Erich von Manstein erklärt die deutsche Niederlage (Rückblick, 1955)

Kurzbeschreibung

In seinen nach dem Zweiten Weltkrieg veröffentlichten Memoiren schrieb Feldmarschall Erich von Manstein (1887-1973) die Niederlage Deutschlands nicht den deutschen Soldaten oder Offizieren zu, sondern den Fehlern Adolf Hitlers und der zahlenmäßigen Überlegenheit Russlands.

Quelle

HITLER IN DER AUSÜBUNG DES MILITÄRISCHEN OBERBEFEHLS

Mit der Ernennung zum Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Don trat ich zum erstenmal unmittelbar unter den Befehl Hitlers als Oberbefehlshaber der Wehrmacht und des Heeres. Erst damit kam ich in die Lage, die Art, in der er versuchte, neben der Staatsführung auch die Aufgabe des Feldherrn zu erfüllen, wirklich kennenzulernen und beurteilen zu können. Bis dahin hatte ich seine Einwirkung auf die militärische Führung doch nur aus der Ferne und mittelbar verspürt. Angesichts der strengen Geheimhaltung, mit der alle operativen Fragen umgeben wurden, konnte ich kein begründetes eigenes Urteil haben.

Während des polnischen Feldzuges waren uns Eingriffe Hitlers in die Führung des Heeres nicht bekannt geworden. Bei seinen zweimaligen Besuchen bei der Heeres-Gruppe von Rundstedt hatte er unsere Darlegungen über die Lage und über die Absichten unseres Ob.Kdo. mit Verständnis angehört und ihnen zugestimmt, ohne den Versuch irgendwelchen Hereinredens zu machen.

Über den Plan für die Besetzung Norwegens war den Außenstehenden überhaupt nichts bekannt geworden.

Hitlers Haltung in der Frage der Westoffensive ist bereits eingehend geschildert worden. Sicher war ebenso bedauerlich, wie bedenklich, daß er in dieser Frage das OKH völlig überfahren hatte. Immerhin war zuzugeben, daß seine Auffassung, man müsse im Westen eine offensive Entscheidung suchen, grundsätzlich — wenn auch nicht hinsichtlich des von ihm ursprünglich gewünschten Zeitpunktes — vom militärischen Gesichtspunkt aus richtig war. Gewiß, er hatte für die von ihm befohlene Offensive die Grundzüge eines Operationsplans festgelegt, der — wie früher erörtert —, kaum zu einer vollen Entscheidung hätte führen können. Er hatte selbst wohl zunächst nicht an die Möglichkeit geglaubt, eine Entscheidung in dem Umfange zu erzielen, den sie dann tatsächlich gewann. Aber er hatte doch, als der ihm vorgetragene Plan des Ob.Kdo. d.H.Gr. A eine solche Möglichkeit in Aussicht stellte, diesen Operationsgedanken sofort erfaßt. Er hatte ihn sich — wenn auch mit gewissen Einschränkungen, die eine Scheu vor dem Risiko erkennen ließen — zu eigen gemacht. Sein entscheidender Fehler, die Panzerverbände vor Dünkirchen anzuhalten, war für Außenstehende seinerzeit nicht so deutlich sichtbar geworden, weil darüber fast nichts verlautete. Das Bild, welches der Strand um Dünkirchen mit den Unmengen zurückgelassenen Materials bot, täuschte uns, die wir noch nicht wußten, in welch außerordentlichem Umfange es den Briten gelungen war, ihre Soldaten über den Kanal zu retten.

Das Fehlen eines „Kriegsplans“, der eine zeitgerechte Vorbereitung der Invasion ermöglicht hätte, hatte allerdings ein Versagen der Wehrmachtführung, also Hitlers, deutlich gemacht. Anderseits war für den Fernerstehenden nicht zu beurteilen, ob der Entschluß, sich nunmehr gegen die Sowjetunion zu wenden, aus politischen Gründen unausweichlich war. Der sowjetische Aufmarsch an unserer und an der ungarischen bzw. rumänischen Grenze erschien jedenfalls bedrohlich genug.

