Brehms Tierleben. Allgemeine Kunde des Tierreichs, dritte Ausgabe, Band 7: Kriechtiere und Lurche (1892)

Kurzbeschreibung

Dieser Essay über die Zoologie der Reptilien erschien in Brehms Tierleben, einem Nachschlagewerk, das für die Popularisierung von wissenschaftlichen Erkenntnissen in deutschen Haushalten eine wichtige Rolle spielte. Der Essay vermittelte die wichtigsten Anliegen des biologischen Vorhabens: Die Welt der Natur sollte durch eine rationale Analyse beobachtbarer Fakten und innerer Funktionen verstanden werden. Eine solche Analyse nahm ihren Ausgangspunkt beim Sezieren und anderen reduzierenden Techniken des Experiments. Das Wissen, das durch diese Methoden produziert wurde, gestattete es, die Arten nach ihrer taxonomischen Verteilung in Schemata evolutionärer Beziehungen zu klassifizieren. Dass diese Art des „Natur-Lesens“ zu einem regelmäßigen Bestandteil häuslichen Freizeitvergnügens wurde, lässt auf die Begeisterung der deutschen Öffentlichkeit für wissenschaftliches Lernen schließen.

Quelle

Die meisten Kriechtiere entwickeln sich aus Eiern, die im wesentlichen denen der Vögel gleichen, ein großes, ölreiches Dotter und eine mehr oder minder bedeutende Schicht von Eiweiß haben und in einer lederartigen, oft dehnbaren Schale, auf welche sich in geringerer oder in größerer Menge Kalkmasse ablagert, eingeschlossen sind. Die Entwicklung der Eier beginnt meist schon vor dem Legen im Eileiter der Mutter; bei einzelnen wird der Keim hier sogar vollständig entwickelt: das Junge durchbricht noch im Eileiter die Schalenhaut und wird mithin lebendig geboren. Gewisse Arten, die ihre Eier sonst lange vor dieser Zeit ablegen, können dazu gebracht werden, sie ebenfalls bis zur vollständigen Entwicklung der Jungen zu behalten, wenn man ihnen die Gelegenheit zum Legen nimmt. Das befruchtete Ei zeigt auf der Oberfläche des Dotters eine rundliche Stelle mit verwischter Begrenzung, die weiße Färbung hat und demjenigen Teile des Hühnereies entspricht, welchen man im gemeinen Leben mit dem Namen „Hahnentritt“ bezeichnet. Dieser Keim besteht aus kleinen Zellen, die fast farblos sind und im Gegensatze zum Dotter die lichte Färbung entstehen lassen; er bildet die erste Grundlage der Entwickelung und stellt sich als Mittelpunkt derjenigen Bildungen dar, welche den Aufbau des Keimlings vermitteln. []

Die Entwickelung der Krokodile schließt nach A. Völtzkow eng an diejenige der Vögel an. Auffällig ist der schon im Beginne der Entwicklung sehr lange Schwanz, der zuerst uhrfederartig aufgerollt ist und dann später bei stärkerer Krümmung des Embryos um den Nacken geschlungen wird.

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Von den Kriechtieren darf man behaupten, daß sie gewesen sind; denn aus unserer gegenwärtigen Kenntnis der Vorweltstiere geht hervor, daß ganze Ordnungen, wie die der Fischsaurier (Ichthyosauria), Meerdrachen (Sauropterygia), Theromoren (Theromora), Riesensaurier (Dinosauria) und Flugsaurier (Pterosauria), ausgestorben sind, während bis in die Jetztzeit nur die vier Ordnungen der Schuppenkriechtiere, Krokodile, Schildkröten und Brückenechsen ausgedauert haben. Die versteinerten Reste früher lebender Arten der Klasse, die auf unsere Zeit gekommen sind, zeigen uns eine lange Reihe von verschiedenen, überaus merkwürdigen Tieren, die durch ihren Leibesbau und ihre Lebensweise teils an die Säugetiere (Theromoren), teils an die Vögel (Flugsaurier), Lurche und Fische (Fischsaurier) erinnern.

Die Verbreitung der alten Kriechtiere zeigt nach K. von Zittel, daß diese Klasse erst nach den Fischen und Lurchen auf der Erde erschien, und daß die ältesten ihrer Vertreter die Proterosauriden und Mesosauriden waren, welche die Länder oder Küsten zur Zeit des Rotliegenden und des Kupferschiefers bewohnten und sich in ihrer äußeren Erscheinung, im Baue des Gerippes und in ihrer Lebensweise wohl am nächsten der noch lebenden Brückenechse anschlossen. Schon diese Thatsache läßt vermuten, daß die im Meere lebenden Kriechtiere der mesozoischen Zeit, wie Fischsaurier, Meerdrachen und die ältesten Krokodile, dem ursprünglichen Kriechtierurbilde ferner stehen als die Land- und Süßwasserformen und als einseitig entwickelte Seitenäste des Kriechtierstammes zu betrachten sind, wie die Flugsaurier, Schildkröten und Riesensaurier.

Neben den Urbrückenechsen und den ersten Theromoren hätten wir demnach vorerst die Ahnen der jüngeren Kriechtiere zu suchen, und in der That zeigen gerade diese beiden Gruppen eine Mischung von Merkmalen, die sie zur Entwickelung nach den verschiedensten Richtungen befähigte.

Die Kriechtiere der Karroobildung in Südafrika sowie die gleichalterigen Schichten in Südindien und Brasilien gehören zwar ebenfalls zu den Theromoren und Urbrückenechsen, zeigen aber bereits eine viel größere Einseitigkeit im Baue ihres Körpers, so daß einzelne ihrer Stämme (Anomodontia) keiner weiteren Fortbildung fähig erschienen und vermutlich schon in der Trias erloschen, woselbst auch die noch unvollständig bekannten Placodontier erscheinen und wieder verschwinden.

