Deutsche Eigenschaften aus französischer Perspektive: Die Reiseberichte Charles Patins (1674)

Kurzbeschreibung

Im späten siebzehnten Jahrhundert beschrieb der französische Arzt Charles Patin (1633 –1693) seine Reisen durch Mitteleuropa für verschiedene deutsche Fürsten. Er konzentrierte sich auf Aspekte der Kultur und Lebensweise, die ihm während seiner Aufenthalte in Österreich und Bayern auffielen, dabei war sein Verständnis der Humoralstruktur ausschlaggebend für seine Beschreibung von Verhaltensmerkmalen. Dies wurde besonders deutlich, als er in Tirol ankam und Schwierigkeiten hatte, die Veranlagungen der Einwohner zu beschreiben, eine Herausforderung, deren Ursprung er in der Mischung von scheinbar widersprüchlichen Eigenschaften sah, welche die Einwohner von ihren deutschen und italienischen Vorfahren geerbt hatten. Patins Text liefert uns auch die Interpretation eines Außenstehenden darüber, was „deutsch“ in Bezug auf den Körper bedeuten möge.

Quelle

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Die Deutschen lieben gutes Essen, wie allgemein gesagt und geglaubt wird; ihre Lust in dieser Hinsicht liegt eher in der Unterhaltung des Festes als in der Zartheit und Kostbarkeit des Fleisches: Hier verlieren sie für kurze Zeit die Schwere, die ihnen wie selbstverständlich innewohnt, und ihre durch die feinen und heißen Dämpfe verfeinerten Gedanken bringen hundert starke Leidenschaften hervor, die jede Stunde ihrer Ausschweifung zu einem Zeitvertreib machen, der gewöhnlich mit Wünschen, Liebesbekundungen und heftigen Freundschaftsbekundungen endet. Einige von ihnen werden hitzköpfig, wenn die Entzündung der Hitze folgt, und so kommen auch die deutschen Streitigkeiten zustande. Ich spreche nur von mittelmäßigen Menschen, die mit dem Geist der Landbevölkerung geboren werden und leben, und nicht von jenen auserwählten Seelen, die das reine Werk des Himmels sind, der viel eher der Ort ihrer Herkunft als die Erde ist. Ich erlaube mir, Eure Hoheit zu zitieren: Kann man sagen, von welcher Nation Ihr seid, habt Ihr doch die Fehler keiner, oder vielmehr, von welcher Nation kann man nicht sagen, dass Eure Hoheit ihr angehört, da sie alle Eigenschaften und Vorteile hat, die jeder von ihnen natürlich sind.

Schließlich ist die Tafel bei den Deutschen nicht wie bei allen anderen an einem bestimmten Ort und bei bestimmten Treffen, sondern bei allen Gelegenheiten, man beginnt und endet immer damit, und in der Führung ihres Lebens könnte man sagen, dass er der Rohstoff ist, dessen Form der Rest der Handlungen und Angelegenheiten ausmacht. Ich verschweige es nicht, mein Fürst, dieses Mundtalent ist der lasterhafte Teil ihres Wesens. Aber welche Nation auf der Welt hat nicht ihren eigenen Fehler. Ein deutscher Botschafter konterte einem Franzosen, der seinen Spott ein wenig zu weit trieb: „Es ist wahr, dass die Deutschen nur nach zuviel Wein verrückt sind, aber die Franzosen sind es immer“, sagte er. Man muss auch zustimmen, dass diese Leidenschaft weniger vorteilhaft ist als alle anderen; sie verkürzt das Leben ein wenig, sie belastet den Bauch und die Taille, sie formt runde und dicke Leute, und schließlich ist das Ärgerlichste an ihr, dass man kaum beurteilen kann, ob es sich um eine Verrücktheit handelt, die ihre luziden Intervalle hat, oder ob es ein gesunder Menschenverstand ist, der periodischen Faulheiten und Verirrungen unterliegt: oder, um höflicher zu Eurer Hoheit zu sprechen: ob es sich um eine Torheit oder um eine zeitweilige Weisheit handelt. Im Übrigen verdirbt sie jedoch die Moral der Deutschen nicht. Sie sind die besten Menschen der Welt, wenn man von denen absieht, die es nicht sind: Sie besitzen Ehrlichkeit, Ehre, Offenheit und einen vollkommenen Sinn für Gerechtigkeit. Diese Eigenschaften sind ihnen wie von Natur aus gegeben und finden sich sogar unter denen, die keine Bildung haben. Das ist vielleicht der Grund, warum sie bei allen Völkern allgemein beliebt sind, obwohl sie keine großen Schritte unternehmen, damit diese sich in ihrem Land heimisch fühlen, und sie nur in dem Maße in Betracht ziehen, wie sie sich ihrer Lebensweise anpassen. Sie haben mehr Geist als Phantasie, mehr Urteil als Feingefühl.

