Paul Bräunlich, Berichte über den Fortgang der „Los von Rom“- Bewegung (1899)
Kurzbeschreibung
In den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg befürchteten die Nationalisten in den deutschen Ländern zunehmend, dass die Katholiken dem Papst in Rom gegenüber loyaler seien als gegenüber den Regierungen ihrer jeweiligen Länder. In Österreich wurde die Unzufriedenheit mit dem Status quo – politisch, religiös oder anderweitig – oft durch den Austritt aus der katholischen Kirche und den Übertritt zum Protestantismus ausgedrückt. Die „Los von Rom“-Bewegung versuchte, die Unzufriedenheit mit der Kirche zu politisieren und sie mit dem größeren Projekt der Vereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich zu verbinden. Der folgende Bericht von Paul Bräunlich (1866–1946), einem evangelischen Pfarrer und Reisesekretär des Evangelischen Bundes in Berlin, charakterisiert den Katholizismus in den düstersten antideutschen Tönen.
Quelle
Vorwort zur zweiten Auflage.
Der freundlichen Gegengrüße aus dem deutschen Süden sind so viele gewesen, daß ich heute den Gruß noch zuversichtlicher wiederhole.
Mich dünkt, wir Deutschen sind auf guten Wegen; und bald wird’s ein Grüßen geben hinüber und herüber, daß wir’s kaum noch begreifen werden, wie es war, als wir uns nicht verstanden.
Und das wäre doch der schönste Gewinn des wunderbaren Erwachens der Geister in unsern Tagen. Denn wenn wir auch nie von der weitherzigen Christenliebe lassen werden, die ohne Unterschied sich jedes Hilfsbedürftigen erbarmt, er sei, wer er wolle, so gehört unser Herz und Leben doch zuerst unsern deutschen Brüdern.
Es gilt ja noch immer, das alte Apostelwort: „So jemand die Seinen, sonderlich seine Hausgenossen, nicht versorgt, der hat den Glauben verleugnet und ist ärger, denn ein Heide.“
Wozu dann aber die Rundschau über fremde Völker auch in der neuen Auflage des Büchleins? So fragt vielleicht mancher, dessen Herz voll, übervoll ist von der einen großen Not deutscher Nation.
Es ist doch nicht so unnütz, auch einmal in des Nachbars Haus einen Blick zu werfen, wenn man daran geht, das eigene Heim sich wohnlicher einzurichten. Und wenn das nur Mut machte, Hand anzulegen ans Werk.
Drum lasse ich das zweite Kapitel bestehen. Manchen wird’s wert sein. Es zu lesen, ist keiner gezwungen.
Dabei bleibt’s doch unser aller herzinnigster Wunsch, daß sich unser liebes Muttervolk endlich besinne auf seine verloren gegangene geistige Einheit.
Epiphanias 1899
Der Verfasser
[…]
III. Muttervolk.
Von einem Land oder Volk aber haben wir noch nicht gesprochen, dem Land und Volk, an das zu denken uns allen am nächsten liegt, weil es das unsere ist.
Das deutsche Volk! Hat es den alten Ruhm der Reformation vergessen? Läßt sich Luthers Blut von andern überflügeln? Beinahe scheint es so, als wäre es gelungen, im katholischen Teil der deutschen Nation mit dem Recht selbständig zu denken auch die Kraft zu handeln auf religiösem und kirchlichem Gebiete zu vernichten.
Fast könnte man meinen, das „Volk der Denker und Dichter“ habe nur noch die Kraft zu seufzen und zu singen, wie sein jüngster katholischer Dichter geistlichen Standes:
„Verwegner Wahn! nicht ich soll es vollbringen,
Nicht mir soll diese hohe That gelingen!
Der Funke, der in diesen Adern glüht,
Zur Flammenleuchte ist er noch verfrüht;
Noch weiter muß er glühen, weiter wandeln,
Aus einem Herzen sprühen fort zum andern;
Bis in der Ferne wird ersteh’n der Mann,
Der meinen Traum zur Wahrheit wandeln kann;
Bis kommen wird, der in das Chaos spricht,
Zum zweiten Mal das Wort: es werde Licht!“
[…]
Diese große nationale Gefahr der slavischen Überflutung drängte die Deutschen der Ostmark mit Macht dazu, einen innerlichen Anschluß an die protestantischen Volksgenossen des Nordens zu suchen, um sich so wenigstens deren moralische Unterstützung zu sichern, auf die sie solange nicht im vollen Maße rechnen können, als sie, weil römische Katholiken, durch eine tiefe, innere Kluft von ihnen getrennt bleiben.
