Siegfried Schnabl, Mann und Frau intim (1977)

Kurzbeschreibung

Der ostdeutsche Sexualwissenschaftler Siegfried Schnabl publizierte erstmals 1969 sein Aufklärungsbuch Mann und Frau intim, das insgesamt in 18 Auflagen erschien. In der Einführung schilderte er seine zentralen Anliegen und berichtet von seiner Erfahrung aus der Psychotherapie und der Ehe- und Sexualberatung. Indem er die Bürgerinnen und Bürger der DDR über Sexualität aufklärte, wollte er dazu beitragen, die Fälle von Ehe- und Beziehungsproblemen zu reduzieren. In dem exemplarisch vorgestellten Kapitel wiederum diskutiert Schnabl Homosexualität, die er nicht als krankhafte, sondern als normale sexuelle Orientierung verstand.

Quelle

Zur Einführung

Dieses Buch behandelt intime Beziehungen zwischen Mann und Frau.

Daraus ergeben sich viele Fragen: Soll und darf man das, was in stiller Zweisamkeit liebender Menschen geschieht, beschreiben, untersuchen und besprechen? Ist es nicht schöner und erlebnisreicher, wenn die Liebenden von Kenntnissen unbelastet den körperlichen Ausdruck ihrer Zuneigung erfahren? Regelt sich die Sexualität nicht von selbst, gesteuert vom „Instinkt“? Erfahrungen, die wir in langjähriger Tätigkeit in der Ehe- und Sexualberatung machen konnten, besagen, daß Kenntnisse auf diesem Gebiet den Weg zu einer glücksbetonten Partnerschaft besser finden lassen, Unwissenheit ihn aber häufig versperrt.

Keineswegs ist die Sexualität das Wichtigste in unserem Leben. Läßt man sie allzu unbekümmert ins Kraut schießen, dann überwuchert sie leicht den tiefen Inhalt und Sinn unseres Daseins. Engt man sie jedoch zu sehr ein oder belastet man sie mit Vorstellungen von ihrer Sündhaftigkeit, so verkümmert sie, und wir berauben uns vieler schöner, ja erhebender Erlebnisse. Mit anderen Worten: Die Sexualität muß in unsere gesamten Lebensbeziehungen eingeordnet sein. Ihre Bedeutung für das Wohlbefinden ist von Mensch zu Mensch unterschiedlich je nach den individuellen Bedürfnissen. Es ist nicht gerechtfertigt, allein von diesen Unterschieden moralische Wertungen abzuleiten.

Der Leser möge nicht erwarten, hier Lösungen für alle Eheprobleme zu finden. Wir werden ihre sexuelle Seite in den Vordergrund stellen, ohne deren innige Verflechtung mit anderen Ehe- und Familienfragen zu übersehen. Wir haben unser Buch jedoch so angelegt, daß der aufmerksame Leser darin neues Wissen findet und auf dieser Grundlage seine bisherigen Verhaltensgewohnheiten kritisch überprüfen kann, um die Faktoren zu erkennen und zu überwinden, die unter Umständen seine eigenen Schwierigkeiten in der Begegnung mit dem Partner verursachen.

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Der Wunsch, glücklich zu sein, auch im innigsten zwischenmenschlichen Kontakt, ist erfüllbar. Daß seine Erfüllung noch nicht für jeden Bürger unseres Landes zur Lebenswirklichkeit geworden ist, bedeutet eine Herausforderung an diejenigen, die durch ihre berufliche Ausbildung und Befähigung, also unter Nutzung gesellschaftlicher Mittel, in die Lage versetzt wurden, anderen zu helfen. Nur dann kann das im Grundgesetz unserer Gesellschaftsordnung verbriefte Recht jedes Menschen auf allseitige und harmonische Entwicklung seiner Persönlichkeit gewährleistet werden. Ärzte, Psychologen und Pädagogen sind in besonderem Maße aufgerufen, Hemmnissen und Konflikten in der intimen Begegnung vorzubeugen und zu helfen, bestehende Schwierigkeiten zu überwinden.

Das gelingt um so besser, je klarer der Betroffene sich selbst und die gesellschaftlich-biologischen Voraussetzungen seiner Existenz kennt, je deutlicher er die Zusammenhänge des Lebensprozesses und der zwischenmenschlichen Beziehungen erfaßt hat. So wird es ihm möglich, bewußt sein menschliches Dasein – und davon ist die Partnerschaft von Frau und Mann ein wichtiger Bestandteil – zu bewältigen und glücklich zu gestalten.

ln der Absicht, mit den aufgenommenen Informationen vielen Menschen zu helfen, ihre eigenen Partnerprobleme zu lösen, und mit der Erwartung, daß jeder Leser unser Anliegen richtig versteht, übergaben wir Ende 1969 dieses Buch der Öffentlichkeit. Die folgenden sieben Nachauflagen waren trotz beachtlicher Höhe nach ihrem Erscheinen stets gleich wieder vergriffen. Dieses damit bekundete Informationsbedürfnis weiter Kreise der Bevölke­rung verwundert nicht, denn fast jeder Mensch ist irgendwie mit dieser Problematik persönlich konfrontiert.