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Es ist recht schwierig, das Wesen der Tiroler gut zu beschreiben. Sie sind weder Italiener noch Deutsche, sondern beides zusammen. Es wäre angebracht, Eure Hoheit über das Urteil zu befragen, das man über diese Völker fällen sollte, die an den Eigenschaften zweier sehr unterschiedlicher Nationen, die an sie grenzen, gleichermaßen teilhaben. Vor langer Zeit wurde gefragt, ob sich die gegensätzlichen Temperamente in der Mischung vervollkommnen oder verändern: Die einen sagen, dass es der Spitze und Feinheit Italiens besser geht, wenn sie durch das deutsche Phlegma ein wenig abgestumpft wird, und dass auch dieses Phlegma Lebendigkeit braucht, um sich zu beleben: Die anderen glauben, dass dieses feine Feuer jenseits der Berge seinen melancholischen Punkt hat, der ihm als Ballast dient, dass ein dickeres Blut es dämpft und dass die Langsamkeit der Deutschen ihre Festigkeit hat, die nicht glänzen kann, ohne stumpf zu werden. Eure Hoheit wissen besser als ich, woran Sie sich halten müssen; wenn Sie mir befehlen würden, meine Meinung zu sagen, würde ich sie beschwören, mir zu erlauben, dass dies nur für Sie gilt.

Um zu verschnaufen, möge es Euch belieben, dass ich Ihnen ein Wort von meinem Gastwirt in Innsbruck erzähle. In der Ungewissheit, ob ich dort einige Tage bleiben würde, befahl ich meinem Diener, meine Ausgaben mit ihm zu regeln. Sie einigten sich auf zweieinhalb Gulden pro Tag, doch als er sich anschickte, diesen Preis zu zahlen, wollte der Wirt sich damit nicht zufriedengeben und gab als Erklärung an, dass die Bewirtung wahrlich nicht über dem Preis liege, den ich vereinbart hatte, dass man sich aber nur bei gewöhnlichen Leuten darauf beschränken sollte und dass für einen Mann höheren Ranges wie mich der Preis angehoben werden müsse, da es eine Frage der Ehre sei, mich besser zu behandeln als die anderen, und dass er zu gut wisse, welche Ehre und welchen Respekt er mir schulde, um bei seinem ersten Preis zu bleiben. Ich sollte also nicht für höhere Qualität bezahlen, sondern den Respekt teuer erkaufen.

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Quelle: Charles Patin, Relations historiques et curieuses de voyages, en Allemagne, Angleterre, Hollande, Bohême, Suisse, etc. Lyon, 1676, S. 38 –41, 77–78. Online verfügbar unter: https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k111891n

Übersetzung: aus dem Französischen ins Deutsche: GHI staff

Titelblatt, Charles Patin, Relations historiques et curieuses de voyages, en Allemagne, Angleterre, Hollande, Bohême, Suisse, etc. Lyon, 1676.

Quelle: Charles Patin, Relations historiques et curieuses de voyages, en Allemagne, Angleterre, Hollande, Bohême, Suisse, etc. Lyon, 1676. Online verfügbar unter: https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k111891n

Source gallica.bnf.fr / Bibliothèque nationale de France

Deutsche Eigenschaften aus französischer Perspektive: Die Reiseberichte Charles Patins (1674), veröffentlicht in: German History Intersections, <https://germanhistory-intersections.org/de/deutschsein/ghis:document-272> [01.12.2023].