Keine Heimat, trotz Sprache und Pass: Türkischstämmige Deutsche als „Ausländer“ (2018)

Kurzbeschreibung

In seinem 2018 erschienenen Buch Der ewige Gast erzählt der deutsche Journalist Can Merey die Geschichte seines Vaters Tosun Merey. Als angehender Erbe eines erfolgreichen Unternehmens kam der ältere Merey 1958 aus Istanbul nach Deutschland, um Deutsch zu lernen. Er heiratete eine Deutsche, nahm die deutsche Staatsbürgerschaft an und arbeitete viele Jahre für deutsche Unternehmen im In- und Ausland. Die Jahre vergingen, aber Tosun Merey fühlte sich nie als Deutscher akzeptiert – im Gegenteil, er spürte mit der Zeit eine wachsende Distanz zwischen sich und seiner Wahlheimat.

Quelle

ENTTÄUSCHTE LIEBE

[] Erst bei meinen Gesprächen mit Tosun für dieses Buch ist mir klar geworden, dass mein Vater ein Paradebeispiel dafür ist, wie der gebrochene Stolz vieler Deutschtürken diese in Erdoğans weit geöffnete Arme getrieben hat.

Über Jahrzehnte hinweg haben sich weder die jeweiligen Bundesregierungen noch die Regierungen in Ankara um die Türken in Deutschland gekümmert. Aus deutscher Sicht waren die Gastarbeiter Mitbürger mit Verfallsdatum, die sich bald wieder von dannen machen würden. Die elitären Weißtürken in der Türkei wiederum blickten herab auf die ungebildeten Schwarztürken aus Anatolien, die ihr Glück in Almanya suchten. In Deutschland wurden die Gastarbeiter und ihre Familien diskriminiert, in ihrer alten Heimat wurden sie als Almancilar verspottet, als Deutschländer, die gar keine richtigen Türken mehr seien. Ihre Stimmen zählten im wahrsten Sinne des Wortes nicht: In Deutschland durften sie nicht wählen, solange sie die deutsche Staatsbürgerschaft nicht besaßen. Um sich an Wahlen in der Türkei zu beteiligen, mussten sie extra dorthin reisen, was nur wenige auf sich nahmen. Erdoğan erkannte das Poten­zial, das da schlummerte, und er wusste um seine Popularität vor allem bei den Türken in Deutschland – wie die meisten von ihnen stammt er aus einfachen Verhältnissen. Das Vakuum, das die deutschen und die türkischen Regierungen gelassen hatten, füllte er dankbar aus.

So setzte Erdoğan unter anderem durch, dass Türken seit 2014 auch im Ausland ihre Stimmen abgeben können. Seitdem haben die Auslandstürken ein erhebliches politisches Gewicht: Knapp drei Millionen von ihnen waren beim Verfassungsrefe­rendum 2017 als stimmberechtigt registriert, sie stellten damit rund fünf Prozent aller türkischen Wahlberechtigten. Die größte Gruppe bildeten die Türken in Deutschland: Mehr als 1,4 Millionen von ihnen standen 2017 auf den Listen der türkischen Wahlkommission.

Erdoğan vermittelt den Türken in Deutschland das Gefühl, dass er für sie da ist. Mehrfach kam er in die Bundesrepublik, wo er in vollen Hallen zu seinen jubelnden Landsleuten sprach. In Köln versicherte er ihnen im Jahr 2008, dass seine Regierung immer an ihrer Seite stehen und sich um ihre Probleme kümmern werde. „In jedem Land der Erde können unsere Staatsbürger, die Türken, erhobenen Hauptes leben“, sagte er vor rund 15.000 jubelnden Zuhörern. „Gott sei Dank kann heute der türkische Staatsbürger seinen Pass mit Stolz tragen.“

[] Tosun steht stellvertretend für viele Deutschtürken, wenn er sagt: „Erdoğan hat mir meinen Stolz zurückgegeben.“

