Jakob von Uexküll, Streifzüge durch die Umwelten von Tieren und Menschen: ein Bilderbuch unsichtbarer Welten (1934)
Kurzbeschreibung
Jakob Uexküll (1864-1944), ein estnisch-deutscher Biologe, der die darwinistische Biologie ablehnte, prägte den Begriff „Umwelt“ und leitete das Hamburger Institut für Umweltforschung von 1925 bis 1940. Dieser Abschnitt stammt aus einer seiner Veröffentlichungen in einer wissenschaftlichen Artikelserie für die allgemeine Öffentlichkeit: Hier erläutert er seine Idee, dass die Wahrnehmungswelt eines Wesens der Ausgangspunkt für ein biologisches Verständnis sein müsse. Uexkülls Einfluss reichte über die Biologie hinaus bis in die Werke Heideggers und nachfolgender Philosophen und Semiotiker. Zugleich stand er aber auch in enger Verbindung mit dem in Großbritannien geborenen „völkischen“ deutschen Schriftsteller Houston Stewart Chamberlain und war 1933 Mitunterzeichner der „Kundgebung der deutschen Wissenschaft“ von deutschen Professoren für Hitler.
Quelle
Vorwort
Vorliegendes Büchlein erhebt nicht den Anspruch, als Leitfaden in eine neue Wissenschaft zu dienen. Es enthält eher das, was man die Beschreibung eines Spazierganges in unbekannte Welten nennen könnte. Diese Welten sind nicht bloß unbekannt, sondern auch unsichtbar, ja mehr als das, ihre Daseinsberechtigung wird ihnen von vielen Zoologen und Physiologen überhaupt abgesprochen.
Diese jeden Kenner jener Welten sonderbar anmutende Behauptung wird dadurch verständlich, daß der Zugang zu den Welten sich nicht jedem erschließt, ja daß gewisse Überzeugungen geeignet sind, das Tor, welches den Eingang zu ihnen bildet, so fest zu verrammeln, daß nicht ein Lichtstrahl von all dem Glanz, der über die Welten gebreitet liegt, hervordringen kann.
Wer an der Überzeugung festhalten will, daß alle Lebewesen nur Maschinen sind, gebe die Hoffnung auf, jemals ihre Umwelten zu erblicken.
Wer aber noch nicht auf die Maschinentheorie der Lebewesen eingeschworen ist, möge Folgendes bedenken. Alle unsere Gebrauchsgegenstände und Maschinen sind nichts anderes als Hilfsmittel des Menschen. Und zwar gibt es Hilfsmittel des Wirkens – die sogenannten Werkzeuge, zu denen alle großen Maschinen gehören, die in unseren Fabriken der Bearbeitung der Naturerzeugnisse dienen, ferner alle Eisenbahnen, Autos und Flugzeuge. Es gibt aber auch Hilfsmittel des Merkens, die man Merkzeuge nennen kann, wie Teleskope, Brillen, Mikrophone, Radioapparate u. s. f.
Es liegt nun nahe anzunehmen, ein Tier sei nichts anderes als eine Auswahl geeigneter Merkzeuge und Werkzeuge, die durch einen Steuerapparat zu einem Ganzen verbunden sind, das zwar immer noch Maschine bliebe, aber trotzdem geeignet wäre, die Lebensfunktionen eines Tieres auszuüben. Dies ist in der Tat die Ansicht aller Maschinentheoretiker, mögen sie beim Vergleich mehr an starre Mechanismen oder plastische Dynamismen denken. Die Tiere werden dadurch zu reinen Objekten gestempelt. Dabei vergißt man, daß man von Anfang an die Hauptsache unterschlagen hat, nämlich das Subjekt, das sich der Hilfsmittel bedient, mit ihnen merkt und mit ihnen wirkt.
Mittels der unmöglichen Konstruktion eines kombinierten Merk-Werkzeuges hat man nicht bloß bei den Tieren die Sinnesorgane und Bewegungsorgane wie Maschinenteile zusammengeflickt (ohne Rücksicht auf ihr Merken und Wirken zu nehmen), sondern ist auch dazu übergegangen, die Menschen zu maschinisieren. Nach Ansicht der Behavioristen sind unser Empfinden und unser Wille nur Schein, im besten Falle sind sie als störende Nebengeräusche zu werten.
