Rudolf Virchow, Bericht aus der ausserordentlichen Zusammenkunft im Zoologischen Garten: „Eskimos von Labrador“ (7. November 1880)

Kurzbeschreibung

Im 19. Jahrhundert wurde es in Europa äußerst populär, fremde Völker in sogenannten Völkerschauen einem Publikum vor Augen zu führen. Von ca. 1870 bis 1940 wurden in fast ganz Europa, auch in Ländern ohne koloniale Überseegebiete, Menschen in Völkerschauen, aber auch in Kolonialausstellungen und Zirkussen als Repräsentanten ihrer Ethnie oder „Rasse“ inszeniert. Dazu wurden teils ganze Dörfer aufgebaut, um dem Publikum die Völker in ihrer „natürlichen“ Umgebung näherzubringen.

In einem 1880 in der Zeitschrift für Ethnologie veröffentlichten Bericht beschrieb der deutsche Anthropologe Rudolf Virchow (1821–1902) zwei Inuitfamilien aus Grönland (im damaligen Sprachgebrauch als „Eskimos“ bezeichnet), die im Frankfurter Zoo lebten. Virchow zufolge lebte die Familie aus der Hebron-Mission in Labrador ein „zivilisiertes Leben“, während die Familie aus dem weiter nördlich gelegenen Nakkwak beispielhaft für Primitivität stehe. Virchow argumentierte, dass Inuit zu intellektueller Entwicklung fähig seien und dass christliche Inuit deutlich intelligenter seien als die Inuit, die in einem primitiven Naturzustand lebten.

In einem zweiten Abschnitt seines Artikels nimmt Virchow Bezug auf eine Kritik, die in der Magdeburger Zeitung an den Völkerschauen (21. Oktober 1880) geäußert wurde. Der Verfasser hatte die Art der Zurschaustellung fremder Völker in Zoos sowie die Schaulust des Publikums kritisiert. Virchow verteidigt die Völkerschauen jedoch mit dem wissenschaftlichen Interesse an der Menschheit „in ihren unterschiedlichen Entwicklungsstadien“.

Quelle

Ausserordentliche Zusammenkunft im zoologischen Garten am 7. November 1880.

Vorsitzender Hr. Bastian.

Hr. Virchow spricht, unter Vorstellung der betreffenden Personen, über die von Hrn. Hagenbeck nach Berlin gebrachten

Eskimos von Labrador.
(Hierzu Taf. XIV.)

Die uns beschäftigenden Eskimos, obwohl sämmtlich aus einer Gegend von Labrador, welche nahezu in demselben Breitengrade mit der Südspitze Grönland’s gelegen ist, zerfallen in zwei Gruppen, man kann auch sagen, Familien, obwohl noch, um nordisch zu sprechen, ein Loskärl dabei ist. Es sind zwei in sich geschlossene Abtheilungen, die nicht bloss der Religion nach verschieden sind, sondern auch in ihrer äusseren Erscheinung manche Differenzen darbieten. Die Einen, nehmlich die Familie Abraham, bestehend aus dem Mann, der Frau Ulrike und zwei kleinen Kindern, nebst dem ledigen Tobias, stammen von der Missionsanstalt Hebron, welche die Herrnhuter 1830 gegründet haben, etwa 59° nördl. Br. und 60° westl. L., südlich von Cap Chidley. Es ist eine der 6 Stationen, welche die Brüdergemeinde an dieser Küste unterhält, darunter die älteste, Hopedale, schon seit dem Jahre 1770. Nach dem Bericht des Hrn. Jacobsen, der die Leute geworben und auf einem eigenen Schiffe nach Hamburg gebracht hat, wären von den etwa 2000 in Labrador lebenden Eskimos 1500 zum Christenthum gebracht. Jedenfalls ist es den Missionären gelungen, den Unterricht der Leute soweit zu fördern, dass sie in der That ihre Intelligenz in einem nicht geringen Maasse entwickelt haben und dass sie im Stande sind, mit Leichtigkeit zu schreiben, zu zeichnen und allerlei Künste des civilisirten Lebens zu üben. []

