisches Symbol. Die mit dem Kopftuch verbundene objektive Wirkung kultureller Desintegration lasse sich mit dem Gebot der staatlichen Neutralität nicht vereinbaren.

[] In ihrem Widerspruch machte die Beschwerdeführerin geltend, das Tragen des Kopftuchs sei nicht nur Merkmal ihrer Persönlichkeit, sondern auch Ausdruck ihrer religiösen Überzeugung. Nach den Vorschriften des Islam gehöre das Kopftuchtragen zu ihrer islamischen Identität. Die Ablehnungsentscheidung verletze das Grundrecht auf Religionsfreiheit nach Art. 4 Abs. 1 und 2 GG. Trotz der Verpflichtung des Staates, in Glaubensfragen Neutralität zu bewahren, müsse er bei der Erfüllung des Erzie­hungsauftrags nach Art. 7 Abs. 1 GG nicht völlig auf religiös-weltanschauliche Bezüge verzichten, sondern habe einen schonenden Ausgleich zwischen den wider­streitenden Interessen zu ermöglichen. Anders als beim Kruzifix handele es sich beim Kopftuch nicht um ein Glaubenssymbol. Zudem gehe es hier um ihr indivi­duelles und religiös motiviertes Handeln als Grundrechtsträgerin. []

Auch wenn dem Oberschulamt Stuttgart zufolge die Beschwerdeführerin nicht für ihre Glaubensüberzeugung missioniere, bringe sie doch durch das Tragen des Kopftuchs während des Unterrichts jederzeit und ohne dass sich die Schüler dem entziehen könnten, ihre Zugehörigkeit zum Islam zum Ausdruck; damit zwinge sie die Schüler, sich mit dieser Glaubensäußerung auseinander zu setzen. Als junge Menschen mit noch nicht gefestigter Persönlichkeit seien sie für Einflüsse jeder Art in besonderer Weise offen. Maßgeblich sei insoweit allein die objektive Wirkung des Kopftuchs. Gerade für Schülerinnen muslimischen Glaubens könne hier ein erheblicher Anpassungsdruck entstehen; das widerspräche dem pädagogischen Auftrag der Schule, auf Integration der muslimischen Schülerinnen und Schüler hinzuwirken. []

Ebenso wie beim Kruzifix im Klassenzimmer sei es dem Bundesinnenministe­rium zufolge beim muslimischen Kopftuch maßgeblich, dass aufgrund der allge­meinen Schulpflicht – anders als bei einer flüchtigen Begegnung im Alltagsleben – die dauernde Konfrontation mit einem religiösen Symbol unausweichlich sei. Die Eigenschaft der Beschwerdeführerin als Grundrechtsträgerin ändere nichts daran, dass das von ihr verwendete Symbol dem Staat zuzurechnen sei. Allerdings sei bei der Abwägung zu berücksichtigen, dass mit dem Tragen des religiösen Sym­bols gleichzeitig auch ein Grundrecht ausgeübt werde. []

Bei der Beurteilung der Frage, ob einer bestimmten Bekleidung oder anderen äußeren Zeichen ein religiöser oder weltanschaulicher Aussagegehalt nach Art eines Symbols zukommt, ist die Wirkung des verwendeten Ausdrucksmittels ebenso zu berücksichtigen wie alle dafür in Betracht kommenden Deutungsmöglichkeiten. Das Kopftuch ist – anders als das christliche Kreuz [] - nicht aus sich heraus ein religiöses Symbol. [] Das von Musliminnen getragene Kopftuch wird als Kürzel für höchst unterschiedliche Aussagen und Wertvorstellungen wahrgenommen. []

[D]ie Forschungsergebnisse zeigen jedoch, dass angesichts der Vielfalt der Motive die Deutung des Kopftuchs nicht auf ein Zeichen gesellschaftlicher Unter­drückung der Frau verkürzt werden darf. Vielmehr kann das Kopftuch für junge muslimische Frauen auch ein frei gewähltes Mittel sein, um ohne Bruch mit der Herkunftskultur ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Auf diesem Hintergrund ist nicht belegt, dass die Beschwerdeführerin allein dadurch, dass sie ein Kopftuch trägt, etwa muslimischen Schülerinnen die Entwicklung eines den Wertvorstellun­gen des Grundgesetzes entsprechenden Frauenbildes oder dessen Umsetzung im eigenen Leben erschweren würde. []

Solange keine gesetzliche Grundlage besteht, aus der sich mit hinreichender Bestimmtheit ablesen lässt, dass für Lehrer an Grund- und Hauptschulen eine Dienstpflicht besteht, auf Erkennungsmerkmale ihrer Religionszugehörigkeit in Schule und Unterricht zu verzichten, ist auf der Grundlage des geltenden Rechts die Annahme fehlender Eignung der Beschwerdeführerin mit Art. 33 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 4 Abs. 1 und 2 GG und Art. 33 Abs. 3 GG nicht vereinbar. Die mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen Entscheidungen verletzen des­halb die in diesen Vorschriften gewährleistete Rechtsposition der Beschwerdeführerin. Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts ist aufzuheben und die Sache an das Bundesverwaltungsgericht zurückzuverweisen [].

Diese Entscheidung ist mit fünf gegen drei Stimmen ergangen.

[Zustimmende Richter:] Hassemer, Sommer, Broß, Osterloh, Lübbe-Wolf

Abweichende Meinung: der Richter Jentsch, Di Fabio und Mellinghoff.

[]

Quelle: BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 24. September 2003 - 2 BvR 1436/02 - Rn. (1-138), http://www.bverfg.de/e/rs20030924_2bvr143602.html

Das „Kopftuchurteil“ des Bundesverfassungsgerichts (24. September 2003), veröffentlicht in: German History Intersections, <https://germanhistory-intersections.org/de/migration/ghis:document-97> [01.12.2023].