Wer aber noch der Ansicht ist, daß unsere Sinnesorgane unserem Merken und unsere Bewegungsorgane unserem Wirken dienen, wird auch in den Tieren nicht bloß ein maschinelles Gefüge sehen, sondern auch den Maschinisten entdecken, der in die Organe ebenso eingebaut ist wie wir selbst in unseren Körper. Dann wird er aber die Tiere nicht mehr als bloße Objekte, sondern als Subjekte ansprechen, deren wesentliche Tätigkeit im Merken und Wirken besteht.
Damit ist aber bereits das Tor erschlossen, das zu den Umwelten führt, denn alles, was ein Subjekt merkt, wird zu seiner Merkwelt, und alles, was es wirkt, zu seiner Wirkwelt. Merkwelt und Wirkwelt bilden gemeinsam eine geschlossene Einheit, die Umwelt.
Die Umwelten, die ebenso vielfältig sind wie die Tiere selbst, bieten jedem Naturfreunde neue Länder von solchem Reichtum und Schönheit, daß sich ein Spaziergang durch dieselben wohl lohnt, auch wenn sie sich nicht unserem leiblichen, sondern nur unserem geistigen Auge erschließen.
[…]
Die Umwelträume.
Wie ein Feinschmecker sich aus dem Kuchen nur die Rosinen heraussucht, so hat die Zecke aus den Dingen ihrer Umgebung nur die Buttersäure herausgelöst. Uns interessiert es nicht zu wissen, welche Geschmacksempfindungen die Rosinen dem Feinschmecker bereiten, sondern nur die Tatsache, daß die Rosinen zu Merkmalen seiner Umwelt werden, weil sie für ihn von besonderer biologischer Bedeutung sind; so fragen wir auch nicht, wie die Buttersäure der Zecke riecht oder schmeckt, sondern wir registrieren nur die Tatsache, daß die Buttersäure als biologisch bedeutsam zum Merkmal der Zecke wird.
Wir begnügen uns mit der Feststellung, daß im Merkorgan der Zecke Merkzellen vorhanden sein müssen, die ihre Merkzeichen hinaussenden, wie wir das auch für das Merkorgan des Feinschmeckers annehmen. Nur verwandeln die Merkzeichen der Zecke den Buttersäurereiz in ein Merkmal ihrer Umwelt, während die Merkzeichen des Feinschmeckers in seiner Umwelt den Rosinenreiz in ein Merkmal verwandeln.
Die Umwelt des Tieres, die wir gerade erforschen wollen, ist nur ein Ausschnitt aus der Umgebung, die wir um das Tier ausgebreitet sehen — und diese Umgebung ist nichts anderes als unsere eigene menschliche Umwelt. Die erste Aufgabe der Umweltforschung besteht darin, die Merkmale des Tieres aus den Merkmalen seiner Umgebung herauszusuchen und mit ihnen die Umwelt des Tieres aufzubauen. Das Merkmal der Rosinen läßt die Zecke völlig kalt, während das Merkmal der Buttersäure in ihrer Umwelt eine hervorragende Rolle spielt. In der Umwelt des Feinschmeckers liegt der Akzent der Bedeutsamkeit, dagegen nicht auf der Buttersäure, sondern auf dem Merkmal der Rosinen.
Jedes Subjekt spinnt seine Beziehungen wie die Fäden einer Spinne zu bestimmten Eigenschaften der Dinge und verwebt sie zu einem festen Netz, das sein Dasein trägt.
Welcherart die Beziehungen zwischen dem Subjekt und den Objekten seiner Umgebung sein mögen, stets spielen sie sich außerhalb des Subjektes ab, woselbst wir die Merkmale zu suchen haben. Die Merkmale sind daher immer irgendwie räumlich gebunden, und da sie in bestimmter Reihenfolge einander ablösen, sind sie auch zeitlich gebunden.
Nur allzu leicht wiegen wir uns in dem Wahne, daß die Beziehungen des fremden Subjektes zu ihren Umweltdingen sich im gleichen Raume und in der gleichen Zeit abspielen wie die Beziehungen, die uns mit den Dingen unserer Menschenwelt verknüpfen. Genährt wird dieser Wahn durch den Glauben an die Existenz einer einzigen Welt, in die alle Lebewesen eingeschachtelt sind. Daraus entspringt die allgemein gehegte Überzeugung, daß es nur einen Raum und eine Zeit für alle Lebewesen geben müsse. Erst in letzter Zeit sind den Physikern Zweifel an der Existenz eines Weltalls mit einem für alle Wesen gültigen Raum aufgestiegen. Daß es einen solchen Raum nicht geben kann, geht schon aus der Tatsache hervor, daß jeder Mensch in drei Räumen lebt, die sich gegenseitig durchdringen, vervollständigen, aber auch zum Teil widersprechen.