Ich glaube, dass vielen Deutschen das Verständnis dafür fehlt, wie lädiert dieser Stolz der Deutschtürken ist. Um Menschen das Gefühl zu vermitteln, dass sie weniger wert sind, bedarf es nicht notwendigerweise eines Skinhead-Angriffs. Dafür reichen Aussa­gen wie die von Thilo Sarrazin – Autor des umstrittenen Bestsellers Deutschland schafft sich ab, Exbundesbankvorstand und früherer SPD-Politiker –, der der Kulturzeitschrift Lettre International im September 2009 sagte, eine große Zahl der Araber und Türken in Deutschland „hat keine produktive Funktion, außer für den Obst- und Gemüsehandel“. Oder die Ausführungen des früheren Vize-Chefredakteurs der Bild am Sonntag und heutigen AfD-Politikers Nikolaus Fest, der sich im März 2017 in seinem Blog darüber echauffierte, dass „arabische, türkische oder afrikanische Jugendliche“ Älteren nicht den Weg freimachen würden. „Alle sind laut, aggressiv, präpotent, ohne den Willen zur einfachsten Höflichkeit, ohne jede soziale Intelligenz. Nicht einfach sind diese Leute, sondern primitiv und bösartig. Insofern muss man das Wort von Max Frisch, demzufolge wir Gastarbeiter riefen, aber Menschen bekamen, vielleicht korrigieren: Wir riefen Gastarbeiter, bekamen aber Gesindel.“

[] Egal, mit welchem Thema wir beim Abendessen begannen: Irgendwann landeten wir immer bei Erdoğan, und im­mer wurde die Debatte hitzig. Wenn Tosun mit mir stritt, zog er einen Graben zwischen „wir“ und „ihr“ – „wir“ stand für die gedemütigten Türken, als deren Vertreter er sich sah, „ihr“ für die überheblichen Deutschen, für die ich seiner Ansicht nach stand. Häufig endeten die Abendessen in einer bedrückten Atmosphäre, und auf dem kurzen Heimweg schworen meine Frau und ich uns, politische Diskussionen mit Tosun künftig zu vermeiden – ein Schwur, der fast immer schon beim nächsten Abendessen gebrochen wurde.

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Mein Vater kritisiert dagegen bis heute ein „Erdoğan-Bashing“ in Deutschland, das schon in Mode gewesen sei, als Erdoğan dafür noch gar keine Gründe geliefert habe. „Das hat begonnen mit spöttischen Bemerkungen über den Sultan vom Bosporus“, sagt Tosun. „Wenn ich wieder zu hundert Prozent Türke geworden sein sollte, dann nicht bei meiner Rückkehr in die Türkei, sondern als die deutschen Medien angefangen haben, so übermäßig intensiv auf Erdoğan zu schimpfen. Ich glaube, ich habe Erdoğan oft aus Trotz verteidigt. Diese ständige Schimpferei hat mich – teilweise wider besseres Wissen – dazu bewogen, Partei für ihn zu ergreifen. Ich habe mich immer gewundert: Wie kann man so auf unserem Stolz herumtrampeln.“

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Für Tosun war mit der Verfassungsreform zur Einführung von Erdoğans Präsidialsystem endgültig eine Grenze überschritten. „Was da verankert wird, kann kaum rückgängig gemacht werden“, sagt mein Vater. „Ich habe die ganze Zeit die Hoffnung gehabt, dass es nicht so schlimm kommt. Jetzt werde ich eine glückliche und freie Türkei aufgrund meines Alters nicht mehr erleben. Das tut mir so leid.“ Tosun betont zwar, dass er die Verhältnisse in der heutigen Türkei nicht mit denen in Nazi-Deutschland gleichsetzen wolle, er sagt aber auch: „Ich glaube, dass Deutsche, die das Dritte Reich erlebt haben und die am Anfang an Hitler geglaubt haben, damals so enttäuscht und traurig gewesen sein müssen wie ich jetzt.“ Allerdings hätten die Deutschen damals durch die Lektüre von Hitlers Mein Kampf wissen können, was ihnen droht. Erdoğans Entwicklung sei dagegen nicht voraussehbar gewesen. „Er war doch sogar Europäer des Jahres.“

Tosun sagt, sein Stolz sei durch diese Enttäuschung ein zwei­tes Mal gebrochen worden. „Kritik aus Deutschland ärgert mich aber immer noch. Ich muss dann innerlich dagegen ankämpfen, dass ich nicht doch für Erdoğan Partei ergreife, obwohl es mir fernliegt, ihn zu verteidigen. Aber es fällt mir einfach schwer zu glauben, dass eine bedeutende Mehrheit in Deutschland das Wohl der Türken oder demokratische Werte in der Türkei verteidigen will. Und wenn Deutschland der drittgrößte Exporteur von Waffen ist, dann kann ich das Gerede von Menschenrechten nicht so recht nachvollziehen. Mich ärgert, dass ein Volk, das nicht vor der eigenen Haustür kehrt, uns ständig Lektionen erteilen will.“