Über Hitlers Einwirkung auf den Operationsplan gegen die Sowjetunion, wie auf die Durchführung der Operationen in der ersten Phase des Feldzuges erfuhr ich als Kommandierender General, wie als Oberbefehlshaber der 11. Armee ebensowenig wie über die Pläne für die Sommeroffensive 1942. In die Führung des Feldzugs auf der Krim hatte Hitler jedenfalls nicht eingegriffen. Er hatte vielmehr gelegentlich meines Vortrags im Frühjahr 1942 unseren Absichten anstandslos zugestimmt und zweifellos alles getan, um den Erfolg bei Sewastopol zu ermöglichen. Daß ich die Verwendung der 11. Armee nach dem Fall der Festung für fehlerhaft ansah, ist bereits gesagt worden.

Nunmehr aber — als Oberbefehlshaber einer Heeres-Gruppe Hitler unmittelbar unterstellt — sollte ich ihn in der Ausübung des militärischen Oberbefehls erst wirklich kennenlernen.

Man kann Hitler in der Rolle eines militärischen Führers gewiß nicht mit dem Schlagwort von dem „Gefreiten des Ersten Weltkrieges“ abtun.

Er besaß zweifellos einen gewissen Blick für operative Möglichkeiten, der sich bereits bei seiner Entscheidung für den Plan der Heeres-Gruppe A im Westen gezeigt hatte. Einen solchen Blick kann man öfters auch bei militärischen Laien finden. Sonst wüßte die Kriegsgeschichte nicht von so manchem Fürsten oder Prinzen als erfolgreichem Heerführer zu berichten.

Darüber hinaus aber verfügte Hitler über ein erstaunliches Wissen und Gedächtnis, wie über schöpferische Phantasie in Bezug auf technische Fragen und auf alle Probleme der Rüstung. Er konnte mit einer verblüffenden Kenntnis der Wirkung auch neuer feindlicher Waffen wie mit eigenen und gegnerischen Produktionszahlen aufwarten. Hiervon machte er mit Vorliebe Gebrauch, wenn er von ihm nicht genehmen Erörterungen ablenken wollte. Es unterliegt keinem Zweifel, daß er auf dem Gebiete der Rüstung vieles mit Verständnis und außerordentlicher Energie vorangetrieben hat. Der Glaube an seine Überlegenheit in diesen Fragen hat aber verhängnisvolle Folgen gehabt. Durch seine Eingriffe hat er die stetige und rechtzeitige Weiterentwicklung der Luftwaffe verhindert. Auch auf dem Gebiete der Entwicklung des Raketenantriebs und der Atomwaffe hat er zweifellos hemmend gewirkt.

Das Interesse für alles Technische verleitete Hitler zudem zur Überschätzung technischer Mittel. So glaubte er z. B., mit einigen Sturmgeschützabteilungen oder durch die neuen Tiger-Panzer Lagen wiederherstellen zu können, in denen nur der Einsatz großer Verbände Erfolg versprechen konnte.

Im Ganzen gesehen fehlte ihm eben doch das auf Erfahrung beruhende militärische Können, das seine „Intuition“ nun einmal nicht ersetzen konnte.

Wenn Hitler, wie gesagt, auch einen gewissen Blick für operative Chancen besaß, bzw. diese schnell erfassen konnte, wenn ein anderer sie ihm darbot, so fehlte ihm doch das Urteil über die Vorbedingungen und Möglichkeiten der Durchführung eines operativen Gedankens. Er ermangelte des Verständnisses für das Verhältnis, in dem jede operative Zielsetzung und die sich aus ihr ergebende Weiträumigkeit einer Operation zu dem Zeit- und Kräftebedarf stehen müssen. Gar nicht zu sprechen von ihrer Abhängigkeit von den Nachschubmöglichkeiten. Er begriff nicht, oder wollte nicht begreifen, daß z. B. jede weitreichende Offensivoperation über die Zahl der für den ersten Angriff erforderlichen Kräfte hinaus einer ständigen Nährung bedarf. All dies hat sich besonders eklatant bei der Anlage und Durchführung der Sommeroffensive 1942 gezeigt. Auch der phantastische Gedanke, im nächsten Jahr mit einer motorisierten Heeresgruppe über den Kaukasus nach dem Nahen Osten und darüber hinaus auf Indien vorstoßen zu wollen, den er mir im Herbst 1942 offenbarte, gehört hierher.