Die andere Familie dagegen, bestehend aus dem Manne Tiggianiak (Tigganiak), seiner Frau Paieng (Bairngo) und seiner Tochter Noggasak, ist noch vollständig heidnisch und in der That mit Eigenschaften ausgestattet, welche in hohem Maasse geeignet sind, die primitive Beschaffenheit dieser Bevölkerung kennen zu lernen. []

Diese Familie ist von Hrn. Jacobsen in Nakkwak, einer nördlich von Hebron an einem Fjord gelegenen Station der Hudsons-Bay-Compagnie, engagirt worden. []

Die Behaarung unserer Labrador-Leute stimmt mit derjenigen der Grönländer in allen Stücken überein. Die Farbe des Haares ist durchweg schwarz. Schon die kleinen Kinder haben sehr dunkles Kopfhaar, nur die Augenbrauen sind mehr bräunlich. Das Kopfhaar der Erwachsenen ist bei den Männern verhältnissmässig lang, so dass es den Nacken und bei dem Heiden sogar die Schultern bedeckt. Es ist sehr dick, glänzend schwarz, wie Ebenholz, dem Mähnenhaar der Pferde ähnlich, in keiner Weise lockig oder gebogen, sondern ganz straff. Bei den Frauen hat es die gleiche Beschaffenheit, nur wird es verhältnissmässig kürzer getragen und macht daher eher den Eindruck einer gewissen Spärlichkeit. Frau Ulrike trägt es einfach gescheitelt und in Flechten gelegt. Die heidnische Frau dagegen und deren Tochter tragen hinten und an jeder Schläfe einen Knoten; die seitlichen Knoten sind mit langen Gehängen besetzt, welche aus Renthierhaar geflochten und mit bunten (europäischen) Perlen reich verziert sind. Die Augenbrauen sind bei den meisten stark, nur bei Frau Ulrike spärlicher. Backenbart haben selbst die Männer fast gar nicht, dagegen ist der Schnur- und Kinnbart reichlicher, nur dass der letztere sich auf das eigentliche Kinn beschränkt. Etwas Schnurbart findet sich auch bei Frau Ulrike. Der übrige Körper, so weit ich ihn sah, Brust, Vorderarme, Unterschenkel sind fast ganz haarlos.

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Ich will mich auf diese Bemerkungen beschränken, und möchte Sie nur noch bitten, mir zu gestatten, einen starken Angriff mit einigen Worten zurückzuweisen, der neulich in der Magdeburger Zeitung (Nr. 493 vom 21. October) gemacht worden ist. Derselbe richtet sich einerseits gegen diese ganze Art von Vorstellungen fremder Rassen, andererseits gegen die Benutzung zoologischer Gärten für die Vorführung von Menschen. Da es ein gelesenes Blatt ist, welches sich zum Organ dieses Angriffs hergegeben hat, und da wir in einer Zeit leben, wo bekanntlich alles dasjenige geschieht, was man für unmöglich hält, so scheint es mir allerdings geboten zu sein, diesem ersten Angriff eines verwilderten Feuilletonisten mit Bestimmtheit entgegenzutreten.

In einem Artikel: „Die Eskimos im zoologischen Garten zu Berlin“ wendet sich der Verfasser nicht blos im Allgemeinen gegen Menschenausstellungen, sondern erklärt am Schlusse ganz ausdrücklich, man dürfe erwarten, dass bei genauerer Ueberlegung man davon zurückkommen werde, Menschen in zoologischen Gärten auszustellen. Ich will diesen Schluss kurz vorlesen:

„Dass man von verschiedenen Seiten aus unsere Anschauung als eine sentimentale belächeln, bespötteln wird, darauf sind wir vollkommen vorbereitet. Gleichwohl möchten wir dieselbe an dieser Stelle ausgesprochen haben. Sollten diese „interessanten“ Menschenexemplare nun schon einmal ausgestellt werden, dann müsste uns schon das Gefühl für „Rassenanstand“ davor bewahren, unseres Gleichen in Thiergärten sehen zu lassen.“

