Walter Gropius, „Idee und Aufbau des Staatlichen Bauhauses“ (1923)

Kurzbeschreibung

Nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs wurde der belgische Künstler, Architekt und Designer Henry van de Velde 1915 gezwungen, von seinem Posten als Direktor der Großherzoglich-Sächsischen Kunstgewerbeschule in Weimar zurückzutreten, die er zehn Jahre zuvor gegründet hatte. Als seinen Nachfolger empfahl Van de Velde den jungen deutschen Architekten Walter Gropius (1883-1969). Nach Kriegsende wurde Gropius 1919 zum neuen Direktor der Schule ernannt, die er dann mit der Weimarer Hochschule für bildende Kunst zusammenführte, um daraus das Bauhaus entstehen zu lassen. Anschließend berief er berühmte Künstler wie Wassily Kandinsky und Paul Klee an das Bauhaus. Für die Entwicklung der für die Schule charakteristischen Pädagogik stützte er sich auf die Theorien des schweizerischen Malers und Bauhaus-Mitglieds Johannes Itten. Innovative Eigenschaften des Lehrplans am Bauhaus waren die Vorlehre und die Synthese ästhetischer Prinzipien, die sich aus Theorie und Praxis speisten. Dieser Auszug beschreibt den Lehrplan des Bauhauses von 1923, zum Zeitpunkt seiner ersten und einzigen schulübergreifenden Ausstellung, die in verschiedenen Gebäuden in Weimar zu sehen war.

Quelle

Die Idee der heutigen Welt ist schon erkennbar, unklar und verworren ist noch ihre Gestalt. Das alte dualistische Weltbild, das Ich – im Gegensatz zum All – ist im Verblassen, die Gedanken an eine neue Welteinheit, die den absoluten Ausgleich aller gegensätzlichen Spannungen in sich birgt, taucht an seiner Statt auf. Diese neuaufdämmernde Erkenntnis der Einheit aller Dinge und Erscheinungen bringt aller menschlichen Gestaltungsarbeit einen gemeinsamen, tief in uns selbst beruhenden Sinn. Nichts besteht mehr an sich, jedes Gebilde wird zum Gleichnis eines Gedankens, der aus uns zur Gestaltung drängt, jede Arbeit zur Manifestation unseres inneren Wesens. Nur solche Arbeit behält geistigen Sinn, mechanisierte Arbeit ist leblos und Aufgabe der toten Maschine. Solange aber die Wirtschaft, die Maschine Selbstzweck sind, anstatt Mittel, die Geisteskräfte zunehmend von mechanischer Arbeitslast zu befreien, bleibt der Einzelne unfrei und die Gesellschaft kann sich nicht ordnen. Die Lösung hängt von der veränderten innerlichen Einstellung des Einzelnen zu seinem Werk, nicht von Verbesserungen der äußeren Lebensumstände ab. Der Wille zur Umstellung auf den neuen Geist ist deshalb von entscheidender Bedeutung für neue aufbauende Arbeit.

Das Weltgefühl einer Zeit kristallisiert sich deutlich in ihren Bauwerken, denn ihre geistigen und materiellen Fähigkeiten finden in ihnen gleichzeitig sichtbaren Ausdruck und für ihre Einheit oder Zerrissenheit geben sie sichere Zeichen. Ein lebendiger Baugeist, der im ganzen Land eines Volkes wurzelt, umschließt alle Gebiete menschlicher Gestaltung, alle „Künste“ und Techniken in seinem Bereich. Das heutige Bauen ist aus einer allumfassenden Gestaltungskunst zu einem Studium herabgesunken, in seiner grenzenlosen Verwirrung ist es ein Spiegel der alten zerrissenen Welt, der notwendige Zusammenhalt aller am Werk Vereinten ging darin verloren.

