Alfred Grotjahn, Die Hygiene der menschlichen Fortpflanzung: Versuch einer praktischen Eugenik (1926)

Kurzbeschreibung

Der Sozialhygieniker und Eugeniker Alfred Grotjahn (1869–1931) gilt als einer der radikalsten Vertreter seiner Disziplin in der Weimarer Republik, wie exemplarisch anhand dieser Auszüge aufgezeigt wird. Seine Auffassung von Sozialhygiene und Eugenik, die er als Teil einer „Bevölkerungspolitik“ verstand, legt Grotjahn zunächst in seinem Vorwort dar. Als Mittel propagiert er eine „planmäßige Ausmerzung durch Verwahrung und Zwangsunfruchtbarmachung“. Überdies spricht er sich für ein „Gesundheitszeugnis vor der Eheschließung“ aus, eine Forderung, welche ab 1935 das nationalsozialistische „Gesetz zum Schutze der Erbgesundheit des Deutschen Volkes“ („Ehegesundheitsgesetz“) rechtlich vorschrieb.

Quelle

Vorwort

Eine jahrzehntelange Beschäftigung mit dem Problem der sozialen Bedingtheit der Krankheiten und der Beeinflußbarkeit körperlicher Zustände durch Umwelteinflüsse hat den Verfasser keineswegs gegenüber dem polaren Gegensatz zu diesen, nämlich dem Einfluß der erblichen Bedingungen, blind gemacht. Vielmehr hat gerade seine Einstellung auf soziale Pathologie und soziale Hygiene ihm von Anfang an gelehrt, daß sich überall in der Verursachung der Krankheiten neben den sozialen Einflüssen die erblich überkommenen Anlagen als in der Tiefe liegende, schwierig zu erkennende und noch schwieriger zu beeinflussende Krankheitsbedingungen bemerkbar machen und auch jene sich nur dann rein herausschälen lassen, wenn diese zugleich mitbeachtet werden. Nur eine solche Auffassung kann vor dem verhängnisvollen Irrtum bewahren, lediglich von der Beeinflussung der Sozialfaktoren Erfolge in der Bekämpfung pathologischer Massenerscheinungen zu erwarten. Der Verfasser hat es daher auch stets für seine Pflicht gehalten, in die Lehrtätigkeit, die er seit Jahren im Fache der sozialen Hygiene an der Universität und der sozialhygienischen Akademie ausübt, auch die Probleme der Eugenik einzubeziehen, soweit ihm das als Nichtbiologen möglich war. Vorlesungen von beschränkter Stundenzahl können jedoch nur die wichtigsten Tatsachen und Gedankengänge mitteilen, während dem Bedürfnis, die im Hörsaal erhaltenen Anregungen weiterzuverfolgen und Einzelheiten nachzulesen, nur durch ein Lehrbuch Genüge geleistet werden vermag. Für das Gebiet der sozialen Hygiene liegen den Stoff zusammenfassende Bücher bereits in einer Reichhaltigkeit vor, die den verschiedensten Ansprüchen an Ausführlichkeit genügen. Auf dem mit der sozialen Hygiene so eng verzahnten Gebiete der Eugenik ist das jedoch nicht der Fall. Die Bücher, auf die man gegenwärtig zurückgreifen muß, sind gar zu sehr mit biologischen Einzelheiten belastet, bewegen sich fast ausnahmslos im Rahmen der darwinistischen Selektionstheorie und verlegen schon aus diesem Grunde den Schwerpunkt so sehr in das botanische und zoologische Material und die daraus hergeleiteten Analogieschlüsse, daß die sozialwissenschaftliche und bevölkerungspolitische Seite zu kurz kommt.

Aus dem Wunsche, diesem Mangel abzuhelfen, ist das vorliegende Buch entstanden. Es ist namentlich für Leser bestimmt, die als Ärzte, Fürsorgebeamte und Sozialpolitiker Interesse an eugenischen Fragen und Gelegenheit zu eugenischem Wirken haben. Diese Bestimmung erlaubte, von der Behandlung der vererbungsbiologischen Einzelheiten, soweit sie für das Verständnis der menschlichen Fortpflanzung nicht geradezu unerläßlich sind, abzusehen. Es konnte das umso eher geschehen, als hierfür bereits vortreffliche Lehrbücher und zusammenfassende Darstellungen vorliegen. Der gewonnene Raum ist der sozialwissenschaftlichen Seite der Eugenik und ihren Beziehungen zur sozialen Hygiene, die für den Verfasser begreiflicherweise im Vordergrunde stehen, zu gute gekommen. Damit ist die praktische Seite der Eugenik gegenüber ihrer theoretischen in den Vordergrund gestellt worden. Fehlte es doch bisher an einer Darstellung, in der die Frage behandelt ward, was sollen wir tun, um die drohende Verminderung und Verschlechterung der Bevölkerung hintanzuhalten oder gar zur Umkehr zu bringen. Bereits in der ersten Auflage seiner „Sozialen Pathologie“ vom Jahre 1912 hat der Verfasser einige wesentliche Fortpflanzungsregeln aufgestellt und die Ansicht geäußert, daß man in ihren Rahmen zusammenfassen könnte, was uns bereits gegenwärtig an praktischer Fortpflanzungshygiene zu tun möglich wäre: Hier ist der Versuch gemacht worden, diesen Rahmen mit Einzelheiten auszufüllen.