Dazu mußten sie sich überzeugen, daß der Protestantismus der stärkste Wall des Volkstums ist, eine im protestantischen Glauben einige deutsche Nation aber unüberwindlich und gegen alle Gefahren der Zukunft gefeit sein würde. Zur Erläuterung dieser mannigfaltigen nationalen Erwägungen mögen folgende Bruchstücke aus deutsch-nationalen Zeitungen und uns vorliegenden Briefen angesehener katholischen Österreicher dienen:
„Entweder ist die Kirche Luthers die Nationalkirche der Deutschen oder sie ist es nicht. Ist sie es, dann sollten alle Deutschen sich zu dieser bekennen … Wenn wir österreichischen Katholiken deutschen Stammes dem evangelischen Kreuzzuge des deutschen Kaisers mehr Verständnis entgegenbringen als die eigentlichen Protestanten, welche eine ganz unverständliche Furcht davor haben, daß der Evangelismus an Stelle des Katholicismus die weltbeherrschende Christenlehre werden könnte, so ist das nicht unsere Schande. Wir denken eben etwas weiter und sagen uns, die deutschen Nation und der Evangelismus hängen so innig zusammen, daß das Gedeihen der Brüder von einander abhängt, daß der Verfall des einen den Verfall des andern zur notwendigen Folge hat.“
„Wir in Österreich sind dem Untergange geweiht, wenn wir katholisch bleiben.“
„Deutschland hat nur die Wahl, die Zahl der durch das Papsttum ruinierten Staaten Europas zu vermehren, oder sich von Rom endlich nach einem 1000-jährigen Kampfe endgültig zu befreien.“
„Wir Deutschen brauchen einen solchen Glauben, bei dem wir zugleich deutsch handeln und deutsch fühlen können . . . . Deutsch sein, heißt lutherisch sein.“
„Wenn es aus den tiefen Schäden unseres heutigen Lebens noch nicht klar genug hervorgehen sollte, daß der Einfluß der religiösen Anschauungen auf jede Art der völkischen Entwicklung ein ausschlaggebender ist, aus der Geschichte der Reformation erwächst diese Erkenntnis umso überzeugender. Vor Beginn der Reformation gehörten die Ostmarkdeutschen zu den angesehendsten und führenden deutschen Stämmen; die Dichtkunst fand keine bessere Heimstätte als in den deutschen Ostalpen u. s. w. … Dann brachte die Reformation ein vermehrtes Bildungsbedürfnis. … Während aber in Nord- und Mitteldeutschland die Entfaltung frei vor sich gehen konnte, wurde in Bayern und in den habsburgischen Erbländern die Wiederherstellung des alten Zustandes mit allen Mitteln verfolgt. Dadurch blieben diese deutschen Männer geistig zurück und der Schwerpunkt Deutschlands rückte von da ab langsam nordwärts.“
…. „Wir müssen anknüpfen, wo der Faden abgerissen wurde, die Reformation ist wieder aufzunehmen. Sieg oder Niederlage des ostmärkischen Deutschtums hängt davon ab.“ („Ostdeutsche Rundschau.“ 29. IX. 98)
„Gelingt es nicht, die gesamt deutsche Nation national und kulturell zu einigen, dann wird sie dem Ansturm der slavischen Volksmassen erliegen. Vom Schicksale des österreichischen Deutschtums hängt das Deutschlands selbst ab. Wäre ersteres nicht katholisch, die Sache läge bei weitem anders. Wie immer wird die Kultustrennung den Deutschen zum Verderben. Darum dränge ich so auf die Evangelisierung des deutschen Volkes der Ostmark … Ein evangelisches Deutschösterreich ist gerettet, ein katholisches verloren.“
„In der Rückkehr zu dem evangelischen Glauben, der unsern Urvätern geraubt wurde, sehen wir eine mächtige Hilfe für die Erhaltung unseres in Österreich bedrohten Volkstumes.“
[…]
„Los von Rom! ist, verehrte Herren, der Spruch, der immer deutlicher ertönt, und wir Deutschvölklichen sollten eigentlich dem jetzigen Ministerium, der Mehrheit und den Deutschklerikalen innigst dankbar dafür sein, daß auch in dieser Beziehung die Sache nach unserem Sinne schneller vorwärts geht, als es sonst der Fall gewesen wäre. Los von Rom! muß und wird, verehrte Herren, zur That werden, es wird geschehen, mehr und mehr, die Kräfte sammeln sich.
