Emilie von Berlepsch fordert kognitiv-emotionale Unabhängigkeit für Frauen (1791)

Kurzbeschreibung

Die inneren Grenzziehungen bürgerlicher Identität und der korrespondierenden Gesellschaftsentwürfe wurden seit ihrer Entstehung hinterfragt, wenn auch selten so offensiv wie durch Olympe de Gouge in Frankreich oder Mary Wollstonecraft in England. Die Schriftstellerin Emilie von Berlepsch (1755–1830), die sich wiederholt mit Wollstonecraft auseinandersetzte, reiste durch verschiedene europäische Länder und veröffentlichte u.a. Reisebeschreibungen. 1791 kritisierte sie im Neuen Teutschen Merkur, einer wichtigen aufklärerischen Zeitschrift, dass die deutschsprachige bürgerliche Kultur Weiblichkeit in jeder Hinsicht als abhängig definierte. Sie plädierte für eine verstandes- und gefühlsmäßige Selbstständigkeit von Frauen, blieb aber in diesem Text dabei, die Ehe als angemessenen Ort für Frauen zu beschreiben.

Quelle

IV. Ueber einige zum Glück der Ehe nothwendige Eigenschaften und Grundsätze[1].

Ich wünschte, meine geliebte Schwester, daß ich die letzten Tage, die du bey mir zubringen wirst, zum dauernden Denkmal meiner zärtlichen Treue und Sorgfalt für dich machen könnten. Vielleicht gelingt es mir wirklich, zum Glück deines neuen Standes etwas beyzutragen, indem ich diejenigen Vorstellungen und Wahrheiten sammle, die oft der Gegenstand unsrer vertraulichen Gespräche waren, und von deren lebhafter Erinnerung ich mir einen günstigen Einfluß auf dein künftiges Leben versprechen darf.

Ich werde nicht damit anfangen, dir die Wichtigkeit der Sache ans Herz zu legen. Könntest du sie bezweifeln; könnte dir das Glück des ehelichen Lebens unbedeutend genug scheinen, um es keines ernsthaften Nachdenkens, keines geprüften und festen Vorsatzes werth zu achten, so würde jede meiner Vorstellungen unnütz seyn. Wer’s nicht lebhaft fühlt, daß häußliches Glück die Quelle alles Wohls, die Stütze aller Ordnung ist, sollte vor Verpflichtungen zurück beben, die nur durch redlichen Eifer erfüllt, nur durch Ueberzeugung ihres hohen Werths versüßt werden können.

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Doch wer vermöchte die Folgen alle aufzuzählen, welche aus diesem einzigen Mißton in der Harmonie der Empfindungen durchaus entstehen müssen? Folgen, die um soviel schrecklicher und unvermeidlicher sind, jemehr die Frau große Anlagen und Fähigkeit hat zu lieben und geliebt zu werden. Einem jeden Menschen ist Unbilligkeit und Geringschätzung nachtheilig. Die Seele wird erniedrigt, der Muth geschwächt, die Kräfte gelähmt, und jedes feurige Streben nach Größe und Vollkommenheit erstickt. Doch diese Wirkungen sind freylich nach dem Maße verschieden, in welchem jedes Individuum ihrer mehr oder minder fähig ist. Weiberseelen von gemeinem Schlage, ohne Energie und Kraft, für tiefe Eindrücke zu stumpf, für Aufwallungen des Herzens zu kalt, laufen vielleicht unbekümmert durch’s Leben hin, achten kaum der empfangenen Stöße, oder erwiedern sie, wenn sie können. Aber je zärter und feiner das Gewebe der Empfindung gesponnen ist, je leichter sind auch die Faden zerrissen und verwirrt. Je reiner und richtiger das Selbstbewußtseyn, je größer ist die Gefahr, es zu verletzen; und manche edle Seele, die bey einer liebreichen Behandlung das höchste Ziel weiblicher Vollkommenheit würde haben erreichen können, verfällt in Geistes- und Leibesschwäche, in Melancholie oder Leichtsinn, in Verstimmtheit und Thorheit mancher Art, einzig darum, weil sie verkannt, misverstanden, unbillig behandelt, ihre Empfindlichkeit verlezt wurde, und die schöne Wärme ihres Herzens unbenuzt blieb.