Wie auf politischem Gebiet — jedenfalls nach seinen Erfolgen im Jahre 1938 —, so fehlte Hitler auch auf dem militärischen Gebiet das Maß für das Erreichbare. Im Herbst 1939 hatte er trotz seiner Geringschätzung der Widerstandskraft Frankreichs zunächst die Möglichkeit eines durchschlagenden Erfolges einer richtig angelegten deutschen Offensive im Westen nicht erkannt. Nachdem dieser Erfolg aber eingetreten war, verlor er den Blick für das Mögliche unter Verhältnissen, die anders lagen. Es fehlte ihm in beiden Fällen die wirkliche strategische bzw. operative Schulung.

So ergriff sein lebhafter Geist wohl jedes lockende Ziel, aber in der Folge mit dem Ergebnis, daß er die deutsche Kraft auf mehrere Ziele zugleich bzw. auf den verschiedensten Kriegsschauplätzen zersplitterte. Die Regel, daß man an der entscheidenden Stelle nicht stark genug sein kann, daß man notfalls auf Nebenfronten verzichten oder ein entsprechendes Risiko durch ihre durchgreifende Schwächung eingehen muß, um das entscheidende Ziel zu erreichen, fand bei ihm kein wirkliches Verständnis. So brachte er es nicht über sich, bei den Offensiven der Jahre 1942 und 1943 alles an den Erfolg zu setzen. Noch war er fähig oder willens zu übersehen, was notwendig sein werde, um die alsdann eingetretene ungünstige Entwicklung der Lage auszugleichen.

Was nun die operativen Ziele Hitlers — wenigstens im Kampf mit der Sowjetunion — anging, so waren sie weitgehend durch politische und kriegswirtschaftliche Erwägungen bedingt. Dies wurde bereits in den einleitenden Bemerkungen zum Rußlandfeldzug angedeutet und wird auch bei der Schilderung der Abwehrkämpfe der Jahre 1943/44 in Erscheinung treten.

Sicherlich spielen politische und in der heutigen Zeit besonders kriegswirtschaftliche Fragen bei der strategischen Zielsetzung eine wesentliche Rolle. Was Hitler jedoch übersah, war, daß das Gewinnen, vor allem aber das Behaupten eines territorialen Zieles die Überwindung der feindlichen Wehrmacht zur Voraussetzung hat. Solange dieses militärische Ergebnis nicht erreicht ist, bleibt — wie der Kampf gegen die Sowjetunion gezeigt hat — das Gewinnen kriegswirtschaftlich wertvoller Gebiete, also das Erreichen territorialer Ziele, problematisch, ihr Halten auf die Dauer unmöglich. Die Zeiten, in denen man durch den Einsatz der Luftwaffe oder von Fernwaffen die Quellen der feindlichen Rüstung und das gegnerische Transportsystem so hätte zerstören können, daß der feindlichen Wehrmacht die Fortführung des Kampfes unmöglich würde, waren noch nicht gekommen.

So sicher die Strategie die Dienerin der politischen Führung zu sein hat, so darf doch diese das strategische Ziel jedes Krieges, die feindliche militärische Widerstandskraft zu brechen, nicht in dem Maße Außer Acht Lassen, wie dies bei Hitlers operativer Zielsetzung der Fall gewesen ist. Erst der Sieg macht den Weg zum Erreichen politischer und wirtschaftlicher Ziele frei.

Damit komme ich zu dem wohl entscheidensten Faktor, der Hitlers Führung bestimmte: Die Überschätzung der Macht des Willens. Seines Willens, der sich nur bis zum jüngsten Grenadier in die Gläubigkeit umzusetzen hätte, um die Richtigkeit seiner Entscheidungen zu bestätigen, den Erfolg seiner Befehle sicherzustellen.