In der Trias beginnen auch die Meerdrachen mit den Rothosauriden und Pistosauriden und Fischsaurier mit Mixosaurus. Beide Ordnungen dürften aus Ahnen hervorgegangen sein, die den Brückenechsen ähnlich waren, doch läßt sich ihr Stammbaum bis jetzt mit Sicherheit nicht feststellen; ihre ältesten Formen stehen den paläozoischen Kriechtieren schon sehr fern und haben offenbar schon einen weiten Weg in der Weiterentwickelung zurückgelegt, ohne daß wir im stande wären, ihn an der Hand vorweltlicher Funde zu verfolgen. Die ältesten Krokodile aus dem Keuper von Europa, Indien und Nordamerika (Parasuchia und Pseudosuchia) stehen den Brückenechsen noch erheblich näher als die im Lias beginnenden Eusuchier, deren unmittelbare Vorläufer ebenfalls noch nicht bekannt sind, von welchen aber die sämtlichen jetzt lebenden Krokodile abstammen. Neben den Krokodilen laufen die Riesenechsen als nächste Stammesverwandte einher; auch sie dürften sich entweder aus Brückenechsen oder noch wahrscheinlicher aus Theriodontiern entwickelt haben. Ihre Trennung in Sauropoda und Theropoda vollzog sich schon in der Trias; in der Jurazeit kommen die einseitiger entwickelten Orthopoden hinzu, die in der oberen Kreide ihren Höhepunkt erreichen und dort auch erlöschen.

Die Schildkröten beginnen in der oberen Trias und zwar mit bereits hoch entwickelten Formen (Proganochelys und Psephoderma). Den spärlichen Triadischen Vorläufern folgen im Jura und in der Kreide zahlreiche Vertreter von Halsbergern und Halswendern, die ohne wesentliche Änderungen in ihrem Gesamtbaue bis in die Jetztzeit fortdauern. Die Abzweigung der Schildkröten vollzog sich wahrscheinlich schon im paläozoischen Zeitalter an einer Stelle, die dem Ursprunge der Anomodontier nicht fern lag, mit welchen sie mancherlei Übereinstimmung aufweisen.

Einen selbständigen, schon in der oberen Kreidezeit abgestorbenen Seitenzweig bilden die Flugsaurier. Auch diese erscheinen im Lias schon mit allen ihnen eigentümlichen Merkmalen ausgestattet, entfernen sich aber bis zu ihrem Erlöschen in der oberen Kreide durch Verkümmerung der Zähne und durch gewisse Änderungen im Schädel beträchtlich vom ursprünglichen Kriechtiervorbild. Sie erhalten infolge ähnlicher Lebensweise gewisse Merkmale, die an Vögel erinnern, die aber trotzdem keine nähere Blutsverwandtschaft verraten.

Als Seitenausläufer der Brückenechsen dürfen die Eidechsen gelten, die in den Purbeck und Wealdenschichten beginnen, aber erst im Tertiär und in der Jetztzeit zu voller Entfaltung gelangen. Von den Eidechsen haben sich während der Kreide die im Meere lebenden Pythonomorphen und in entgegengesetzter Richtung die Schlangen abgezweigt. Nur die Letzteren dauern neben den Chamäleons, von welchen wir fossile Vertreter noch nicht kennen, bis in die jetzige Welt fort. Die Pythonomorphen verschwanden als in hohem Grade einseitig entwickelte Formen schon am Schlusse der Kreidezeit.

Der Stammbaum der Kriechtiere führt somit aller Wahrscheinlichkeit nach auf Urformen von eidechsenartiger Gestalt zurück, die einen langen Schwanz, vorn und hinten ausgehöhlte Fischwirbel, ein Kreuzbein mit zwei Wirbeln, fünfzehige Gehfüße, einen vorn verschmälerten Schädel mit oberen und seitlichen Schläfenlöchern und Scheitelloch, auf den Kieferrändern aufgelötete Zähne und eine beschuppte Haut besaßen. Aus diesen Urkriechtieren entwickelten sich wohl zunächst die Theriodontier und Brückenechsen und aus den letzteren die Eidechsen nebst ihren drei Seitenzweigen, den Pythonomorphen, den Chamäleons und den Schlangen. Alle übrigen Ordnungen dürften sich schon im paläozoischen oder im Beginne des mesozoischen Zeitalters abgezweigt und im Körperbaue so rasch verändert haben, daß ihre verwandtschaftlichen Beziehungen sowohl untereinander als auch zu den Urkriechtieren ziemlich verwischt erscheinen.

Heutzutage leben übrigens immer noch gegen 3500 verschiedenartige Kriechtiere: etwa 1645 Eidechsen, 55 Chamäleons, etwa 1575 Schlangen, 23 Krokodile, 201 Schildkröten und 1 Brückenechse, und alljährlich werden namentlich unter den Eidechsen und Schlangen noch unbekannte Formen gefunden.

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Nilkrokodil, Abbildung, S. 504.

Quelle: Brehms Tierleben. Allgemeine Kunde des Tierreichs, dritte Ausgabe, Band 7: Kriechtiere und Lurche, herausgegeben von Eduard Pechuël-Loesche. Leipzig und Wien: Bibliographisches Institut, 1892, S. 9-12, 504.

Brehms Tierleben. Allgemeine Kunde des Tierreichs, dritte Ausgabe, Band 7: Kriechtiere und Lurche (1892), veröffentlicht in: German History Intersections, <https://germanhistory-intersections.org/de/wissen-und-bildung/ghis:document-205> [22.10.2024].