Ist nun die Gefahr so groß, so dringend, wieviel Sorgfalt müßen wir nicht anwenden, ihr zu entgehen! Sind auch die besten Männer vom allgemein verbreiteten Gift der Unbilligkeit gegen uns nicht ganz frey geblieben: wie nothwendig ist nicht ein Verwahrungsmittel, das, wo nicht das Uebel selbst ganz aufzuheben, doch ihm seinen verderblichen Einfluß zu benehmen vermag! Sanftmuth allein ist nicht hinreichend, obgleich heftiges Entgegenstreben gewiß noch unendlich schädlicher ist. Sie, die duldende Sanftmuth, wird zwar Frieden und Anstand im Aeussern erhalten; aber den innern Gram, erschlaffende Muthlosigkeit, das allmählige Verstimmtwerden der Seele, wird sie nicht abwenden können, und laute Klagen werden nun die Wirkung haben, die ein heftiger Windstoß bey der langsam um sich fressenden Flamme hat. Nur Ein Schild ist da, das die Seele decken und ihre zarten Empfindungskräfte vor Verletzung schützen kann; und dieses Schild heißt – Selbstständigkeit. Ich weiß, daß diese Eigenschaft dem jugendlichen, besonders dem weiblichen Herzen, schwer zu erwerben ist. Es schließt sich sogern an alles, schätzt sich selbst nur immer nach dem Werth, den es sich von andern beygelegt sieht, und fühlt gewiß tiefer und lebendiger, als es kein männliches Herz vermag, daß Rousseau recht hat, wenn er sagt: unser wahres Selbst sey nicht ganz in uns.[2] Aber gerade das ist’s was wir bekämpfen müssen; gerade dieses ist die Quelle unsrer Eitelkeit, unsrer Schwäche, und vieler unser Leiden. Darum verwundet uns so tief und blutig manches falsche, brechende Rohr. Darum sind wir so oft das Opfer unsrer besten, reinsten Gefühle. Darum sind unsre edelsten Grundsätze das Spiel der Vorurtheile und der Mode. Nein, wir müssen, wir müssen allein stehen lernen! Wir müssen unsere Denkart, unsern Character in unsern eignen Augen so ehrwürdig machen, daß uns das Urtheil andrer in unserem geprüften und gerechten Urtheil über uns selbst nicht irre machen kann.

Der Grundsatz, daß nur um der Männer willen, nur ihnen zu gefallen, nur von ihnen geachtet, gepriesen, vorgezogen zu werden, die Weiber suchen müßten, liebenswürdige Eigenschaften, Talente und Kenntnisse zu erwerben; dieser von Müttern und Erzieherinnen zur Ungebühr gepredigte, und von den Männern selbst nur zu oft angepriesene Grundsatz, taugt, meiner Meynung nach, nur für den Orient; zu jener unwürdigen Verfassung, wo der seelenschlaffe Mann keiner Gehülfin, sondern nur elender Sklavinnen, nur niedriger Spielwerke sinnlicher Lüste bedarf; wo das ihm gleichgeschaffene freye Weib zu seinem Eigenthum erniedrigt, jedes edleren Zweks ihres Daseyns beraubt ist; dort mögen die Blüthen ihres Geistes in kläglicher Einschränkung zu des Tyrannen Füssen duften und hinwelken, da sie doch keine Frucht ansetzen können, die zum Besten der Menschheit reife. Aber wir, die ein besseres Schicksal und hellere Vernunfterkenntniß beschützt, wir die der Menschheit unentweihte Rechte – wenigstens in vielen Stücken – mit den Männern theilen und genießen: warum sollen wir nicht auch unsre innere, geistige Existenz selbstständig und eigenthümlich erhalten? Haben die Männer nicht bey ihrer Ausbildung, bey ihren Unternehmungen und Entwürfen, einen von unserm Beyfall unabhängigen, durch Pflicht oder Neigung, Nothwendigkeit oder Nutzen bestimmten, und nach ihren mannigfaltigen Fähigkeiten und Bedürfnissen abgemessnen Lebenszweck? Warum sollten wir denn nicht auch, so gut als sie, bey unserm Thun und Denken, bey der Ausbildung unsres Geistes, der Verfeinerung unsres Gefühls, der Anwendung unsrer Talente, auf ein großes Ganze sehen? Und welche wichtige erhabene Zwecke sind es nicht, worauf uns Beruf und Bestimmung blicken heißt? Beförderung des allgemeinen und einzelnen Wohls, sittliche Schönheit und Grazie, erhöhete Anmuth des geselligen Lebens, der große Vorzug eine Pflanzschule edler Menschheit unter unsrer Pflege aufschießen zu sehen, und dadurch Wohlthäterinnen künftiger Zeiten zu werden!

Wie werden dann jene Blendwerke einer kindischen Eitelkeit zerstieben! Wie werden alle die kleinen, unrühmlichen Künste, die Schleichwege der Intriguensucht und das Gewirre wiedersprechender Neigungen und Triebe, verschwinden, wenn unser Streben auf jene großen Zwecke gerichtet ist! Hoher, reiner Genuß wird unsere Seelen stärken zum Handlen und Leiden, zur Ruhe und zur Thätigkeit. Der Weihrauch, den uns die Männer streuen, wird uns nicht berauschen, ihr unverdienter Tadel nicht kränken, ihre Geringschätzung nicht zertreten. Und allmählig werden sich auch diese verlieren, wenn, nicht mehr durch unsre Anmaßungen und kleinlichen Ränke gereizt, die Lust, sich durch Uebermuth zu rächen, ihnen benommen wird.