Ein starker Wille ist für den Feldherrn selbstverständlich eine der wesentlichen Voraussetzungen des Sieges. So manche Schlacht ist verloren gegangen, so mancher Erfolg verschenkt worden, weil bei dem Führer im entscheidenden Augenblick der Wille erlahmte.

Der Wille eines Feldherrn zum Sieg, der dessen Seele stark macht, auch schwere Krisen durchzustehen, ist aber etwas anderes, als es der Wille Hitlers war, der letzten Endes dem Glauben an seine „Sendung“ entsprang. Ein solcher Glaube führt unweigerlich zur Starrheit, wie zu der Meinung, daß der eigene Wille selbst über die Grenzen, die die harte Wirklichkeit vor ihm aufrichtet, hinausgreifen könne. Mochten diese Grenzen nun in dem Vorhandensein vielfach überlegener Feindkräfte, in den Bedingungen von Raum und Zeit oder auch nur in der Tatsache liegen, daß ja schließlich auch der Gegner einen Willen besaß.

Die vermutbaren Absichten der feindlichen Führung von vornherein in sein Kalkül einzubeziehen, war Hitler im allgemeinen wenig geneigt in der Überzeugung, daß sein Wille ja schließlich doch triumphieren werde. Ebenso wenig war er bereit, selbst die zuverlässigsten Angaben über eine vielleicht vielfache Überlegenheit des Gegners anzuerkennen. Er lehnte sie ab, oder bagatellisierte sie durch Behauptungen über Mängel der gegnerischen Verbände, oder er nahm zu endlosen Aufzählungen eigener Produktionszahlen seine Zuflucht. So schieden gegenüber seinem Willen die wesentlichen Elemente einer „Beurteilung der Lage“, aus welcher der Entschluß jedes militärischen Führers hervorgehen muß, mehr oder weniger aus. Damit aber verließ Hitler den Boden der Wirklichkeit.

Das merkwürdige war nur, daß dieser Überschätzung der Macht des eigenen Willens, diesem Hinweggehen über die möglichen Absichten und Kräfte des Feindes nicht eine entsprechende Kühnheit des Entschlusses entsprach. Hitler, der nach den Erfolgen, die er auf dem Felde der Politik bis 1938 errungen hatte, politisch zum Hasardeur geworden war, scheute auf dem militärischen Gebiet vor dem Risiko zurück. Als militärisch kühner Entschluß ist Hitler eigentlich nur der zur Besetzung Norwegens anzurechnen, obwohl auch dazu die erste Anregung von Großadmiral Raeder gekommen war. Aber selbst hier war Hitler, sobald es bei Narvik zu einer Krise kam, drauf und dran, die Räumung der Stadt zu befehlen und damit das wesentliche Ziel der ganzen Operation, die Freihaltung der Erzzufuhr, preiszugeben. Auch bei der Durchführung der Westoffensive hat sich, wie bereits früher erörtert, eine gewisse Scheu Hitlers, ein militärisches Risiko einzugehen, gezeigt. Der Entschluß, die Sowjetunion anzugreifen, war letzten Endes die zwangsläufige Folge des Verzichts auf eine Invasion Englands, deren Risiko Hitler wiederum zu groß erschienen war.

Im Verlauf des Rußlandfeldzuges zeigte sich die Scheu vor dem Risiko auf zweierlei Weise. Einmal, wie später dargelegt werden wird, in der Ablehnung jeder beweglichen Operationsführung, welche — wie die Dinge nun einmal vom Jahre 1943 ab lagen — nur durch freiwillige, wenn auch vorübergehende Preisgabe eroberter Gebiete zu ermöglichen war. Zum zweiten in der Scheu, Nebenfronten oder Nebenkriegsschauplätze zu Gunsten der Stelle, an der die Entscheidung fallen mußte, auch auf nicht zu leugnende Gefahren hin zu entblößen.

