Reichstagsrede von Wilhelm Liebknecht (15. Januar 1886)

Kurzbeschreibung

Wilhelm Liebknecht (1826–1900) war ein führender sozialistischer Politiker und ein Hauptbegründer der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD). Als Reichstagsabgeordneter sprach er sich gegen die Deportation von Polen aus den preußischen Grenzgebieten aus. Unter anderem befürchtete er eine mögliche Gegenreaktion gegen Deutsche im Ausland.

Quelle

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Abgeordneter Liebknecht: Meine Herren, gerade die Thatsache, daß wir hier Monologe halten, ist außerordentlich lehrreich: sie zeigt uns, welche Gefühle in Bezug auf den Reichstag in der Brust der Herren, die die Regierung Deutschlands jetzt führen, obwalten, und welche Achtung sie vor der deutschen Volksvertretung haben.

Also ich glaube nicht, daß uns infolge dieser Ausweisungen völkerrechtliche Verwicklungen, direkt wenigstens, bevorstehen; trotzdem sind thatsächlich Repressalien bereits eingetreten und werden noch in vergrößertem Maße vorkommen. Ich hatte Gelegenheit, aus Rußland eingehende Informationen über die Lage der Deutschen dort zu erhalten. Die Sachen stehen so, daß ein Deutscher dort eine Stelle überhaupt nicht mehr bekommen kann, und daß die meisten Deutschen, welche in Stellung waren, als die Ausweisungen begannen, entweder ihre Stellen schon verloren haben oder in der nächsten Zeit verlieren werden. Es ist durch diese Maßregel, mag sie auch von der russischen Regierung aus Polizeigründen mit veranlaßt worden sein oder nicht, in der Masse des russischen Volks, im Publikum eine solche Erbitterung gegen die Deutschen erzeugt worden, daß sehr bald Deutsche in Rußland gar nicht mehr werden leben können.

Wie in Oesterreich die Dinge sind, das haben Sie aus den Verhandlungen des Reichsraths vor einigen Monaten ja bereits ersehen können. Die österreichische Regierung hat sich gegenüber der preußischen ersichtlich konnivent verhalten; aber die slawische Hochfluth, welche das deutsche Element in Oesterreich bedroht, ist gewaltig gestiegen infolge dieser Ausweisungen, und namentlich im Czechenland, in Böhmen, ist der Haß gegen das Deutschthum mächtig geschürt worden, und hat man diese Maßregel gewissermaßen als Scheit benutzt, um den Brand zu nähren und zu vergrößern.

Und sehen wir uns weiter im Auslande um, wohin Sie auch blicken, — darin hat mein Herr Vorredner vollkommen Recht — stoßen Sie auf die schlimmen Wirkungen dieser Maßregel. Lesen Sie die englische, lesen Sie die französische, die amerikanische Presse, nicht die deutschfeindlichen Organe, nein die, welche Deutschland am freundlichsten waren, — nehmen Sie in der englischen Presse Blätter wie den „Herald“, wie die „Saturday Review,“ Blätter, die für Deutschland bei jeder Gelegenheit eingetreten sind, — in Bezug auf diese Maßregel ist die Verurtheilung allgemein und äußert sich in der denkbar schärfsten Sprache.

Es ist dabei natürlich nicht immer möglich, eine scharfe Grenzlinie zu ziehen zwischen den Regierenden Deutschlands und zwischen dem deutschen Volk. Und zum Theil trifft die Verurtheilung allerdings auch unser Volk. Das deutsche Volk wird mit verantwortlich gemacht; man sagt in England: wie könnte solche Ungeheuerlichkeit vorkommen, wenn in Deutschland eine gesunde öffentliche Meinung wäre? Deutschland hat einen Reichstag, der Reichstag vertritt das Volk und ist doch nicht ohnmächtig, — warum protestiert dieser Reichstag nicht? warum thut das deutsche Volk nichts? Kurz man betrachtet im Auslande das deutsche Volk als mitschuldig, und im ganzen Auslande ist der Haß gegen die Deutschen erweckt worden. In Rußland haben die Repressalien begonnen — zunächst bloß Privatrepressalien, aber schon schlimm genug, schwer unsere Interessen schädigend; in Oesterreich haben wir die Deutschenhatz und werden die Deutschen ausgewiesen; in Frankreich ist man dazu gekommen — natürlich nicht auf demokratischer, sondern auf chauvinistischer Seite —, ein Gesetz zur Besteuerung der Fremden vorzuschlagen. Und eingestandenermaßen ist der Gedanke dazu durch diese Massenausweisungen aus Deutschland hervorgerufen worden. Weitere Maßregeln gegen die Fremden in Frankreich sind von Herrn Döroulsde und Konsorten in Aussicht gestellt — von den Chauvinisten, die sich über derartige Thaten der preußischen Regierung außerordentlich freuen, weil es Wasser auf ihre Mühle ist.

