Reichstagsrede von Dr. Ludwik von Jazdzewski (15. Januar 1886)
Kurzbeschreibung
Ludwik von Jazdzewski (1838–1911) war Priester und Doktor der Theologie und zudem Mitglied der polnischen Fraktion des Preußischen Landtages und des Reichstags. In seiner Verteidigung polnischer Landsleute ohne deutsche Staatsbürgerschaft verwendete er die Sprache der Moral und des Völkerrechts.
Quelle
Dr. von Jazdzewski
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Meine Herren, dieser „polnisch-nationale Fanatismus“, „die unberechtigten polnischen Velleitäten und Bestrebungen“, wie sie der Herr Minister nannte, „der Fanatismus der polnischen Rasse“ soll das Substrat zur Gefährdung der politischen Sicherheit des preußischen Staates bilden. Der angebliche Fanatismus der polnischen Bevölkerung äußert sich in der Vertheidigung und Aufrechterhaltung derjenigen Rechte, die auf dem göttlichen und dem Naturrecht beruhen, und die durch Staatsverträge und durch die Versicherungen der Monarchen dieses Staats gewährt worden sind. In welcher Weise diese Rechte geschädigt worden sind, das zeigt der Kulturkampf, dessen schleichendes Gift noch immer weiter fortwuchert in der Bevölkerung, das zeigt die vom pädagogischen Standpunkte verderbliche und verwerfliche Schulpolitik seit 1872, das zeigt das Sprachengesetz aus dem Jahre 1876, das zeigt die ganze Haltung der preußischen Büreaukratie der polnischen Bevölkerung gegenüber. Wenn man von uns Gut und Blut verlangt, und wir dieses Gut und Blut für die Erhaltung des preußischen Staats hergeben müssen, so, glaube ich, haben wir auch das vollkommene Recht, zu verlangen, daß dasjenige, was das Leben eines Menschen irgendwie werthvoll machen kann, uns auch gewährt werde, und daß wir bei der Wahrung unserer unverjährbaren Rechte und in den Bestrebungen, unsere Nationalität zu erhalten und unsere Religion frei zu üben, durch die preußische Regierung geschützt werden. Und wenn man unsere vollkommen korrekte Haltung uns zum Vorwurf macht und mit dem Worte „Fanatismus“ belegt, so wird dadurch unser geheiligtes Recht auf eine Art und Weise beschränkt, herabgedrückt und vernichtet, daß man sich nicht wundern kann, daß dagegen eine Reaktion und Empörung in der Bevölkerung sich kundgibt, und daß man sich gegen die Regierung mit allen zulässigen Mitteln vertheidigt.
Meine Herren, wenn die zielbewußten Bestrebungen, um die nationale Sprache zu erhalten und die Religion frei ausüben zu können, ein Verbrechen sind, und wenn der Verdacht, ein solches begehen zu können, dazu benutzt wird, um Tausende und Abertausende von Menschen, selbst solche, welche auf dem preußischen Territorium geboren sind, des Landes zu verweisen, um sie zu Bettlern zu machen, dann, glaube ich, wäre es doch konsequenter, wenn auch viel grausamer gewesen, wenn man sich mit einer solchen Nationalität nicht abfinden kann, daß man versucht hätte, von Staatswegen ein Gesetz einzubringen „gegen die gefährlichen Bestrebungen der Polen zur Aufrechterhaltung ihrer Nationalität und Religion“, daß man ein Ausnahmegesetz nach dem Muster der Gesetze vom 4. Juli 1872 und 4. Mai 1874 vorgeschlagen hätte, und dadurch die Ausnahmegesetzgebung Deutschlands und Preußens um ein neues Kleinod bereichert hätte. Wir würden dann sehen, was die Welt dazu sagen würde. So lange das aber nicht geschehen ist, muß man der polnischen Bevölkerung schon gütigst gönnen, daß sie die Wahl der sie befriedigenden Nationalität und der ihr zusagenden Religion ganz allein trifft; daß wir die Rechte derselben nach unserer Façon wahrnehmen, daß wir in der Aufrechterhaltung dieser unserer Nationalität und der religiösen Ueberzeugung so weit gehen, wie es die Gesetze des Staates zulassen, und daß wir unsere Heiligtümer niemandem anzutasten erlauben werden, auf die Gefahr hin, bei der Vertheidigung dieser höchsten Güter der Menschheit zu Grunde zu gehen.