Dies Ausweichen vor dem Risiko auf militärischem Gebiet mag dreierlei Gründe gehabt haben. Einmal das uneingestandene Gefühl Hitlers, daß ihm das militärische Können fehle, gegebenenfalls mit einem solchen Risiko fertigzuwerden. Was er sich in seinem Inneren aber nicht selbst zutrauen mochte, das traute er noch weniger seinen Generalen zu. Zum zweiten die Besorgnis, die jeder Diktator hegen muß, daß etwa eintretende Fehlschläge sein Prestige erschüttern könnten. Wobei im Enderfolg durch die so unvermeidlich entstehenden militärischen Fehler ein um so größerer Prestigeverlust herauszukommen pflegt. Drittens Hitlers in seinem Machttrieb wurzelnde Abneigung, irgend etwas, von dem er einmal Besitz ergriffen hatte, aufzugeben.

Im Zusammenhang mit dem Gesagten muß eine andere Eigenschaft Hitlers erwähnt werden, gegen die während der Zeit, in der ich das Kommando über die Heeresgruppe führte, sowohl sein Generalstabschef, Generaloberst Zeitzler, wie auch ich, immer wieder vergeblich anzukämpfen hatten.

Hitler liebte es, jede Entscheidung, die ihm nicht genehm war, um die er aber doch nicht herumkommen konnte, solange wie möglich hinauszuzögern. Dies war jedesmal der Fall, wenn es darum ging, einen nach der Lage vorauszusehenden operativen Erfolg des Gegners durch rechtzeitigen Kräfteeinsatz zu verhindern oder der Ausweitung eines solchen einen Riegel vorzuschieben. Es bedurfte eines tagelangen Kampfes des Generalstabschefs mit Hitler, wenn es sich darum handelte, von zur Zeit weniger bedrohten Frontabschnitten Kräfte für Krisenstellen freizumachen. Meist gab er zu spät und zu wenig — mit dem Ergebnis, daß er in der Folge ein Mehrfaches an Kräften hergeben mußte, als es bedurft hätte, die Lage wieder herzustellen, wenn er das anfangs Geforderte sogleich gewährt hätte. Wochenlang aber mußte gekämpft werden, wenn es darum ging, eine praktisch unhaltbare Position (wie zum Beispiel 1943 das Donez-Gebiet oder 1944 den Dnjepr-Bogen) aufzugeben. Das gleiche war der Fall, wenn es sich darum handelte, operativ bedeutungslose, vorspringende Frontbogen an zur Zeit nicht gefährdeten Teilen der Front zu räumen, um Kräfte zu gewinnen. Immer glaubte Hitler wohl, daß die Dinge doch noch nach seinem Willen laufen würden und er um Entschlüsse herumkommen könnte, die ihm schon deshalb widerstrebten, weil sie eine Anerkenntnis der Tatsache bedeuteten, daß er dem Handeln des Gegners Rechnung tragen müßte. Zugleich scheute er davor zurück, an den zu schwächenden Frontteilen ein Risiko einzugehen.

Die Überbewertung der Macht des eigenen Willens, eine gewisse Scheu, in beweglicher Operationsführung (zum Beispiel in Gestalt eines Schlagens erst aus der Nachhand, eines „retour offensif“) ein Risiko einzugehen, dessen guter Ausgang nicht im voraus zu garantieren war, und Hitlers Abneigung, überhaupt etwas freiwillig aufzugeben, haben, je länger je mehr, seine militärische Führung bestimmt.

Die starre Verteidigung jedes Fußbreits Boden wurde allmählich zum alleinigen Prinzip seiner Führung. Nachdem die deutsche Wehrmacht ihre außerordentlichen Erfolge in den ersten Kriegsjahren durch bewegliche Operationsführung errungen hatte, übernahm also Hitler, als vor Moskau die erste Krise eintrat, von Stalin das Rezept des sturen Haltens jeder Position. Ein Rezept, das die sowjetische Führung im Jahre 1941 so nahe an den Abgrund gebracht hatte, daß sie anläßlich der deutschen Offensive 1942 von ihm abging.