Ich führe in solchen Diskussionen meist an, dass die Tatsache, dass Deutschland nicht frei von Fehlern ist, nicht automatisch bedeutet, dass deutsche Kritik ungerechtfertigt ist. Tosuns Vorwurf, Deutschland sei überheblich, tue ich meist reflexhaft als typisch türkisches Vorurteil ab. Allerdings teilen Tosuns Meinung in diesem Punkt nicht nur viele Türken. Eine Überschrift im US-Magazin Foreign Policy lautete im April 2017: „Deutschland hat ein Arroganz-Problem“. Im dazugehörigen Artikel hieß es: „Die Deutschen glauben zunehmend, dass sie, und nur sie, am besten Bescheid wissen“ – und zwar gleichgültig, ob es um Flüchtlings-, Wirtschafts- oder Energiepolitik gehe. „Auf Deutsch wird dieses Phänomen in einem Wort zusammengefasst: Besserwisserei.“

Nicht nur Tosun, auch mich irritiert, wenn für Erdoğans Verhalten gleich alle Türken in Geiselhaft genommen werden, und zwar sowohl in der Türkei als auch in Deutschland. []

[] Auch ich finde, dass Deutschtürken, die überzeugt sind, die Türkei sei das bessere Land, darüber nachdenken sollten, warum sie dann nicht dort leben. Und auch ich habe Probleme damit, wenn Menschen, die die Vorzüge einer Demokratie genießen, für die Einführung eines autoritäreren Systems in einem anderen Land stimmen, dessen Auswirkungen sie nicht zu spüren bekommen werden. Besonders große Bauchschmerzen habe ich, wenn Türken im sicheren Deutschland die Todesstrafe in der Türkei fordern, die sie selber nie zu befürchten haben werden. Andererseits ist es auch bei diesem Thema leicht, in die Doppelmoral-Falle zu tappen: Einem Kollegen in Istanbul sagte ich kürzlich, ich wolle nicht, dass meine Tochter in einem Land aufwachse, in dem Menschen hingerichtet würden. Er fragte, ob das für mich auch ein Kriterium wäre, wenn ich mit meiner Familie nicht in der Türkei, sondern in den USA leben würde. Die ehrliche Antwort lautet: Nein, wäre es nicht. Tosun sagte bei einer unserer Diskussionen: „Ich bin dafür, dass auch Türken in Deutschland denken dürfen, dass die Todesstrafe in Ordnung ist. Das ist nicht meine Meinung. Aber kann man Menschen für ihre Gedanken bestrafen?“

Die „Türken raus“-Forderung krankt an der Tatsache, dass Hunderttausende dieser Türken inzwischen auch Deutsche sind. Die Debatte um die doppelte Staatsbürgerschaft ist ein Dauerbrenner in Deutschland. Mit einer Reform im Jahr 2000 wurde eingeführt, dass hier geborene Kinder von Ausländern neben der Staatsbürgerschaft der Eltern unter bestimmten Voraussetzungen automatisch auch die deutsche Staatsbürgerschaft bekommen. Auf Antrag galt diese Regelung rückwirkend auch für Kinder von Ausländern, die zwischen 1990 und dem Inkrafttreten der Reform geboren wurden. Grundsätzlich mussten sich Doppelstaater, die durch Geburt Deutsche wurden, aber vor ihrem 21. Geburtstag für einen der beiden Pässe entscheiden. Bei einer weiteren Reform im Jahr 2014 fiel die sogenannte Optionspflicht weg. Seitdem sind dauerhaft beide Staatsbürgerschaften möglich.

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Tosun ist überzeugt: „Man kann mehrere Länder lieben.“ Mein Vater sagt, er selber fühle sich wie in einer „Menage-à-Trois“ – was in seinem Fall eine ebenso langjährige wie komplizierte Dreierbeziehung geworden ist. „Ich liebe die Türkei, aber ich liebe auch Deutschland. Die Türkei ein bisschen mehr, aber das heißt eben nicht, dass ich Deutschland nicht liebe“, sagt mein Vater. Zwar schimpfe er manchmal auf Deutschland. „Aber das ist wahrscheinlich aus enttäuschter Liebe.“

Quelle: Can Merey, Der ewige Gast. Wie mein türkischer Vater versuchte, Deutscher zu werden. © 2018 Karl Blessing Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House, GmbH. [S. 285-90, 295-8, 302]

Rita Chin, „Democratization, Turks, and the Burden of German History“, in The Modernist Imagination. Intellectual History and Critical Theory. Essays in Honor of Martin Jay, herausgegeben von Warren Breckman, u.a. New York: Berghahn, 2011, S. 242–67.

Keine Heimat, trotz Sprache und Pass: Türkischstämmige Deutsche als „Ausländer“ (2018), veröffentlicht in: German History Intersections, <https://germanhistory-intersections.org/de/deutschsein/ghis:document-218> [02.12.2023].