Der Wirkraum.
Wenn wir mit geschlossenen Augen unsere Gliedmaßen frei bewegen, so sind uns diese Bewegungen sowohl ihren Richtungen wie ihren Ausmaßen nach genau bekannt. Wir ziehen mit unserer Hand Wege in einen Raum, den man als Spielraum unserer Bewegungen oder kurz als unseren Wirkraum bezeichnet. Alle diese Wege durchmessen wir in kleinsten Schritten, die wir als Richtungsschritte bezeichnen wollen, weil uns die Richtung eines jeden Schrittes durch eine Richtungsempfindung oder Richtungszeichen genau bekannt ist. Und zwar unterscheiden wir sechs Richtungen, die paarweise einander entgegengesetzt sind: nach rechts und links, nach oben und unten, nach vorn und hinten.
Eingehende Versuche haben ergeben, daß die kürzesten von uns ausführbaren Schritte, gemessen am Zeigefinger des ausgestreckten Armes, ca. 2 cm betragen. Diese Schritte geben, wie man sieht, kein sehr genaues Maß für den Raum, in dem sie ausgeführt werden. Von dieser Ungenauigkeit kann sich jeder leicht überzeugen, wenn er versucht, bei geschlossenen Augen die beiden Zeigefinger seiner Hände aneinanderstoßen zu lassen. Er würde sich davon überzeugen, daß dies meist mißlingt und sie bis zu 2 cm Entfernung aneinander vorbeigleiten.
Von größter Bedeutung für uns ist es, daß wir die einmal ausgeführten Wege sehr leicht im Gedächtnis behalten, was uns das Schreiben im Dunkeln ermöglicht. Man nennt diese Fähigkeit „Kinaestesie“, womit nichts Neues gesagt ist.
Nun ist aber der Wirkraum nicht bloß ein aus tausend sich kreuzenden Richtungsschritten aufgebauter Bewegungsraum, sondern besitzt ein ihn beherrschendes System von senkrecht aufeinandergestellten Ebenen, das allbekannte Koordinatensystem, das allen Raumbestimmungen als Grundlage dient.
[…]
Der Tastraum.
Der elementare Baustein des Tastraumes ist keine Bewegungsgröße wie der Richtungsschritt, sondern eine feststehende, nämlich der Ort. Auch der Ort verdankt sein Dasein einem Merkzeichen des Subjektes und ist kein an den Stoff der Umgebung gebundenes Gebilde. Der Beweis hierfür wurde von Weber erbracht. Wenn man (Abb. 9) die Spitzen eines Zirkels, die über 1 cm voneinander entfernt sind, einer Versuchsperson auf den Nacken setzt, so werden beide deutlich voneinander unterschieden. Eine jede von ihnen befindet sich an einem anderen Ort. Führt man nun, ohne ihren Abstand zu ändern, beide Zirkelspitzen zum Rücken hinab, so nähern sie sich im Tastraum der Versuchsperson immer mehr, bis sie auf den gleichen Ort zu liegen kommen.
Daraus geht hervor, daß wir außer dem Merkzeichen der Tastempfindung auch Merkzeichen für die Ortsempfindung besitzen, die wir Lokalzeichen nennen. Jedes Lokalzeichen liefert, hinausverlegt, einen Ort im Tastraum. Die Bezirke unserer Haut, die das gleiche Lokalzeichen bei ihrer Berührung in uns auslösen, wechseln außerordentlich an Größe, je nach der Bedeutung, die die betreffende Hautstelle für das Tasten besitzt. Neben der Zungenspitze, die unsere Mundhöhle abtastet, besitzen die Fingerkuppen die kleinsten Bezirke und vermögen daher die meisten Orte zu unterscheiden. Wenn wir einen Gegenstand abtasten, erteilen wir seiner Oberfläche mit Hilfe unserer tastenden Finger ein feines Ortemosaik. Das Ortemosaik der Gegenstände der Orte eines Tieres ist sowohl im Tastraum wie im Sehraum ein Geschenk des Subjektes an seine Umweltdinge, das in der Umgebung gar nicht vorhanden ist.
Abb. 9 Zirkelversuch von Weber.
Beim Abtasten verbinden sich die Orte mit den Richtungsschritten und dienen beide der Gestaltgebung.