Nachdem aber in jenem Winter 1941 die sowjetische Gegenoffensive schließlich an dem Widerstand unserer Truppen erlahmt war, war Hitler überzeugt, daß allein sein Verbot jedes freiwilligen Ausweichens das deutsche Heer vor dem Schicksal des napoleonischen des Jahres 1812 gerettet habe. In dieser Überzeugung wurde er allerdings durch die Zustimmung seiner Umgebung, wie auch mancher Frontbefehlshaber bestärkt. Als es dann im Herbst 1942 nach Festlaufen der deutschen Offensive vor Stalingrad und im Kaukasus zu einer neuen Krise kam, glaubte Hitler wiederum, das arcanum des Erfolges im starren Festhalten um jeden Preis gefunden zu haben. Er ist auch in der Folge von dieser Ansicht grundsätzlich nicht mehr abzubringen gewesen.

Nun ist allgemein anerkannt, daß an sich die Verteidigung die stärkere Form des Kampfes ist. Dies trifft aber doch nur zu, wenn sie so wirksam gestaltet werden kann, daß der Gegner sich vor der Abwehrfront im Angriff verblutet. Davon konnte jedoch im Osten keine Rede sein. Die Zahl der verfügbaren deutschen Divisionen reichte nie aus, um eine derartig starke Verteidigung aufzubauen. Dem vielfach überlegenen Gegner blieb es immer möglich, durch Massierung seiner Kräfte an beliebigen Punkten Durchbrüche durch die allzuweit gedehnten Fronten zu erzielen. Mit dem Erfolg, daß dann namhafte deutsche Kräfte der Einkesselung nicht mehr entgehen konnten. Nur in beweglicher Operationsführung hätte die Überlegenheit der deutschen Führung und Truppe zur Geltung gebracht werden und damit schließlich vielleicht das Erlahmen der Kräfte der Sowjetunion erreicht werden können.

Auf die Auswirkungen des von Hitler immer stärker betonten Grundsatzes des „Haltens um jeden Preis“ wird bei der Schilderung des Abwehrkampfes im Osten in den Jahren 1943/44 noch näher einzugehen sein. Wenn Hitler immer stärker auf diesem Prinzip beharrte, so lag dies zutiefst in seinem Charakter begründet. Er war ein Mann, der nur noch den brutalen Kampf bis zum Äußersten kannte. Seinem Denken entsprach mehr das Wunschbild vor unseren Linien verblutender feindlicher Massen, als das Bild des eleganten Fechters, der auch einmal auszuweichen versteht, um dann um so sicherer den entscheidenden Stoß führen zu können. Dem Begriff der Kriegskunst setzte er letzten Endes den der brutalen Gewalt entgegen, einer Gewalt, deren vollste Wirksamkeit durch die Macht des Willens, der hinter ihr stehe, garantiert werde.

Wenn Hitler so die Macht der Gewalt über die des Geistes stellte, wohl die Tapferkeit des Soldaten, nicht aber in gleichem Maße das Können wertete, so kann es nicht verwundern, daß er, wie der Überbewertung technischer Mittel, so auch der „rage du nombre“ verfiel. Er berauschte sich an den Produktionszahlen der deutschen Rüstungsindustrie, die er zweifellos in erstaunlichem Ausmaß in die Höhe getrieben hat (wobei er allerdings gern darüber hinwegging, daß die feindlichen Rüstungszahlen noch weit höher lagen).

Aber er übersah, was daneben an Ausbildung und Können gehört, um eine neue Waffe erst zur vollen Wirksamkeit zu bringen. Ihm genügte es, wenn die neuen Waffen an die Front kamen. Gleichviel, ob die mit ihnen ausgerüsteten Verbände ihren Gebrauch bereits beherrschten, oder ob die Waffe überhaupt schon unter kriegsmäßigen Verhältnissen erprobt war.