Ich dächte, die preußische Regierung sollte doch erwägen, daß Deutschland, wenn wir einmal auf das Gebiet der Repressalien kommen — und sie haben schon angefangen — sich in der allerungünstigsten Lage befindet; das deutsche Volk ist dasjenige, das am meisten ins Ausland geht. Wenn Sie die Zahl der Deutschen im Auslande mit der Zahl der Fremden in Deutschland vergleichen, so werden Sie finden, daß die Deutschen im Auslande zehnmal so zahlreich sind. Wenn die allgemeinen Repressalien kommen — und das ist auf die Dauer unvermeidlich —, werden wir zehnmal mehr als das Ausland darunter zu leiden haben. Und hat man denn die äußersten Folgen vorausgesehen? Will man, daß die Deutschen aus dem Auslande alle nach Deutschland zurückgejagt werden? Will man den nationalen Reinigungsprozeß so konsequent durchführen, daß alle Fremden aus Deutschland hinaus- und die Deutschen in der Fremde nach Deutschland zurückgedrängt werden? Ist das etwa der letzte Zweck der preußischen Regierung? Das wäre ein Zweck; aber da möchte ich den Herren, die eine solche Politik verfolgen, doch ein bekanntes Wort Heinrich Heines über die Auswanderung in das Gedächtniß rufen. Anläßlich der Thatsache, daß aus Deutschland die Auswanderung massenhaft vor sich geht, während die Franzosen im Lande bleiben, bemerkte Heine: der Deutsche unterscheide sich von dem Franzosen dadurch, daß, wenn es ihm in der Heimat unerträglich wird, er seinen Haß nicht gegen die Regierung richtet, sondern das Feld räumt und in das Ausland geht; der Franzose dagegen, wenn es ihm zu Hause unerträglich wird, richtet seinen Haß gegen die Regierung, macht eine Revolution und sucht sich dadurch behaglichere Zustände zu schaffen. Ja, meine Herren, wenn Sie den Deutschen verhindern, ins Ausland zu gehen — und durch solche Thatsachen wird das herbeigeführt, und Sie wollen es ja auch direkt — wenn Sie die Thüren schließen, durch welche die Auswanderung vor sich geht, wenigstens die Thüren sehr bedeutend verkleinern, dann müssen Sie auch auf die Konsequenzen gefaßt sein, welche sich aus dieser Betrachtung Heines ergeben. Wir haben absolut nichts dagegen einzuwenden, wenn Sie durch Ihre Politik solche Folgen heraufbeschwören; aber gegen die Maßregel der Polenausweisungen haben wir zu protestieren im Namen der Humanität und im Interesse der Ehre unseres Vaterlandes. Die Folgen der Maßregel zeigen sich nach zwei Seiten hin: materiell in den Repressalien, wie sie schon begonnen haben, und moralisch durch die Schädigung unseres guten Rufes in der zivilisierten Welt. Die Ehre Deutschlands ist hier engagiert, und am Reichstag ist es, für sie einzutreten. Wir haben dem Reichstag eine Resolution vorgelegt, welche die Mißbilligung der Maßregel ausdrückt, und welche zugleich den bekannten Versuch zurückweist, die Besprechung der Interpellation, als nicht zur Kompetenz des Reichstags gehörig, zu vereiteln.

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Quelle: Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstags. Berlin: Norddeutsche Buchdruckerei, November 1885–Januar 1886, S. 539–40. Online verfügbar unter: http://www.reichstagsprotokolle.de/Blatt3_k6_bsb00018456_00569.html

Richard Blanke, Prussian Poland in the German Empire (1871–1900). East European Monographs, Nr. 86. Boulder, CO: East European Quarterly, 1981.

Matthew P. Fitzpatrick, Purging the Empire: Mass Expulsions in Germany, 1871–1914. Oxford: Oxford University Press, 2015.

Helmut Neubach, Die Ausweisungen von Polen und Juden aus Preussen 1885/86: Ein Beitrag zu Bismarcks Polenpolitik und zur Geschichte des deutsch-polnischen Verhältnisses. Wiesbaden: O. Harrassowitz, 1967.

Reichstagsrede von Wilhelm Liebknecht (15. Januar 1886), veröffentlicht in: German History Intersections, <https://germanhistory-intersections.org/de/deutschsein/ghis:document-226> [23.10.2024].