Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Schlachten von Tieren ohne Betäubung (Schächten) (2002)

Kurzbeschreibung

In Deutschland war die im Islam und Judentum vorgeschriebene rituelle Schlachtmethode des Schächtens lange Zeit weitgehend verboten. Nach dem Tierschutzgesetz dürfen warmblütige Tiere nicht ohne vorherige Betäubung geschlachtet werden. Anfang 2002 ließ das Bundesverfassungsgericht das rituelle Schlachten im Hinblick auf die Religionsfreiheit unter bestimmten Voraussetzungen zu. Im Mittelpunkt dieser Entscheidung steht die Berufsfreiheit, die in Artikel 12 Absatz 1 des Grundgesetzes gewährleistet ist.

Quelle

[] Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Erteilung von Ausnahmegenehmigungen für das so genannte Schächten, das heißt das Schlachten warmblütiger Tiere ohne vorherige Betäubung.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war in Deutschland das Schächten als Schlachtmethode nach jüdischem Ritus weithin erlaubt []. Die einschlägigen Regelungen sahen dafür überwiegend Ausnahmen vom prinzipiellen Verbot des Schlachtens ohne Betäubung vor. Nachdem der Nationalsozialismus im Deutschen Reich an die Macht gekommen war, gingen immer mehr Länder dazu über, das Schächten zu verbieten. Deutschlandweit wurde der Zwang, warmblütige Tiere vor der Schlachtung zu betäuben, durch das Gesetz über das Schlachten von Tieren vom 21. April 1933 [] eingeführt, das nach den Feststellungen des Bundesgerichtshofs das Ziel verfolgte, den jüdischen Teil der Bevölkerung in seinen religiösen Empfindungen und Gebräuchen zu verletzen []. Ausnahmen vom Schächtverbot wurden nur noch für Notschlachtungen zugelassen.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde das Schächten, soweit es nicht durch landesrechtliche Vorschriften ausdrücklich wieder zugelassen worden war, meist stillschweigend geduldet []. Eine bundesweite Regelung zum religiös motivierten betäubungslosen Schlachten wurde aber erst mit der Aufnahme des Schlachtrechts in das Tierschutzgesetz [] getroffen. Seit dem In-Kraft-Treten des Ersten Gesetzes zur Änderung des Tierschutzgesetzes vom 12. August 1986 [] enthält § 4a TierSchG in Ansatz 1 das grundsätzliche Verbot, warmblütige Tiere ohne vorherige Betäubung zu schlachten. Absatz 2 Nr. 2 sieht jedoch die Möglichkeit vor, aus religiösen Gründen Ausnahmegenehmigungen zu erteilen. []

Der Beschwerdeführer ist türkischer Staatsangehöriger und nach seinen – im Verfahren nicht bestrittenen – Angaben strenggläubiger sunnitischer Muslim. Er lebt seit 20 Jahren in der Bundesrepublik Deutschland und betreibt in Hessen eine Metzgerei, die er 1990 von seinem Vater übernahm. Für die Versorgung seiner muslimischen Kunden erhielt er bis Anfang September 1995 Ausnahmegenehmigungen für ein Schlachten ohne Betäubung nach § 4 a Abs. 2 Nr. 2 TierSchG. Die Schlachtungen nahm er in seinem Betrieb unter veterinärärztlicher Aufsicht vor. Für die Folgezeit stellte der Beschwerdeführer weitere Anträge auf Erteilung solcher Genehmigungen. Sie blieben im Hinblick auf das [] Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 15. Juni 1995 erfolglos. []

Auch die Berufsfreiheit des Beschwerdeführers sei verletzt. Er sei zwar türkischer Staatsbürger, besitze aber eine – zeitlich wie räumlich unbeschränkte – Aufenthaltsberechtigung und sei im Hinblick auf die Dauer seines Aufenthalts in der Bundesrepublik Deutschland hier so verwurzelt, dass ihm als De-facto-Deutschem hinsichtlich seiner beruflichen Tätigkeit als Metzger nicht nur der Schutz des Art. 2 Abs. 1 GG, sondern ein Grundrechtsschutz zu gewähren sei, der demjenigen des Art. 12 Abs. 1 GG gleichwertig sei.

Bei der Tätigkeit eines muslimischen Metzgers handele es sich um einen eigenständigen Beruf, weil zu dessen Ausübung Qualifikationen erforderlich seien, die ein normaler Schlachter nicht haben müsse. Dies betreffe nicht nur die Durchführung des Schächtschnitts selbst, der schnell und sauber vorgenommen werden müsse, damit das Schlachttier nicht unnötig leide. Berufsbildprägend seien vielmehr auch religiöse Handlungen wie die Anrufung Allahs.

Das Schächtverbot wirke sich für den Beschwerdeführer praktisch als Berufsverbot und damit als objektive Berufswahlbeschränkung aus. Er werde sich einen neuen Beruf suchen müssen, wenn die angegriffenen Entscheidungen Bestand hätten und ihm eine Ausnahmegenehmigung für immer versagt bleibe. Ein so weit reichender Eingriff könne verfassungsrechtlich nur gerechtfertigt werden, wenn er der Abwehr nachweisbarer oder höchstwahrscheinlich schwerer Gefahren für ein überragend wichtiges Gemeinschaftsgut diene. Das sei aber hier nicht der Fall. []

Der Zentralrat der Muslime in Deutschland betont die große Bedeutung des Tierschutzes im Islam und führt aus, das betäubungslose Schächten sei den Muslimen als wesentlicher Bestandteil der Religionsausübung zwingend vorgeschrieben. Diese Auffassung wird von allen bedeutsamen islamischen Gruppierungen in Deutschland geteilt. Soweit in einem Gutachten der Al-Azhar-Universität von Kairo davon die Rede sei, dass Muslime auch das Fleisch nicht geschächteter Tiere verzehren dürfen, gelte dies nur für Notsituationen. Eine solche sei für Muslime in Deutschland nicht gegeben. Das Prinzip der Gleichbehandlung mit jüdischen Gläubigen gebiete die Genehmigung des Schächtens nach § 4 a TierSchG auch für Muslime.

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Die angegriffenen Behörden- und Gerichtsentscheidungen verletzen das Grundrecht des Beschwerdeführers aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 4 Abs. 1 und 2 GG. Die Behörden und die Verwaltungsgerichte haben die Notwendigkeit und die Möglichkeit einer verfassungsmäßigen Auslegung des § 4 a Abs. 2 Nr. 2 Alternative 2 TierSchG verkannt und sind daher bei der Anwendung der Ausnahmeregelung vom Schächtverbot zu einer unverhältnismäßigen Beschränkung des genannten Grundrechts gelangt. []

Diese Entscheidung ist einstimmig ergangen.

Richter: Jaeger, Haas, Hömig, Steiner, Hohmann-Dennhardt, Hoffmann-Riem, Bryde.

Quelle: Leitsätze zum Urteil des Ersten Senats vom 15. Januar 2002, 1 BvR 1783/9, http://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2002/01/rs20020115_1bvr178399.html

Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Schlachten von Tieren ohne Betäubung (Schächten) (2002), veröffentlicht in: German History Intersections, <https://germanhistory-intersections.org/de/migration/ghis:document-96> [06.12.2024].