„Und man täusche sich nicht, verehrte Herren, über den furchtbaren Ernst der jetzigen Zeit, man gebe sich nicht der Hoffnung hin, daß plötzlich, vielleicht zufällig ein Retter kommen werde. Retter wird wahrscheinlich keiner kommen, Rettung aber wird kommen, verehrte Herren, durch Bethätigung, durch Durchführung des Rufes, den ich zum drittenmale wiederhole: Los von Rom!“
Und am 15. Januar 1899 fand, nachdem die Polizei alles aufgeboten hatte, die Versammlung zu verhindern, auf seine Veranlassung in Wien jene Besprechung statt, über die folgender Bericht vorliegt:
„In Wien hat eine von Schönerer einberufene Vertrauensmänner-Versammlung stattgefunden, in welcher über den Austritt aus der katholischen Kirche beraten wurde. Erschienen waren 800 Personen aus fast allen Kronländern, insbesondere stark war Böhmen vertreten, die Abgeordneten Wolf und Fro, sowie viele Frauen. Auf den Vorschlag Schönerers wurde gleich zu Beginn der Versammlung einstimmig der grundsätzliche Beschluß des Austrittes gefaßt, da die Störung der Versammlung durch die Polizei vorauszusehen war. Der Austritt erfolgt, wenn sich zehntausend Personen hierzu erklärt haben. Hierauf folgte eine Debatte. Arbeiterführer Stein aus Eger befürwortete den Übertritt zum Luthertum. Der Obmann des österreichischen Altkatholiken-Vereins sprach seine Zustimmung zu dem Übertritt aus und will für die Altkatholiken nicht Stimmung machen. Der Austritt sei die Hauptsache. Der Anwalt Dr. Eisenkolb aus Harbitz berichtete über die Bewegung in Deutsch-Böhmen und hebt besonders hervor, daß auch religiöse und sittliche Beweggründe bei der Übertrittsbewegung maßgebend seien. „Sie ist allzu natürlich und berechtigt,“ fährt er fort, „so daß sie nun und nimmer zum Stillstand gebracht werden kann, selbst wenn der Abgeordnete Schönerer sich von ihr abwenden und Ministerpräsident werden sollte. Das größte Hindernis für unsere Bewegung liegt in dem, jetzt glücklicherweise mehr und mehr weichenden lauen Verhalten eines Teils der Evangelischen … Glauben wir ja nicht, unsere Bauern für die Übertrittsbewegung gewinnen zu können, wenn wir die sittlich religiösen Gründe verschweigen.“ Während dieser Rede erschien der Polizeikommissar und verlangte die Präsenzliste. Diese Forderung wurde für ungesetzlich erklärt, worauf der Kommissar, offenbar auf höhere Weisung, die Versammlung untersagte. Stürmische Rufe: „Los von Rom“, „Heil Alldeutschland“, „Nieder mit Thun.“ Unter Absingung von „Deutschland, Deutschland über alles“ leerte sich der Saal. Am Nachmittag fand eine vertrauliche Besprechung über die Organisation der Übertrittsbewegung statt. Es wurden sehr wichtige einschlägige Beschlüsse gefaßt.
[…]
Quelle: Paul Bräunlich, Hrsg., Berichte über den Fortgang der „Los von Rom Bewegung“: Die neueste katholische Bewegung zur Befreiung vom Papstthum, Heft 1 (1899), Vorwort, S. 30, 43, 44, 48.
Weiterführende Inhalte
Gerd Krumeich und Hartmut Lehmann, Hrsg., „Gott mit uns“, Nation, Religion und Gewalt im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 2000.
Helmut Walser Smith, Protestants, Catholics, and Jews in Germany, 1800–1914. Oxford und New York: Berg, 2001.