Die Liebe wird nichts dadurch verlieren. Ach! sie, die gewaltige, richtet doch unbezwingbar alles Wollen und Können und Thun, alle Schönheit, Kraft und Wärme, nur auf einen, Einen Gegenstand. Ihr gilt kein Warnen und Lehren. Sie weiß von Eigenthum und Selbstheit nichts; wie könnte sie kalkulieren, was Glück giebt? Sie kennt ja nur Höhe des Glücks oder Tiefe des Elends.

Aber in allen Verhältnissen, wo es zur Vermehrung und Erhaltung der Zufriedenheit nöthig ist zu kalkulieren, – und wo wär‘ es nöthiger, als in der Ehe? – muß Selbstständigkeit erworben werden, weil sie allein – o möchten es die Prediger der Sanftmuth, Heiterkeit, Gedult und aller leidenden Tugenden doch beherzigen! – weil sie allein diesen Tugenden Kraft und Dauer giebt.

Mögen denn nur immer tadelsüchtige Witzlinge uns mit dem Namen Maîtresse-femme zu persifflieren suchen, wenn wir nicht, wie Rohr vom Winde bewegt, von allen ihren Launen und Grillen abhängen, nicht einzig und ewig alles um ihres Beyfalls willen thun, den wir doch, wie Lafontaine’s Müller (der mit seinem Sohn und seinem Esel sich nach der Meynung eines jeden richtete, und es doch niemals recht machte) auf keine mögliche Weise ganz und durchgängig erlangen werden. Die Guten und Vernünftigen unter ihnen werden es wohl fühlen, wieviel sie dabey gewinnen, wenn wir einen festen Character haben, wenn innere Würde des Gefühls uns lenkt und hebt.

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Anmerkungen

[1] Die Freude, den Lesern und Leserinnen des T. M. einen Aufsatz, wie der Gegenwärtige, mittheilen zu können, ist etwas zu seltenes für mich, als daß ich meinem Herzen, (worin ich so vieles, wovon es bey dieser Gelegenheit überfließen will, zurückdrängen muß) nicht wenigstens erlauben dürfte, der edeln Verfasserin öffentlich für die gütige Gefälligkeit zu danken, womit Sie meiner Bitte nachgegeben, mir denselben zu diesem Gebrauche zu überlassen, nachdem er schon über zehn Jahre unter ihren Papieren verborgen gelegen hatte. Er war ursprünglich bloß zum Gebrauch einer geliebten (ihren Freunden und der Welt allzufrüh entrissenen) Schwester bestimmt: aber eben dadurch erhielt er Etwas, das so vielen auch sonst vortreflichen Abhandlungen über Gegenstände der Moral und Lebens-Philosophie mangelt; Etwas, das auch der schönste und ausgebildteste Geist, allein, ohne die beständige Mitwirkung eines gefühlvollen und innig theilnehmenden Herzens, seinen Produkten nicht zu geben vermag, kurz, Etwas, was alle Leser, die selbst ein Herz haben, bey Durchlesung dieses Aufsatzes ohne mich empfinden werden, und worüber ich ein Buch schreiben könnte, ohne dem übrigen einen Sinn dafür geben zu können.
[2] Notre plus douce existence est relative et collective, et notre vrai moi n’est pas tout entire en nous. Rousseau juge de Jean Jaques.

Quelle: Emilie von Berlepsch, „Ueber einige zum Glück der Ehe nothwendige Eigenschaften und Grundsätze“, in Neuer Teutscher Merkur, Bd. 2, 1791, S. 63–64, 88–93.

Ulrike Weckel, Claudia Opitz, Olivia Hochstrasser und Brigitte Tolkemitt, Hrsg., Ordnung, Politik und Geselligkeit der Geschlechter im 18. Jahrhundert. Göttingen: Wallstein, 1998.

Ruth P. Dawson, „Navigating Gender: Georg Forster in the Pacific and Emilie von Berlepsch in Scotland“, in David Gallagher, Hrsg., Weimar Classicism. Lewiston, NY: Edwin Mellen Press, 2010, S. 39–64.

Julia Frindte, Hrsg., Handlungsspielräume von Frauen um 1800. Heidelberg: Winter, 2005.

Emilie von Berlepsch fordert kognitiv-emotionale Unabhängigkeit für Frauen (1791), veröffentlicht in: German History Intersections, <https://germanhistory-intersections.org/de/deutschsein/ghis:document-304> [23.10.2024].