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III.TEIL
Varianten und Abarten der Sexualität

10.KAPITEL
Die Homosexualität der Frau und des Mannes

Was heißt Homosexualität?

Vieles von dem, was im vorhergehenden Kapitel dargestellt wurde, grenzte an die Einfühlbarkeit des normal empfindenden Menschen. Es wird ihm vielleicht noch schwerer fallen zu begreifen, wie jemand eine Person des gleichen Geschlechts – der Mann einen Mann, die Frau eine Frau – als Intimpartner begehren und lieben kann. Falsche Informationen und Erziehungseinflüsse führten sogar dazu, die gleichgeschlechtliche Liebe als etwas Abstoßendes und Unmoralisches zu verwerfen. Eigene Gefühle und Einstellungen taugen aber als Argument gegen Homosexuelle ebenso wenig wie alle anderen Urteile, die nicht auf exaktem Wissen über diese Variante menschlicher Sexualität beruhen. Wir müssen fragen, wie sich der Homosexuelle in der Liebe und in der Gesellschaft verhält und wie die Andersartigkeit seines Geschlechtslebens zu erklären ist. Wir zählen die Homosexualität auch nicht zu den Perversionen, zumal sie die gegenseitig berei­chernde und beglückende körperlich-geistige Gemeinschaft mit einem anderen Menschen nicht ausschließt. Und echte Liebe gibt es durchaus unter den Homosexuellen.

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Die Gesellschaft und die Homosexuellen

Das oben dargelegte Bemühen scheitert aber allzuoft am Unverständnis der Mitmenschen. Uns klagten Patienten ihr Leid, die von der Betriebsleitung zur Kündigung gedrängt wurden, nur weil sich herausstellte, daß sie homosexuell sind. Gewiß muß der Homosexuelle lernen, sich mit der Tatsache abzufinden, daß er in einer Welt lebt, in der mindestens 96% sexuell anders empfinden als er, und daß alle gesellschaftlichen Einrichtungen, Sitten und Bräuche, sofern sie die Beziehungen der Geschlechter betreffen, seinen Interessen und Neigungen nicht entsprechen können. Aber warum soll man ihm die Einordnung in die Gemeinschaft schwerer machen, als sie für ihn ohnehin schon ist? Er kann sich ja die Richtung seiner Libido nicht auswählen. Es ist weder seine Schuld noch sein böser Wille, wenn er an einem hübschen Mädchen kein Gefallen findet, nur an einem Mann.

Wie vom Heterosexuellen kann man auch von ihm nicht erwarten, daß er einfach entsagt oder sich zeitlebens mit der Selbstbefriedigung begnügt.

Gleichgeschlechtliche Handlungen wurden und werden noch heute in vielen Ländern bestraft, zumindest die zwischen Männern und solche, die „beischlafähnlichen“ Charakter haben – eine, sexuologisch gesehen, völlig unsinnige Differenzierung. Sogar die Todesstrafe stand darauf und wurde auch verhängt und vollstreckt, in Holland noch im 18. Jahrhundert.

Nach allmählicher Milderung der Strafbestimmungen wurden sie im Hitlerdeutschland nach 1933 wieder rigoros verschärft. Man bezeichnete im Nazijargon die Homosexuellen als „Sittenstrolche“, die man ausrotten müsse, um das deutsche Volk vor Entartung zu schützen. Tatsächlich wurden sie für geringfügige mann-männliche Kontakte verfolgt, nicht nur mit unmenschlichen Freiheitsstrafen, sondern auch in Konzentrationslagern massenweise umgebracht.

Die Argumente, die seit eh und je ins Feld geführt wurden, um die Notwendigkeit von Gesetzen gegen die Homosexuellen zu begründen, konnten ausnahmslos durch die Forschung als nicht stichhaltig widerlegt werden. Sogar die Annahme, Homosexualität gefährde die Volksvermehrung, erwies sich als Irrtum: Statistische Vergleiche zeigen, daß die Aufhebung der Strafbestimmungen die Geburtenziffern nicht beeinflußte.

Religiöse Anschauungen flossen seit jeher in die öffentliche Meinung über diese Sexualbetätigung ein und belasteten sie im christlichen Bereich mit dem Attribut der Sünde. Heute plädieren jedoch in zunehmendem Maße führende Vertreter beider Konfessionen für die Straffreiheit homosexuellen Verhaltens.

Man befürchtete, durch Lockerung in der Gesetzgebung würde sich die Triebvariante ausbreiten, die Homosexuellen würden Cliquen bilden und Jugendliche stärker gefährden. Das hat sich in allen Ländern, die diese Sexualbetätigung tolerieren, nicht bestätigt. Ganz im Gegenteil: Oppositionsgemeinschaften lösten sich auf, Erpressungen und Ausnützung von Abhängigkeitsverhältnissen auf Grund der Kenntnis vom Sexualempfinden der Opfer verringerten sich.

