Adolph von Knigge, Kritik des aristokratisch-höfischen Lebensstils (1790)

Kurzbeschreibung

Der Schriftsteller und Aufklärer Adolph Freiherr (von) Knigge (1752–1796) stammte aus niedersächsischem Adel. Er war an verschiedenen Fürstenhöfen beschäftigt und arbeitete als Schriftsteller. Bekannt wurde er durch sein Buch Über den Umgang mit Menschen. Es zielte auf die Bildung eines „neuen Menschen“ als Vorbild und Maßstab für eine aufklärerisch gesinnte Gesellschaft. In dieser Passage kritisierte Knigge die adlig-höfische Kultur als oberflächlich, ungebildet und unmäßig und weder auf inneren Werten, nützlichen Kenntnissen oder ernsthafter Arbeit beruhend.

Quelle

Drittes Capitel
Über den Umgang mit Hofleuten und ihresgleichen

Ich fasse hier die Bemerkungen über den Umgang mit Hofleuten und mit solchen Personen überhaupt, die in der so genannten großen Welt leben und den Ton derselben angenommen haben, zusammen. Leider! wird dieser Ton, den Fürsten und Vornehme von solcher Art, wie ich sie im ersten Kapitel dieses Theils beschrieben habe, angeben und ausbreiten, von allen Ständen, die einigen Anspruch auf feine Lebensart machen, nachgeäfft. Entfernung von Natur; Gleichgültigkeit gegen die ersten und süßesten Bande der Menschheit; Verspottung der Einfalt, Unschuld, Reinigkeit und der heiligsten Gefühle; Flachheit; Vertilgung, Abschleifung jeder charakteristischen Eigenheit und Originalität; Mangel an gründlichen, wahrhaftig nützlichen Kenntnissen; an deren Stelle hingegen Unverschämtheit, Persifflage, Impertinenz, Geschwätzigkeit, Inconsequenz, Nachlallen; Kälte gegen alles, was gut, edel und groß ist; Ueppigkeit, Unmäßigkeit, Unkeuschheit, Weichlichkeit, Ziererey, Wankelmuth, Leichtsinn; abgeschmackter Hochmut; Flitterpracht als Maske der Betteley; schlechte Hauswirtschaft; Rang- und Titelsucht; Vorurtheile aller Art; Abhängigkeit von den Blicken der Despoten und Mäcenaten; sclavisches Kriechen, um etwas zu erringen; Schmeicheley gegen Den, dessen Hülfe man bedarf, aber Vernachlässigung auch des Würdigsten, der nicht helfen kann; Aufopferung auch des Heiligsten, um seinen Zweck zu erlangen; Falschheit, Untreue, Verstellung, Eidbrüchigkeit, Klatscherey, Cabale; Schadenfreude, Lästerung, Anecdotenjagd; lächerliche Manieren, Gebräuche und Gewohnheiten – das sind zum Theil die herrlichen Dinge, welche unsre Männer und Weiber, unsre Söhne und Töchter von dem liebenswürdigen Hofgesindel lernen – Das sind die Studien, nach welchen sich die Leute von feinem Tone bilden. Da, wo dieser Ton herrscht, wird das wahre Verdienst nicht nur blos übersehn, sondern soviel möglich mit Füßen getreten, unterdrückt, von leeren Köpfen zurückgedrängt, verdunkelt, verspottet. Kein größrer Triumph für einen faden Hofschranzen, als wenn er den Mann von entschiedenem Werthe, dessen Uebergewicht er heimlich fühlt, demüthigen, ihn auf einen Mangel an conventioneller feinen Lebensart ertappen, und, durch die Art, wie er dies bemerken macht, oder dadurch, daß er mit ihm in einer Sprache oder über Gegenstände redet, wovon er nichts versteht, es dahin bringen kann, daß Jener verwirrt wird und sich in schiefem Lichte zeigt! Kein größrer Triumph für die petitte Maitresse, als wenn sie eine redliche Frau, voll wahrer innerer und äusserer Vorzüge und Würde, in einer Gesellschaft von Weltleuten von einer lächerlichen Seite darstellen kann! Das alles muß man erwarten, wenn man sich unter Menschen von dieser Classe mischt. Man muß sich dann nicht beunruhigen, wenn uns dergleichen wiederfährt, und hinterher sich kein graues Haar darum wachsen lassen. Man hat sonst keinen friedlichen Augenblick, wird unaufhörlich von tausend Leidenschaften, besonders von Ehrgeiz und Eitelkeit in Aufruhr gebracht. Es gibt aber drey Mittel, allen diesen Ungemächlichkeiten auszuweichen, indem man nämlich entweder sich mit der großen Welt unbefangen lässt oder aber in derselben seinen graden Gang fortgeht, ohne sich alle diese Thorheiten anfechten zu lassen, oder endlich, indem man den Ton derselben studiert, und soviel es ohne Verleugnung des Characters geschehen kann, mit den Wölfen heult.

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Quelle: Adolph Freiherr von Knigge, „Über den Umgang mit Hofleuten und ihresgleichen“, in Adolph Freiherr von Knigge, Über den Umgang mit Menschen. Dritter Theil. Dritte verbesserte und vermehrte Auflage. Hannover: im Verlag bey Christian Ritscher, 1790, S. 48–51. Online verfügbar unter: https://www.digitale-sammlungen.de/en/details/bsb10041018

Holger Böning, Hrsg., Volksaufklärung. Eine praktische Reformbewegung des 18. und 19. Jahrhunderts. Bremen: Edition Lumière, 2007.

Paul Münch, Lebensformen in der Frühen Neuzeit. Frankfurt am Main/München: Propyläen, 1992.

Barbara Stollberg-Rilinger, Europa im Jahrhundert der Aufklärung. Stuttgart: Reclam, 2000.

Adolph von Knigge, Kritik des aristokratisch-höfischen Lebensstils (1790), veröffentlicht in: German History Intersections, <https://germanhistory-intersections.org/de/deutschsein/ghis:document-305> [29.11.2023].