[…]
Es steht nach den offiziellen Angaben der preußischen Regierung fest, daß am 1. Oktober 1884 in den Provinzen Ost- und Westpreußen 9749 Zuzieher gewesen sind. Die Gesammtzahl inkl. der Familienmitglieder soll 30 165 Köpfe betragen: davon fallen auf den Kreis Straßburg 4119, auf den Kreis Thorn 3251 Personen bei einer Bevölkerung von 33 000 Seelen, also zirka 10 Prozent. Das sind aber auch nur die beiden Kreise, in welchen die Einwanderung die größten Dimensionen angenommen hat. In anderen Kreisen betrug diese Einwanderung höchstens 1 Prozent der gesammten Bevölkerung. Solange aber, meine Herren, das Herüberziehen der deutschen Bevölkerung nach dem Königreich Polen nicht aufhören wird, so wird auch die Fluktuation der polnischen Bevölkerung nach den preußischen Provinzen ohne eine besondere Maßregel der preußischen Regierung nicht aufzuhalten sein. Wenn man überhaupt von einer Zurückdrängung einer Bevölkerung nach ihrer Nationalität sprechen kann, dann werden Ihnen doch diese Zahlen beweisen, daß, wenn in den letzten Jahrzehnten in das Königreich Polen so und so viele Tausende Deutscher eingezogen sind, eher die Deutschen die Polen verdrängten, als daß die Polen die Deutschen, hier die Preußen, verdrängen.
Durch jene nationalen Gesichtspunkte also, die der Herr Minister von Puttkamer hervorgehoben hat, hat er die Maßregel gar nicht gerechtfertigt; im Gegentheil beweisen die Zahlen, die ich angegeben habe, und die, wie gesagt, amtliche Zahlen sind, zur Genüge, daß eine Verschiebung der Verhältnisse in jenen östlichen Provinzen in Bezug auf die Religion und in Bezug auf die Nationalität gar nicht stattgefunden hat. Es müssen also noch andere Gründe vorhanden sein, und zu diesen Gründen gibt einen Schlüssel die Antwort des Grafen Taafe, die er am 17. Oktober 1885 im österreichischen Reichsrath gegeben hat, und eine damit zusammenhängende des Grafen Kalnoky vom 17. November 1885 in der österreichischen Delegation. Dort wurde angegeben, daß die sprachlichen und konfessionellen Verschiebungen den Grund zu dieser Maßregel abgegeben haben, — also nicht bloß sprachliche, sondern auch konfessionelle Gründe. Diese offizielle Entschuldigung der preußischen Regierung zeigt, daß bei den Ausweisungen von der Untersuchung eines persönlichen Vergehens abgesehen wurde, daß also die völkerrechtlich anerkannte Voraussetzung zur Ausweisung ganz fehlt; ausgewiesen wurden die Leute, weil sie Polen sind, und weil sie Katholiken sind. Daß in Preußen ein Katholik staatsrechtlich anders behandelt wird als ein Protestant, das steht im Widerspruch mit der Verfassung, und daß es sogar zu einem Grundsatze erhoben wird, ist um so schlimmer. Offiziös wird das zwar so gedeutet, daß es sich nicht um konfessionelle Rücksichten, sondern um konfessionelle Verhältnisse handelt, welche mit den nationalen in Zusammenhang stehen; nicht der Konfession an sich, sondern der Konfession, die eine Triebfeder nationaler Tendenzen sei, gelte die Maßregel. Diese sophistische Deutung der „Berliner politischen Nachrichten“ entzieht der Maßregel die konfessionelle Spitze nicht; sie bleibt eine kulturkämpferische Maßregel neuester Erfindung, eine neue Art der Verfolgung der Katholiken.
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Meine Herren, das Staatsrecht Preußens und eines jeden geregelten Staatswesens muß aufgebaut werden auf der Grundlage des Christenthums, und wo diese Grundlage fehlt, da fehlt eben die wahre Zivilisation. Hier fehlt diese Grundlage, und ich bitte, daß die Herren sich dazu einen Reim machen.
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Quelle: Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstags. Berlin: Norddeutsche Buchdruckerei, November 1885–Januar 1886, S. 530–35. Online verfügbar unter: http://www.reichstagsprotokolle.de/Blatt3_k6_bsb00018456_00569.html
Weiterführende Inhalte
Richard Blanke, Prussian Poland in the German Empire (1871–1900). East European Monographs, Nr. 86. Boulder, CO: East European Quarterly, 1981.
Matthew P. Fitzpatrick, Purging the Empire: Mass Expulsions in Germany, 1871–1914. Oxford: Oxford University Press, 2015.
Helmut Neubach, Die Ausweisungen von Polen und Juden aus Preussen 1885/86: Ein Beitrag zu Bismarcks Polenpolitik und zur Geschichte des deutsch-polnischen Verhältnisses. Wiesbaden: O. Harrassowitz, 1967.