Ganz langsam bilden sich erst die neuen Elemente zum neuen Aufbau; denn die Entwicklung der Baugestalt – gebunden an den ungeheuren Aufwand technischer und stofflicher Mittel, ebenso wie an das Eingehen neuer Geistigkeiten über lange Erkenntnisreihen hinweg in das Bewußtsein der Schaffenden – folgt nur langsam der vorauseilenden Idee. Die Kunst zu Bauen ist an die Möglichkeit zu gemeinsamer Arbeit einer Vielheit von Schaffenden gebunden, denn ihre Werke sind im Gegensatz zum isolierten Einzel- oder Teilbildwerk orchestraler Art und mehr als diese Abbild für den Geist der Gesamtheit. Die Beschäftigung mit der Kunst des Bauens und ihren vielen Gestaltungszweigen ist also eine Lebensangelegenheit des ganzen Volkes, nicht eine Sache des Luxus. Die verbreitete Ansicht, Kunst sei Luxus, ist die verderbliche Folge des gestrigen Geistes, der die Erscheinungen isoliert (l’art pour l’art) und ihnen so das gemeinsame Leben nahm. Der neue Baugeist fordert von Grund auf neue Voraussetzungen für alle gestaltende Arbeit. Werkzeug jenes gestrigen Geistes ist die „Akademie“. Sie brachte die Entblutung des gesamten Werklebens – der Industrie und des Handwerkes – vom künstlerischen Menschen und dies zog dessen völlige Vereinsamung nach sich. In starken Zeiten wurde dagegen das gesamte gestaltende Werkleben des Volkes vom künstlerischen Menschen befruchtet, weil er mitten darin stand, weil er die gleiche Grundlage des werkmäßigen Könnens und Wissens in werktätiger Praxis, wie jeder andere Werkmann des Volkes, von unten herauf erworben hatte, weil nicht der verhängnisvolle und anmaßende Irrtum von Staats wegen gezüchtet wurde, Künstler sein sei ein erlernbarer Beruf. Kunst ist nicht erlernbar! Ob eine gestaltende Arbeit nur als Fertigkeit oder schöpferisch getan wird, hängt von der Begabung der Persönlichkeit ab. Diese kann nicht gelehrt und nicht gelernt werden, wohl aber ein Können der Hand und ein gründliches Wissen als Grundvoraussetzung für alle gestaltende Arbeit, für die Leistung des einfachen Arbeiters ebenso wie für die des genialen Künstlers.

Die Erziehung der Akademien dagegen hatte zur Wirkung, daß sich ein breites Kunstproletariat entwickelte, das schutzlos dem sozialen Elend preisgegeben war, weil es, in einen Genietraum eingelullt, zum Künstlerdünkel erzogen wurde, zu dem „Beruf“ des Architekten, Malers, Bildhauers oder Graphikers, ohne daß ihm das Rüstzeug der wirklichen Ausbildung gegeben wurde, das ihn allein im sozialen Existenzkampf auf eigene Füße zu stellen und damit auch in seinem künstlerischen Wollen unabhängig zu machen vermag. Sein Können war lediglich zeichnerisch-malerischer Art, ohne Bindung an die Realitäten des Stoffes, der Technik, der Wirtschaft und endete darum in ästhetischer Spekulation, da die reale Beziehung zum Leben der Gesamtheit nicht vorhanden war. Der pädagogische Grundfehler der Akademie war die Einstellung auf das außerordentliche Genie, anstatt auf den Durchschnitt, während sie trotzdem eine Unzahl kleiner Begabungen allein im Zeichnen und Malen ausbildete, von denen auf Tausend kaum einer zum wahrhaften Architekten oder Maler wurde. Die große Masse dieser mit falschen Hoffnungen einseitig ausgebildeten Akademiker blieb zu unfruchtbarer Kunstübung verdammt, ungerüstet zum Lebenskampf, und mußte zu den sozialen Drohnen gezählt werden, anstatt daß sie dem Werkleben des Volkes durch entsprechende Schulung nutzbar gemacht wurden.

