Unbekannter Verfasser, Über eine Lesegesellschaft zu Lüneburg (18. Jahrhundert)

Kurzbeschreibung

Die diskutierende Öffentlichkeit war ein europäisches Phänomen, Lesegesellschaften kamen jedoch häufiger in deutschen Staaten vor. Die „Leserevolution“ überschritt ständische Grenzen und kreiste zugleich um das Recht zur öffentlichen Rede. Dieser Bericht über eine Lesegesellschaft in Lüneburg zeigte den Stolz, dass wachsende Kenntnisse zu einer „Verfeinerung“ der Sitten führen würden, warnte aber typischerweise vor „falscher“ Lektüre – eine Gefahrenprojektion, die sich vor allem auf diejenigen bezog, die nicht zur männlichen Elite gehörten.

Quelle

Über eine Lesegesellschaft zu Lüneburg

Die Gesellschaft besteht gemeiniglich aus 90 bis 100 Personen. Jährlich rechnen wir etwa 3 bis 400 neu angeschaffte Bücher. Man wählt nicht bloß solche, die man für gut hält, sondern auch schlechte, wenn sie nur von einer gewissen Seite merkwürdig sind. Die drey sogenannte Brodstudien sind gänzlich ausgeschlossen, und werden Bücher daraus nur in so weit zugelassen, als ihr Gegenstand und die Behandlung desselben noch innerhalb den Gränzen der Philosophie (im allgemeinen Verstande genommen) enthalten sind. Schöne Wissenschaften, Geschichte, Statistik, Naturhistorie sind die Fächer, woraus die meisten Bücher genommen werden. Unter den ersten haben leider die Romanen ein so ungeheures Uebergewicht bekommen, daß alles, was dahin gehört, eingerechnet, mehrentheils die Hälfte aller Bücher aus Romanen bestehet, und doch hat das Romanenhungerige Publicum nicht genug.

Den elendesten darunter sieht man es an ihrem schmutzigen Colorit oft an, wie sehr sie von der gnädigen Frau bis zur Köchin hinab die große Tour gemacht, und wie sie die Corps des gardes durchwandelt haben, da hingegen die interessantesten und unterhaltendsten Bücher nach einer langen Circulation oft noch nicht aufgeschnitten sind.

Im Ganzen genommen hat doch diese Anstalt, die nun schon seit 14 Jahren besteht, den Umlauf von Kenntnissen gar sehr befördert; denn es sind nicht allein wirklich die Interessenten, die daran Theil nehmen, sondern, da die Bücher nach der Circulation mehren theils verkauft werden, und weil sie ziemlich beschmutzt sind, zu einem sehr wohlfeilen Preise, so kommen sie auch in die niederern Classen. Manche Handwerksfrau spricht jetzt mit so einer Bekanntschaft von Bürger und Jacobi, als vormahls ihre Mutter vom Schmolken und Spangenberg. Vielleicht hat ein gewisser Hang zur Geselligkeit und ein sehr freymüthiges und doch anständiges Betragen des hiesigen Mittelstandes in einer solchen Verfeinerung seinen Grund: ein charakteristischer Zug unseres Publicums, der anjetzt bey der Anwesenheit des Prinzen Eduard mehr zum Vorschein kommt, und unter andern zum Beyspiel auf den hiesigen Redouten (die unter die besten und unterhaltendsten mit können gezählt werden) von allen Fremden bewundert wird. Vielleicht aber auch eben daher eine gar zu große Neigung zum Luxus, zu Zerstreuungen, Empfindsamkeit, deren affectirte Grimassen man noch täglich sieht (wenn es gleich Aufklärung und Modeton mit sich bringt, über dieß gute Wort und die dadurch bezeichnete edle Eigenschaft der Seele zu spötteln) und endlich wohl gar – Nervenkrankheiten der Frauenzimmer, die denn bald auf unser kalkartiges Wasser – bey dem doch der gemeine Mann trefflich gesund bleibt – bald auf dieß bald auf jenes geschoben werden.

Ich zweifle, ob eine Lesegesellschaft wie die unsrige in vielen Städten passend seyn möchte. Lüneburg ist gerade so groß und so klein, und das Verhältniß der verschiedenen Städte gegen einander hat gerade die Lage, die dazu erfordert wird.

Nur noch eines! die Gesellschaft entstand zuerst durch Veranlassung einer elenden Leihbibliothek, die ein hiesiger Buchführer angelegt hatte. Weil man sie gar zu schlecht fand, so vereinigten sich einige Freunde, eine Lesegesellschaft unter sich zu errichten. Um sie zu vergrößern müßte ordentlich gepreßt werden, und ich erinnere mich noch wohl, daß ich selbst auf einen solchen Preßgang ausgegangen bin. Leute, denen jetzt das Institut sehr wehrt ist, ließen sich damahls ängstlich bitten, insonderheit die Brodgelehrten, die noch gar keine Notitz von Litteratur hatten.

Ich führe dieses zu dem Ende an, damit, wenn jemand etwas Aehnliches etwa an seinem Orte anlegen will, er sich nicht gleich durch den Gedanken abschröcken lasse: „das geht bey uns nicht; dazu ist unser Publicum nicht gemacht.“

Quelle: Unbekannter Verfasser, „Über eine Lesegesellschaft zu Lüneburg“, in Einladung ins 18. Jahrhundert. Ein Almanach aus dem Verlag C.H. Beck im 225. Jahr seines Bestehens, herausgegeben von Ernst-Peter Wieckenberg. München: C.H. Beck, 1988, S. 253–54.

Ulrike Weckel, Claudia Opitz, Olivia Hochstrasser und Brigitte Tolkemitt, Hrsg., Ordnung, Politik und Geselligkeit der Geschlechter im 18. Jahrhundert. Göttingen: Wallstein, 1998.

Julia Frindte, Hrsg., Handlungsspielräume von Frauen um 1800. Heidelberg: Winter, 2005.

Unbekannter Verfasser, Über eine Lesegesellschaft zu Lüneburg (18. Jahrhundert), veröffentlicht in: German History Intersections, <https://germanhistory-intersections.org/de/deutschsein/ghis:document-302> [13.12.2024].