Den in folgenden Ausführungen behandelten Fragen kann weder eine örtliche noch eine zeitliche Aktualität abgesprochen werden. Der Nahrungsspielraum unseres Landes ist eng, seine Bevölkerung dicht. Wie die Statistik unzweifelhaft dartut, läßt unser Volk der natürlichen Fruchtbarkeit schon seit Jahrzehnten längst nicht mehr freien Lauf, sondern beschränkt sie in einer Weise, die zu einer Untersuchung zwingt, ob man diesen Vorgang begrüßen oder bedauern, unterstützen oder hinteranhalten soll. Mit Recht ertönt immer lauter der Ruf nach einer planmäßigen Bevölkerungspolitik. Eine solche darf sich jedoch nicht vorwiegend auf Gefühlsregungen, Wünsche, Befürchtungen oder fragwürdige Forderungen des Tages aufbauen, sondern muß auf wissenschaftliche Erkenntnisse gegründet werden. Denn nur diese sind berufen, den öffentlichen Faktoren als Unterlage für Gesetzgebung und Verwaltung und der großen Masse als solche für eine Ausgestaltung der Sitten und Lebensgewohnheiten zu dienen.

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Vielmehr wird sich der Verfasser bemühen, lediglich die sozialhygienische Methode anzuwenden, d. h. aus den verschiedensten Natur- und Geisteswissenschaften Bausteine herbeizuschaffen und zur Beantwortung der Frage zusammenzufügen suchen: Wie können wir bewußt und planmäßig Bevölkerungspolitik treiben, um ein Konglomerat generativ untereinander verbundener Menschen — als Beispiel schwebt uns stets unser eigenes Volk in seiner gegenwärtigen Lage vor — quantitativ und qualitativ mindestens in der bisherigen Güte zu erhalten, womöglich aber zu verbessern?

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Kapitel 4. Die Verbesserung der Beschaffenheit der Bevölkerung

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d) Die planmäßige Ausmerzung durch Verwahrung und Zwangsunfruchtbarmachung.

Die unleugbare eugenische Wirkung der Verwahrlosung der Psychopathen als Landstreicher, Verbrecher und Dirnen ist jedoch ein so inhumanes und mit so unerträglichen Begleiterscheinungen verknüpfter Vorgang, daß Kulturvölker ihn auf die Dauer nicht ruhig hinnehmen können. Wohlfahrtspflege und Fürsorgeeinrichtungen aller Art sind denn auch mit steigendem Erfolg am Werke, ihn einzuschränken oder gar völlig zu beseitigen. In fortpflanzungshygienischer Hinsicht erwächst daraus die Gefahr, daß in Zukunft noch manche Psychopathen zu Ehe und Nachkommenschaft gelangen, die ohne karitative Betätigung durch Verwahrlosung davon abgehalten worden wären. Aber auch ohne solche Fürsorge entgehen noch zahlreiche Psychopathen dieser sozialen Ausschaltung und bringen unheilvolle Nachkommen hervor. Ist es doch gelungen, in manchen Gegenden, u. zw. weniger in den Menschen verschlingenden Großstädten als in abgeschiedenen Gebirgstälern und entlegenen Landstrichen ganze Sippschaften ausfindig zu machen, in denen sich Jahrhunderte hindurch asoziale Psychopathen von Geschlecht zu Geschlecht fortgepflanzt haben.[1] Selbst aus Städten liegen Beobachtungen vor, daß Schwachsinnige noch in großer Zahl heiraten und Kinder liefern. Fanden doch 1920 Reiter und Osthoff[2] bei 234 Müttern von schwachsinnigen Kindern der Rostocker Hilfsschule 1490 lebendgeborene Kinder, d. h. 6,4 auf eine Mutter, von denen 4,5 ins heiratsfähige Alter gelangten. Wir müssen uns daher nach sichereren Mitteln, die Fortpflanzung der Psychopathen hintenanzuhalten, umsehen, als es die natürliche Unfruchtbarkeit und die soziale Ausschaltung durch Verwahrlosung ist.