Mit der Entwicklung der Akademien starb allmählich die wahre, das ganze Volksleben durchpulsende Volkskunst ab, und es blieb jene vom Leben isolierte Salonkunst übrig, die schließlich im 19. Jahrhundert nunmehr das Einzelbild ohne Beziehung zu einer größeren Baueinheit kannte. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begann aber eine Protestbewegung gegen die verheerenden Wirkungen der Akademien. Ruskin und Morris in England, van de Velde in Belgien, Olbricht, Behrens (Darmstädter Künstlerkolonie) und andere in Deutschland, endlich der „Deutsche Werkbund“, suchten und fanden bewußt erste Wege zur Wiedervereinigung der Werkwelt mit den schöpferischen Künstlern. In Deutschland entstanden die „Kunstgewerbeschulen“, die eine neue Generation der künstlerisch Begabten wirklich vorgebildet in Industrie und Handwerk einführen sollten. Aber der Akademismus steckte noch zu tief im Blut, die wirkliche Ausbildung blieb dilettantisch, der gezeichnete und gemalte „Entwurf“ stand noch immer im Vordergrund. Der Versuch war also noch nicht weit und tief genug angelegt, um gegen die alte, vom Leben abgewandte l’art pour l’art-Anschauung entscheidend Bahn zu brechen.

Auf der anderen Seite begann auch das Handwerk – und namentlich die Industrie – nach dem Künstler Umschau zu halten. Neben den bisherigen Forderungen nach technischer und wirtschaftlicher Vollkommenheit erwachte ein Verlangen nach der Schönheit der äußeren Form der Erzeugnisse, die der Techniker der Praxis ihnen nicht zu geben vermochte. Man kaufte den „künstlerischen Entwurf.“ Aber diese papierne Hilfe blieb ein untaugliches Mittel, denn der Künstler war zu weltfremd, zu wenig technisch und werklich geschult, um seine Formgedanken mit dem praktischen Werkvorgang der Ausführung in Einklang zu bringen, während es dem Kaufmann und Techniker an vorausschauender Einsicht dafür fehlte, daß die erstrebte Einheit von Form, Technik und Ökonomie aller Erzeugnisse nur in sorgfältig vorbereiteter Gemeinschaftsarbeit mit dem für die Form verantwortlichen Künstler am Werkobjekt selbst und bei seiner Herstellung erreicht werden kann.

Da die richtig geschulten künstlerischen Kräfte fehlen, die die mangelnde Einheit am Wirtschaftskörper zu vollziehen vermöchten, folgt daraus als Grundforderung für die künftige Bildung aller bildnerisch Begabten: Gründliche praktische Werkarbeit in produktiven Werkstätten eng verbunden mit einer exakten Lehre der Gestaltungselemente und ihrer Aufbaugesetze.

Alle bildnerische Arbeit will Raum gestalten. Soll aber jedes Teilwerk in Beziehung zu einer größeren Einheit stehen – und dieses muß das Ziel des neuen Bauwillens sein –, so müssen die realen und geistigen Mittel zur räumlichen Gestaltung von allen am gemeinsamen Werk Vereinten gekonnt und gewußt werden. Und hier herrscht große Verworrenheit der Begriffe. Was ist Raum, wie können wir ihn erfassen und gestalten?

Die Urelemente des Raums sind: Zahl und Bewegung. Durch die Zahl allein unterscheidet der Mensch die Dinge, begreift und ordnet mit ihr die stoffliche Welt. Erst durch die Teilbarkeit löst sich das Ding vom Urstoff ab und gewinnt eigene Form. Die Körper leben nicht durch sich selbst, sondern durch ihren Gedanken, ihre alleinige Bestimmung ist es, ihn zu tragen und festzuhalten. Die Kraft, die wir Bewegung nennen, ordnet die Zahlen. Beides, Zahl und Bewegung, ist eine Vorstellung unseres endlichen Gehirns, das den Begriff des Unendlichen nicht zu fassen vermag. Wir erleben wohl den unendlichen Raum kraft unserer Zugehörigkeit zum All, aber wir vermögen Raum nur mit endlichen Mitteln zu gestalten. Wir empfinden den Raum mit unserem ganzen unteilbaren Ich, zugleich mit Seele, Verstand und Leib und also gestalten wir ihn mit allen leiblichen Organen.