Die Argumentation, welche dieser Betrachtung zu Grunde liegt, geht wesentlich davon aus – und das ist eigentlich das, was ich besonders berühren wollte – , dass ein wissenschaftliches Interesse gar nicht vorliege, und dass auch für die grosse Masse der Menschen weiter nichts existire, als ein in der That ganz rohes Interesse der Neugierde. Der Feuilletonist gefällt sich darin, von Zeit zu Zeit zu sagen: „es ist allerdings sehr interessant“, als ob das ein Vorwurf wäre. In dieser Beziehung scheint der Herr sich nicht recht klar gemacht zu haben, dass an sich das „Interesse“ ein sehr mannichfaltiges sein kann, dass allerdings Manches blos interessant im Sinne der Neugierde ist, dass aber auch alles Andere, was wir im Sinne des Wissens, der fortschreitenden Erforschung der Natur und der Menschen erkunden, wesentlich nur dadurch uns näher tritt, dass es uns interessant wird. Ja, in der That, diese Menschenvorstellungen sind sehr interessant, für Jeden, der sich einigermaassen klar werden will über die Stellung, welche der Mensch überhaupt in der Natur einnimmt, und über die Entwickelung, welche das Menschengeschlecht durchmessen hat.

Wer das nicht begreifen kann, wessen Vorbereitung so gering ist, dass er nicht versteht, dass darin die wichtigsten und grössten Fragen, welche das Menschengeschlecht überhaupt aufwerfen kann, enthalten sind, wer glaubt, dass man einfach über solche Dinge zur Tagesordnung übergehen darf, der sollte am wenigsten Feuilletons schreiben. Zum Mindesten sollte eine Redaction sich zweimal bedenken, ehe sie solches Gerede in ihre Spalten aufnimmt.

Das wollte ich constatirt haben, indem ich zugleich bezeuge, dass wirklich ein positives wissenschaftliches Interesse höchsten Ranges sich an diese Vorstellungen an knüpft. Deshalb will ich auch diese Gelegenheit nicht vorübergehen lassen, ohne Hrn. Hagenbeck unseren besonderen Dank öffentlich auszusprechen und ihn zu bitten, sich durch derartige Angriffe nicht abhalten zu lassen, in der Weise fortzufahren, wie er es bisher zum grössten Nutzen der anthropologischen Wissenschaft gethan hat. –

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Quelle: Rudolf Virchow, „Ausserordentliche Zusammenkunft im zoologischen Garten am 7. November 1880: Eskimos von Labrador“, Zeitschrift für Ethnologie, 12. Bd. (1880), S. 253–54, 261, 270–71.

Anne Dreesbach, „Kolonialausstellungen, Völkerschauen und die Zurschaustellung des ‚Fremden‘“, in Europäische Geschichte Online (EGO), herausgeben vom Leibniz-Institut für Europäische Geschichte (IEG), http://www.ieg-ego.eu/dreesbacha-2012-de (letzter Zugriff: 20. September 2020)

Anne Dreesbach, Gezähmte Wilde. Die Zurschaustellung „exotischer“ Menschen in Deutschland 1870–1940. Frankfurt a. M: Campus Verlag, 2005.

Hartmut Lutz mit Kathrin Gollmuß und Greifswalder Studierenden, Hrsg., Abraham Ulrikab im Zoo: Tagebuch eines Inuk 1880/1881. Wesel: VDL-Verlag, 2007.

Rudolf Virchow, Bericht aus der ausserordentlichen Zusammenkunft im Zoologischen Garten: „Eskimos von Labrador“ (7. November 1880), veröffentlicht in: German History Intersections, <https://germanhistory-intersections.org/de/wissen-und-bildung/ghis:document-189> [05.12.2024].