Das wichtigste derartige Mittel ist die rechtzeitige und dauernde Festhaltung aller jener geistig Minderwertigen, die als Irre, Gewohnheitsverbrecher, unheilbare Trunkenbolde und überhaupt unverbesserliche Psychopathen ohnehin aus der Bevölkerung ausgeschieden werden müssen. Ihre dauernde Asylisierung verhindert Ehe und Fortpflanzung oder bricht eine solche wenigstens ab und wirkt dadurch im hohen Maße eugenisch. Leider sind Gerichte, Wohlfahrtspflege und Anstaltswesen zur Zeit noch nicht genügend auf dieses Ziel eingestellt, sondern lassen unzählige Lücken, durch die derartige Individuen wieder entschlüpfen können. Für jene Psychopathen jedoch, deren Verhalten einen dauernden Anstaltsaufenthalt nicht rechtfertigt, weil sie erwerbsfähig sind und keine ernstliche Störungen verursachen, kommt als eugenische Maßnahme die Anwendung von Präventivmitteln in Betracht. Da es sich hier vorwiegend um Personen von mangelhaftem Intellekt und regelwidrigem Triebleben handelt, können die bei den Asthenikern ausreichenden einfachen Mittel des Kondoms beim Manne oder des Okklusivpessars beim Weibe hier nicht empfohlen werden, sondern die an anderer Stelle bereits beschriebenen Methoden der operativen Unfruchtbarmachung. Allerdings müssen für diese erst die gesetzlichen Grundlagen geschaffen werden. Denn nur so kann die richtige Indikationsstellung gewährleistet und die Anwendung der immerhin eingreifenden Methoden an die Mitwirkung der zuständigen Medizinalbeamten geknüpft werden. Jedoch sind der Zwangsunfruchtbarmachung nicht alle Gruppen der Psychopathen zu unterwerfen, sondern vorwiegend die Individuen von imbeziller und epileptischer Konstitution, während die nicht anstaltsbedürftigen Träger einer schizoiden und zykloiden Konstitution besser der Fortpflanzung erhalten bleiben, weil sie auch Träger von Anlagen sind, die zur Entstehung Begabter führen können.

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Kapitel 7. Soziale Fortpflanzungshygiene

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d) Das Gesundheitszeugnis vor der Eheschließung.

So wenig auch bisher von einem nennenswerten Verständnis für eugenische Gedankengänge ge[s]prochen werden kann, so gibt es doch eine Forderung, die in wachsendem Maße die Öffentlichkeit beschäftigt und wahrscheinlich berufen ist, der Entwicklungkeim für eine fortpflanzungshygienische Gesetzgebung zu werden: es ist die Forderung der Einführung eines Gesundheitszeugnisses vor der Eheschließung. Ihre Erfüllung wäre auch aus anderen Gründen zu begrüßen, weil dann mit Geschlechtskrankheiten, Tuberkulose und anderen chronischen Erkrankungen Behaftete gezwungen sein würden, sich vor der Heirat ausheilen zu lassen oder von einer solchen abzusehen.

Es ist damit zu rechnen, daß sich ein solches Gesundheitszeugnis über kurz oder lang durchsetzen wird. Einen Vorläufer haben wir bereits in einem Merkblatt zu sehen, das auf Anregung des aus dem juristischen Lager kommenden Eugenikers E. Schubert durch Gesetz von 11. Juni 1920 (Reichsgesetzblatt S. 1209) eingeführt worden ist, allen Verlobten auf dem Standesamt vor Anordnung des Aufgebotes eingehändigt wird [].

Anmerkungen

[1] Eine Übersicht vgl. E. Dirksen, Asoziale Familien. D. Zeitschr. für öffentliche Gesundheitspflege. 1924.
[2] H. Reiter und H. Osthoff, Die Bedeutung endogener und exogener Faktoren bei Kindern der Hilfsschule. Zeitschr. f. Hygiene, 1921

Quelle: Alfred Grotjahn, Die Hygiene der menschlichen Fortpflanzung. Versuch einer praktischen Eugenik. Berlin und Wien: Urban & Schwarzenberg, 1926, Vorwort, S. V–VII, 200–01, 322.

Alfred Grotjahn, Die Hygiene der menschlichen Fortpflanzung: Versuch einer praktischen Eugenik (1926), veröffentlicht in: German History Intersections, <https://germanhistory-intersections.org/de/wissen-und-bildung/ghis:document-16> [01.12.2023].