Der Mensch erfindet durch seine Intuition, durch seine metaphysische Kraft, die er aus dem All saugt, den stofflosen Raum des Scheins und der inneren Schauung, der Visionen und Einfälle; er fühlt die Zusammenhänge seiner Erscheinungsmittel, der Farben, Formen, Töne und versinnlicht mit ihnen Gesetze, Maße und Zahlen. Aber dieser Raum der Schauung drängt zur Verwirklichung in der stofflichen Welt; mit Geist – und Handwerk wird der Stoff bezwungen.

Das Hirn erdenkt den mathematischen Raum kraft des Verstandes durch Rechnung und Messung. Über die Gesetze der Mathematik, Optik und Astronomie schafft es ein Vorstellungs- und Darstellungsmittel für den zu erbauenden stofflichen Raum der Wirklichkeit durch das Mittel der Zeichnung.

Die Hand begreift den tastbaren stofflichen Raum der Wirklichkeit, der außer uns liegt; sie erbaut ihn in der Realität nach den Gesetzen des Stoffs und der Mechanik und mißt und wägt die stoffliche Substanz, die ihn bestimmt, und ihre Festigkeit ebenso wie ihre mechanischen und konstruktiven Eigenschaften. Sie meistert ihn durch das Können des Handwerks mit Hilfe von Werkzeug und Maschine.

Der schöpferische Vorgang einer Raumvorstellung und -gestaltung ist jedoch immer ein gleichzeitiger, nur die Einzelentwicklung der Organe des Individuums für das Fühlen, das Wissen und das Können ist wechselreich und verschieden im Tempo. Den bewegten lebendigen künstlerischen Raum vermag nur der zu erschaffen, dessen Wissen und Können allen natürlichen Gesetzen der Statik, Mechanik, Optik, Akustik gehorcht und in ihrer gemeinsamen Beherrschung das sichere Mittel findet, die geistige Idee, die er in sich trägt, leibhaftig und lebendig zu machen. Im künstlerischen Raum finden alle Gesetze der realen, der geistigen und der seelischen Welt eine gleichzeitige Lösung.

Diese Voraussetzungen bestimmen Breite und Tiefe des Aufbaus für eine umfassende Schulung der bildnerisch tätigen Menschen. Im „Staatlichen Bauhaus in Weimar“ wurde zum erstenmal der Versuch auf breiter Basis begonnen, diese Voraussetzungen entschlossen in der Praxis zu erfüllen.

Im Frühjahr 1919 übernahm der Verfasser die Leitung der ehemaligen Großherzoglich Sächsischen Hochschule für bildende Kunst und der ehemaligen „Großherzoglich Sächsischen Kunstgewerbeschule“ und vereinigte sie unter dem neuen Namen „Staatliches Bauhaus“. Das spekulative Arbeitsfeld einer Akademie, verbunden mit der Werkarbeit einer Kunstgewerbeschule, sollte den Rahmen für einen neuen, umfassenden Ausbildungsplan für künstlerisch Begabte liefern. Der Leitsatz, unter dem die Arbeit begonnen wurde, lautet: „Das Bauhaus erstrebt die Sammlung alles künstlerischen Schaffens zur Einheit, die Wiedervereinigung aller werkkünstlerischen Disziplin zu einer neuen Baukunst als deren unablösliche Bestandteile. Das letzte, wenn auch ferne Ziel des Bauhauses ist das Einheitskunstwerk – der große Bau –, in dem es keine Grenze gibt zwischen monumentaler und dekorativer Kunst.“

Der beherrschende Gedanke des Bauhauses ist also die Idee der neuen Einheit, die Sammlung der vielen „Künste“, „Richtungen“ und Erscheinungen zu einem unteilbaren Ganzen, das im Menschen selbst verankert ist und erst durch das lebendige Leben Sinn und Bedeutung gewinnt.

