Joachim Heinrich Campe, „Väterlicher Rath an meine Tochter“ (1789)

Kurzbeschreibung

Der Schriftsteller, Pädagoge und Verleger Joachim Heinrich Campe (1746–1818) repräsentierte die Aporien der deutschen bürgerlichen Kultur. Er begrüßte – zunächst – die Französische Revolution, etablierte aber das moderne, dichotome Geschlechterdenken. Sein Ratgeber von 1789 definierte Geschlecht als naturhaftes Phänomen: Nicht mehr soziale Zugehörigkeit, sondern der Körper bestimme, dass Frauen als abhängige und nicht als selbständige Akteure gedacht würden. Dass die Setzung nicht selbstverständlich war, verriet die Eindringlichkeit, in der Campe Frauen empfahl, Selbstverleugnung als Maßstab zu verinnerlichen, um eine solche Gesellschaft zu akzeptieren.

Quelle

II. Ueber die ungünstigen Verhältnisse des Weibes zur menschlichen Gesellschaft.

Das Erste und Nöthigste, was ich dir, wofern du selbst es nicht schon längst bemerkt haben solltest, hier zu melden habe, ist: daß das Geschlecht, zu dem du gehörst, nach unserer dermahligen Weltverfassung, in einem abhängigen und auf geistige sowol als körperliche Schwächung abzielenden Zustande lebt, und, so lange jene Weltverfassung die nämliche bleibt, nothwendig leben muß. Das ist freilich keine angenehme, aber eine nöthige Nachricht, die ich, wenn ich zu deinem großen Schaden dich nicht täuschen wollte, dir nicht verheelen durfte.

Aber laß dich dadurch nur nicht niederschlagen, mein Kind! Denn wisse, daß es nichts desto weniger, bei einiger Seelenstärke und Selbstverläugnung, ganz bei dir stehen wird, in manchem Betracht eine glückliche Ausnahme von dem Schicksale deiner Schwestern zu machen, und dir einen so würdigen, ehrenvollen und glücklichen Wirkungskreis zu eröffnen, als wir andern sogenannten Herrn der Schöpfung nur immer für uns abzustechen und uns zuzueignen vermögen. Vernimm nur erst, worin jene abhängige, für eure gesammte Ausbildung so ungünstige Lage besteht: dann wollen wir die Mittel ausfindig zu machen suchen, wodurch du das Unangenehme und Schädliche derselben, wo nicht ganz entfernen, doch in hohem Grade vermindern und dir versüßen kannst.

Jede menschliche Gesellschaft, auch die kleinste, die aus Mann und Weib und Kindern besteht, ist ein Körper; und zu jedem Körper gehören Haupt und Glieder. Gott selbst hat gewollt, und die ganze Verfassung der menschlichen Gesellschaften auf Erden, so weit wir sie kennen, ist danach zugeschnitten, daß nicht das Weib, sondern der Mann das Haupt sein sollte. Dazu gab der Schöpfer in der Regel dem Manne die stärkere Muskelkraft, die straffern Nerven, die uns biegsamen Fasern, das gröbere Knochengebäude; dazu den größern Muth, den kühnern Unternehmungsgeist, die auszeichnende Festigkeit und Kälte, und – in der Regel meine ich – auch die unverkennbaren Anlagen zu einem größern, weiterblickenden und mehrumfassenden Verstande. Dazu ward bei allen gebildeten Völkerschaften die ganze Erziehungs- und Lebensart der beiden Geschlechter dergestalt eingerichtet, daß das Weib schwach, klein, zart, empfindlich, furchtsam, kleingeistig – der Mann hingegen stark, fest, kühn, ausdauernd, groß, hehr und kraftvoll an Leib und Seele würde. Die ruhige Lebensart und das Stillsitzen, wozu ihr nun einmahl größtentheils verdammt seid von früher Jugend an; eure, jede freie und rasche Bewegung hindernde, unnatürliche Kleidung; eure Sitten, eure meisten Beschäftigungen, eure ganze gewöhnliche Art zu leben und zu sein, zwecken alle auf Jenes, unsere eigene freiere Lebensart hingegen, unsere jugendlichen Spiele, Uebungen und Geschäfte – in sofern sie von einem verständigen Erzieher angeordnet werden – auf dieses ab. Es ist also der übereinstimmende Wille der Natur und der menschlichen Gesellschaft, daß der Mann des Weibes Beschützer und Oberhaupt, das Weib hingegen die sich ihm anschmiegende, sich an ihm haltende und stützende treue, dankbare und folgsame Gefährtinn und Gehülfinn seines Lebens sein sollte – er die Eiche, sie der Efeu, der einen Theil seiner Lebenskraft aus den Lebenskräften der Eiche saugt, der mit ihr in die Lüfte wächst, mit ihr den Stürmen trotzt, mit ihr steht und mit ihr fällt – ohne sie ein niedriges Gesträuch, das von jedem Vorübergehenden zertreten wird.

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Quelle: Joachim Heinrich Campe, Ueber die ungünstigen Verhältnisse des Weibes zur menschlichen Gesellschaft“, in Väterlicher Rath für meine Tochter: Ein Gegenstück zum Theophron / Der erwachsenern weiblichen Jugend gewidmet von Joachim Heinrich Campe’n (1789). Fünfte rechtmäßige Ausgabe. Braunschweig: Schulbuchhandlung, 1796, S. 21–23. Online verfügbar unter: http://www.digibib.tu-bs.de/?docid=00000588

Ulrike Weckel, Claudia Opitz, Olivia Hochstrasser und Brigitte Tolkemitt, Hrsg., Ordnung, Politik und Geselligkeit der Geschlechter im 18. Jahrhundert. Göttingen: Wallstein, 1998.

Julia Frindte, Hrsg., Handlungsspielräume von Frauen um 1800. Heidelberg: Winter, 2005.

Joachim Heinrich Campe, „Väterlicher Rath an meine Tochter“ (1789), veröffentlicht in: German History Intersections, <https://germanhistory-intersections.org/de/deutschsein/ghis:document-303> [01.12.2023].