Im gleichen Sinne befahl Hitler die Aufstellung immer neuer Divisionen. Nun war zweifellos eine Vermehrung der Zahl unserer großen Verbände durchaus erwünscht. Jedoch ihre Aufstellung mußte auf Kosten des Ersatzes der bestehenden Divisionen gehen. Diese bluteten bis zum letzten aus. Die Neuaufstellungen aber hatten infolge ihrer unzureichenden Kampferfahrung zunächst einmal einen überhohen Blutzoll zu zahlen. Die bereits erwähnte Aufstellung von Luftwaffen-Felddivisionen, aber auch immer neuer SS- und schließlich der sogenannten Volksgrenadier-Divisionen sind die markantesten Beispiele.

Schließlich sei noch erwähnt, daß Hitler zwar stets seine soldatische Einstellung betonte und gern erwähnte, daß er seine militärischen Erfahrungen als Frontsoldat gewonnen habe. In Wahrheit lag seinem innersten Wesen soldatisches Denken und Fühlen fern. Ebenso wie das Gebaren seiner Partei mit preußischem Wesen, auf das sie sich so gern berief, nichts zu tun hatte.

Wohl war Hitler über die Zustände an der Front durch die Berichte der H.Gr., Armeen usw. völlig eindeutig unterrichtet. Er ließ sich auch öfters durch Frontoffiziere unmittelbar mündlich vortragen. Er kannte also nicht nur die Leistungen unserer Truppen, sondern wußte auch von dem, was sie infolge dauernder Überbeanspruchung seit Beginn des Feldzuges gegen die Sowjetunion zu erdulden hatten. Vielleicht ist dieses Wissen mit ein Grund dafür gewesen, daß es im Osten nicht gelungen ist, Hitler an die Front zu bringen. Es war schon schwierig genug, ihn zu einem Besuch bei unserem H.Gr.Kdo. zu bewegen; darüber hinaus weiter nach vorn zu fahren, ist ihm niemals in den Sinn gekommen. Vielleicht scheute er die Möglichkeit, daß solche Fahrten seinen Wunschtraum von der Unüberwindlichkeit seines Willens zerstören würden.

So sehr Hitler gelegentlich seine frühere Frontkämpfereigenschaft hervorhob, so habe ich doch nie das Gefühl gehabt, daß sein Herz der Truppe gehört hätte. Verluste waren für ihn nur Zahlen, die die Kampfkraft verminderten. Menschlich dürften sie ihn kaum ernstlich berührt haben.

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Wie er die Macht seines Willens als den ausschlaggebenden Faktor in jeder Hinsicht ansah, so hatten ihn seine politischen Erfolge, aber auch die militärischen Siege der ersten Kriegsjahre, die er sich selbst zuschrieb, das Maß für die Einschätzung der eigenen Fähigkeiten immer mehr verlieren lassen. Die Annahme von Ratschlägen eines mitverantwortlichen Generalstabschefs hätte für ihn nicht mehr eine Ergänzung des eigenen, sondern das Beugen seines Willens vor dem eines anderen bedeutet. Es kam hinzu, daß ihn als Folge seiner Herkunft und seines Werdeganges ein unüberwindbares Mißtrauen gegenüber den militärischen Führern beseelte. Zu deren aus einer anderen Sphäre stammendem Wesen und Denken eröffnete sich ihm kein Zugang. So war er nicht bereit, einen wirklich verantwortlichen militärischen Ratgeber neben sich zu sehen. Er wollte es einem Napoleon gleichtun, der nur Gehilfen und ausführende Organe seines Willens unter sich geduldet hatte; aber er besaß weder dessen militärische Vorbildung noch gar sein militärisches Genie.

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Quelle: Erich von Manstein, Verlorene Siege. Bernard & Graefe in der Mönch Verlasgeselleschaft mbH, Koblenz/Bonn/Bad Neuenhahr-Ahrweler [1955], S. 303-11, 313.

Mit freundlicher Genehmigung von der Mönch Verlasgeselleschaft.

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Erich von Manstein erklärt die deutsche Niederlage (Rückblick, 1955), veröffentlicht in: German History Intersections, <https://germanhistory-intersections.org/de/deutschsein/ghis:document-216> [28.11.2023].