Von dem richtigen Gleichgewicht der Arbeit aller schöpferischen Organe hängt die Leistung des Menschen ab. Es genügt nicht, das eine oder das andere zu schulen, sondern alles zugleich bedarf der gründlichen Bildung. Daraus ergibt sich Art und Umfang der Bauhauslehre. Sie umfaßt die handwerklichen und wissenschaftlichen Gebiete des bildnerischen Schaffens.

Die Lehre gliedert sich in:

1. Werklehre für:

I. Stein II. Holz III. Metall IV. Ton V. Glas VI. Farbe VII. Gewebe

Ergänzende Lehrgebiete:
a. Material- und Werkzeugkunde
b. Grundbegriffe von Buchführung, Preisberechnung, Vertragsabschlüssen

2. Formlehre:

I. Anschauung
1. Naturstudium
2. Lehre von den Stoffen

II. Darstellung
1. Projektionslehre
2. Lehre der Konstruktionen
3. Werkzeichnen und Modellbau für alle räumlichen Gebilde

III. Gestaltung
1. Raumlehre
2. Farblehre
3. Kompositionslehre

Ergänzende Lehrgebiete:
Vorträge aus allen Gebieten der Kunst und Wissenschaft aus Vergangenheit und Gegenwart.
Der Gang der Ausbildung umfaßt drei Abschnitte:

1. Die Vorlehre
Dauer: ein halbes Jahr. Elementarer Formunterricht in Verbindung mit Materialübungen in der besonderen Werkstatt für die Vorlehre.
Ergebnis: Aufnahme in eine Lehrwerkstatt.

2. Die Werklehre
in einer der Lehrwerkstätten unter Abschluß eines gesetzlichen Lehrbriefes und die ergänzende Formlehre.
Dauer: 3 Jahre
Ergebnis: Gesellenbrief der Handwerkskammer, gegebenenfalls des Bauhauses.

3. Die Baulehre
Handwerkliche Mitarbeit am Bau (auf Bauplätzen der Praxis) und freie Ausbildung im Bauen (auf dem Probierplatz des Bauhauses) für besonders befähigte Gesellen. Dauer: je nach der Leistung und nach den Umständen. Bau- und Probierplatz dienen im gegenseitigen Austausch zur Fortsetzung der Werklehre und der Formlehre.
Ergebnis: Der Meisterbrief der Handwerkskammer, gegebenenfalls des Bauhauses.
Während der ganzen Dauer der Ausbildung wird auf der Einheitsgrundlage von Ton, Farbe und Form eine praktische Harmonisierungslehre erteilt mit dem Ziele, die physischen und psychischen Eigenschaften des Einzelnen zum Ausgleich zu bringen.

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Die Bühne

Das Bühnenwerk ist als orchestrale Einheit dem Werk der Baukunst innerlich verwandt, beide empfangen und geben einander wechselseitig. Wie im Bauwerk alle Glieder ihr eigenes Ich verlassen zugunsten einer höheren gemeinsamen Lebendigkeit des Gesamtwerks, so sammelt sich auch im Bühnenwerk eine Vielheit künstlerischer Probleme, nach diesen übergeordnetem eignem Gesetz, zu einer neuen größeren Einheit.

In ihrem Urgrund entstammt die Bühne einer metaphysischen Sehnsucht, sie dient also dem Sinnfälligmachen einer übersinnlichen Idee. Die Kraft ihrer Wirkung auf die Seele des Zuschauers und Zuhörers ist also abhängig von dem Gelingen einer Umsetzung der Idee in sinnfällig-optisch und akustisch wahrnehmbaren Raum.

Das Bauhaus arbeitet an der Entwicklung dieser Bühne. Eine Reinigung und Erneuerung der heutigen Bühne, die, wie es scheint, die tiefsten Beziehungen zur menschlichen Empfindungswelt verlor, kann nur von denen getan werden, die frei von persönlichen Vorteilen und den Hemmungen des Geschäftstheaters, von einem gemeinsamen, alles wieder einenden Brennpunkt ausgehend, eine elementare Klärung des umfassenden Problems der Bühne in allen ihren praktischen und theoretischen Auswirkungen hingebungsvoll erarbeiten.