Der Tastraum spielt bei vielen Tieren eine ganz hervorragende Rolle. Ratten und Katzen bleiben in ihren Bewegungen ganz unbehindert, auch wenn sie das Augenlicht verloren haben – solange sie ihre Tasthaare besitzen. Alle Nachttiere und alle Höhlen bewohnenden Tiere leben vornehmlich im Tastraum, der eine Verschmelzung von Orten und Richtungsschritten darstellt.
Der Sehraum.
Die augenlosen Tiere, die, wie die Zecke, eine lichtempfindliche Haut besitzen, werden voraussichtlich die gleichen Hautbezirke für die Erzeugung von Lokalzeichen sowohl für Lichtreize als für Tastreize besitzen. Sehorte und Tastorte fallen in ihrer Umwelt zusammen.
Erst bei den Augen tragenden Tieren fallen Sehraum und Tastraum deutlich auseinander. In der Netzhaut des Auges liegen die sehr kleinen Elementarbezirke – die Sehelemente – dicht beieinander. Einem jeden Sehelement entspricht ein Ort in der Umwelt, da es sich herausgestellt hat, daß jedem Sehelement ein Lokalzeichen zukommt.
Abb. 10. Sehraum eines fliegenden Insekts.
Abb. 10 stellt den Sehraum eines fliegenden Insektes dar. Es ist leicht verständlich, daß infolge des kugeligen Baues des Auges der Bezirk der Außenwelt, der auf ein Sehelement trifft, sich mit zunehmender Entfernung vergrößert und immer umfassendere Teile der Außenwelt von einem Ort gedeckt werden. Infolgedessen werden alle Gegenstände, die sich vom Auge entfernen, kleiner und kleiner werden, bis sie innerhalb eines Ortes verschwinden. Denn der Ort stellt das kleinste Raumgefäß dar, innerhalb dessen es keine Unterschiede gibt.
Das Kleinerwerden der Gegenstände findet im Tastraum nicht statt. Und dies ist der Punkt, bei dem Sehraum und Tastraum in Wettstreit geraten. Wenn man mit ausgestrecktem Arm eine Tasse ergreift und zum Munde führt, so wird sie im Sehraum größer, ändert aber im Tastraum ihre Größe nicht. In diesem Falle hat der Tastraum das Übergewicht, denn das Größerwerden der Tasse wird von einem unbefangenen Beobachter nicht bemerkt.
Wie die tastende Hand breitet auch das umherblickende Auge über alle Dinge der Umwelt ein feines Ortemosaik, dessen Feinheit von der Zahl der Sehelemente, die den gleichen Ausschnitt aus der Umgebung erfassen, abhängig ist.
Da die Zahl der Sehelemente bei den Augen der verschiedenen Tiere außerordentlich wechselt, muß auch das Ortemosaik ihrer Umwelt die gleichen Unterschiede zeigen. Je gröber das Ortemosaik, um so mehr gehen die Einzelheiten der Dinge verloren, und die Welt, durch ein Fliegenauge gesehen, muß erheblich vergröbert erscheinen, als durch ein Menschenauge betrachtet.
Da man jedes Bild durch Auflegen eines feinen Gitters in ein Ortemosaik verwandeln kann, bietet die Gittermethode uns die Möglichkeit, die Unterschiede des Ortemosaiks der verschiedenen Tieraugen zur Anschauung zu bringen.
[…]
Quelle: Jakob von Uexküll und Georg Kriszat [Illustrator], Streifzüge durch die Umwelten von Tieren und Menschen. Ein Bilderbuch unsichtbarer Welten. Verständliche Wissenschaft, Bd. 21. Berlin: Verlag von Julius Springer, 1934, S. VII-VIII, 10-12, 18-21. Wiedergabe auf dieser Website mit freundlicher Genehmigung von Marina von Uexkuell.
Weiterführende Inhalte
Anne Harrington, „Interwar ‘German’ Psychobiology: Between Nationalism and the Irrational“, Science in Context 4, no. 2 (1991), S. 429-47. Online verfügbar unter: https://doi.org/10.1017/S0269889700001046
Anne Harrington, Reenchanted Science: Holism in German Culture from Wilhelm II to Hitler. Princeton, NJ: Princeton University Press, 1996.
Florian Mildenberger, Umwelt als Vision: Leben und Werk Jakob von Uexkülls (1864-1944). Sudhoffs Archiv, Heft 56. Stuttgart: Franz Steiner, 2007.