Auch die gefühlsmäßigen Vorurteile, die sich phrasenhafter Schlagworte wie „widernatürliche Unzucht“ oder „gesundes Volksempfinden“ bedienen, rechtfertigen die Strafbarkeit nicht. Was zwei volljährige Erwachsene unter Ausschluß der Öffentlichkeit im gegenseitigen Einvernehmen tun, verletzt die sittlichen Anschauungen der Gesellschaft nicht, und dagegen einzuschreiten besteht kein Grund.

In einer besonders bedrückenden Situation sind Jugendliche. Ein junger Mensch, dem nach einer Phase vagen Gefühls des Andersseins bewußt wird, daß er homosexuell empfindet, durchlebt eine psychische Krise. Ihr Ausmaß hängt von der Sensibilität des Jugendlichen und von der Reaktion der Umwelt ab, wenn sie von seinen gleichgeschlechtlichen Neigungen erfährt. Indem sie ihn deshalb verunglimpft, verachtet oder auch nur verspottet, kann sie seinen Lebensmut schwerstens erschüttern. Wenn unter den 18- bis 22jährigen Homosexuellen die Zahl der Selbstmorde dreimal so hoch liegt wie bei den Heterosexuellen, so ist das auch eine Anklage gegen ihre Mitmenschen.

Fraglos sind Eltern schockiert, wenn sie mit der Tatsache der Homosexualität ihres Sohnes konfrontiert werden. Aber sie sollten bedenken, daß er gerade jetzt ihr Verständnis und ihr Vertrauen braucht, statt ihn zu beschimpfen, zu beschämen oder gar aus der Familie auszustoßen und so mit seinen Nöten alleinzulassen. Das gilt auch für Lehrer bzw. Lehrausbilder. In dem Maße wie die Gesellschaft mit Vorurteilen über diese Minderheit aufräumt und sie akzeptiert, werden ihre Probleme konfliktfreier zu lösen sein. Jeder andere Jugendliche wird in irgendeiner Form sexualerzieherisch auf sein späteres partnerschaftliches Leben vorbereitet und findet dafür Leitbilder in seiner unmittelbaren Umgebung, im Film, Fernsehen und in der Literatur. Wer kümmert sich um die jungen Homosexuellen und gibt ihnen die für sie notwendigen Informationen? Gewöhnlich hören sie nur abfällige Bemerkungen, weil sie „schwul“ sind, also eine Eigenschaft haben, die sie ebensowenig auswählen konnten wie die Farbe ihrer Augen. Darüber sollte man gründlich nachdenken und sich in ihre Lage versetzen.

Es gibt absolut nichts, was den Homosexuellen in ihrer Gesamtheit vorgeworfen werden kann, außer daß ihre Neigungen im Widerspruch zu den Geschlechtsempfindungen normal Veranlagter stehen und sie in der Minderheit sind. Das ist kein Anlaß, sie einzusperren oder ihnen auch nur Vorwürfe zu machen.

Jeder hat das Recht, sexuell seinen Bedürfnissen gemäß zu leben, sofern er damit niemand schädigt oder anderen gegen deren Willen bestimmte Handlungen aufzwingt. Das gilt für Deviante und Homosexuelle genauso wie für Menschen mit völlig normaler Sexualität.

Wie in vielen anderen Ländern wurde auch in der DDR die Konsequenz aus den Ergebnissen der Homosexualitätsforschung gezogen. Das im Juli 1968 in Kraft getretene Strafgesetzbuch enthält keine Paragraphen mehr, die Strafen für gleichgeschlechtliche Handlungen androhen. Jugendliche stehen aber weiterhin unter dem Schutz des Gesetzes. § 151 lautet: „Ein Erwachsener, der mit einem Jugendlichen gleichen Geschlechts sexuelle Handlungen vornimmt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Verurteilung auf Bewährung bestraft.“

Die Straffreiheit bleibt aber eine formal-juristische Sache, solange man Homosexuelle moralisch diskriminiert, verachtet, über sie tuschelt, hämisch lacht, vor ihnen warnt oder sie wie Kranke bemitleidet. Wir haben ihre Intimsphäre, die Formen ihrer Partnerwerbung und des gewünschten Zusammenlebens zu respektieren wie sie die unsrigen, denn sie sind gleichberechtigte Mitglieder der Gesellschaft. Homosexuelle haben wie alle Bürger das Recht, nach ihren objektiven Leistungen und Verhaltensweisen eingeschätzt und anerkannt zu werden.

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Quelle: Dr. sc. Siegfried Schnabl, Mann und Frau intim: Fragen des gesunden Geschlechtslebens. 9. überarbeitete Auflage. Berlin: Verlag Volk und Gesundheit, 1977, S. 9, 17–18, 295, 301–03.

Siegfried Schnabl, Mann und Frau intim (1977), veröffentlicht in: German History Intersections, <https://germanhistory-intersections.org/de/wissen-und-bildung/ghis:document-149> [05.12.2024].