Diese Erkenntnis diktiert der Bauhausbühne ihren Arbeitsweg: Klare Neufassung des verwickelten Gesamtproblems der Bühne und ihre Herleitung von dem Urgrund ihrer Entstehung bildet den Ausgangspunkt der Bühnenarbeit. Die einzelnen Probleme des Raumes, des Körpers, der Bewegung, der Form, des Lichtes, der Farbe und des Tons werden erforscht, die Bewegung des organischen und des mechanischen Körpers, der Sprachton und der Musikton wird gebildet, der Bühnenraum und die Bühnenfigur gebaut. Die bewußte Anwendung der Gesetze der Mechanik, der Optik und der Akustik ist entscheidend für die gesuchte Bühnengestalt.

Die Bauhausbühne sucht neue Möglichkeiten zu finden, die jener metaphysischen Sehnsucht Nahrung zu geben und sie zugleich zu befriedigen vermögen. Sie wünscht durch ihre schöpferische Arbeit, statt nur ästhetischer Genüsse, wieder ursprüngliche Freude zu geben, die mit allen Sinnen empfangen wird.

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Ein Organismus, der auf neuen Lebensgrundlagen aufbaut, verfällt leicht der Abschnürung, wenn er sich nicht gründlich mit allen Fragen der Umwelt praktisch auseinandersetzt. Trotz aller Schwierigkeiten für die praktische Verwirklichung kann die Basis, auf der die Bauhausarbeit wächst, nicht breit genug sein und seine Ziele mußten auf lange Sicht eingestellt werden, um halbe Maßnahmen zu vermeiden. Die Verantwortung des Bauhauses besteht darin, Menschen heranzubilden, die die Welt, in der sie leben, erkennen und die aus der Verbindung ihrer Erkenntnisse und ihres erworbenen Könnens heraus typische, diese Welt versinnbildlichende Formen ersinnen und gestalten. Deshalb muß das Feld der Ausbildung nach allen Seiten hin auch auf verwandte Bezirke ausgedehnt werden, damit die Auswirkung der neuen Versuche in lückenloser Folge erprobt werden kann. Von ausschlaggebender Bedeutung ist die Vorbildung der Kinder. Denn bei den Jüngsten, Unverbildeten muß begonnen werden. Die neuen, auf Werkarbeit aufgebauten Schultypen (Montessorischule, Arbeitsschule) geben eine gute Vorbereitung für eine aufbauende, breit eingestellte Arbeit, wie sie das Bauhaus will, da sie bewußt dem ganzen menschlichen Organismus Entwicklung geben, während die bisherigen Schulen durch ihre fast ausschließliche Kopfarbeit die Harmonie des Individuums zerstörten. Das Bauhaus hat mit den neuen praktischen Versuchen auf dem schulischen Gebiet Verbindung aufgenommen.

Die vielseitigen Gedanken und Probleme, die sich aus der Grundidee des Bauhauses entwickelten, sind in den ersten vier Jahren aufbauender Arbeit allen äußeren Widrigkeiten der Zeit zum Trotz in ihrem Grundkern praktisch erprobt worden; ihre zeugende Kraft und ihre reinigende Wirkung für das gesamte Leben hat sich erwiesen.

Quelle: Walter Gropius, „Idee und Aufbau des Staatlichen Bauhauses“, in Karl Nierendorf, László Moholy-Nagy, Herbert Bayer, und Bauhaus, Hrsg., Staatliches Bauhaus, Weimar, 1919-1923. Weimar; München: Bauhausverlag, 1923, S. 7-10, 17-18. Online verfügbar unter: http://digital.slub-dresden.de/id477145469/1

Hans M. Wingler, Das Bauhaus, 1919-1933: Weimar, Dessau, Berlin und die Nachfolge in Chicago seit 1937. 3. Aufl. Bramsche: Gebr. Rasch, 1975, c1962.

Walter Gropius, „Idee und Aufbau des Staatlichen Bauhauses“ (1923), veröffentlicht in: German History Intersections, <https://germanhistory-intersections.org/de/wissen-und-bildung/ghis:document-203> [23.10.2024].