„Zigeuner“ als „fremde Einwanderer“ aus Ägypten (1732)
Kurzbeschreibung
Der Artikel stammte aus dem Allgemeinen Historischen Lexikon von 1732. Lexika beanspruchten, allgemeingültiges und objektives Wissen zu vermitteln. Hier erschienen „Zigeuner“ (Sinti und Roma) als exotisches Volk aus dem alten Ägypten, als „landstreiffer“ und „herumläuffer“, die seit dem 14. Jahrhundert nach Europa und „Teutschland“ eingewandert seien. Der Text stereotypisierte sie als Diebe und Hexer und als nicht-christlich und prägte abwertende Topoi, die Wahrnehmung, Diskurse und Politik bis in das 20. Jahrhundert speisten.
Quelle
ZEUGITANE, eine landschafft in Africa, auf der küste des mittelländischen meers, wird durch den fluß Tusca von Numidien abgesondert, und ist anjetzo ein stück des Königreichs Algier. Man sagt, daß die einwohner dieses Landes der wahrsagerey aus den händen sehr ergeben gewesen, und daß die landstreiffer, die man Böhmen oder Aegyptier nennet, daher gekommen seyn. Denn die Teutschen nennen diese letztern Zigeuner, welches wort einige ähnlichkeit mit dem wort Zeugitane hat. Die ersten, welche sich anno 1417 in Teutschland sehen lassen, waren schwartz, garstig und übel bekleidet. Sie führten ihre weiber mit sich, und hatten einen Capitain, Zundel genannt, den sie ehrten, welcher besser gekleidet gieng, als die andern, und dadurch von ihnen unterschieden war. Sie nennten sich Aegyptier, gaben vor, daß sie aus ihrem lande verbannet worden, weil ihre vorfahren die heilige Jungfrau Mariam mit ihrem sohne, als sie Joseph dahin gebracht, nicht annehmen wollen, und suchten dem volck weiß zu machen, daß sie durch einen göttlichen befehl verdammet worden, diese sünde durch eine siebenjährige verbannisirung, da sie hin und her ziehen müsten, und keine gewisse Stätte hätten, zu büssen. Nachgehends, als sie in Franckreich kamen, sprengten sie aus, daß der Pabst ihnen diese öffentliche busse auferlegt hätte, weil sie dem Christlichen glauben abgesagt, und Mahometaner worden, und daß diese straffe auf ihre nachkommen erbte. Es kan seyn, daß diese herumläuffer aus Nubien und Aegypten gekommen, und hernach sich in den ländern um die Donau herum unvermerkt ausgebreitet haben, von wannen sie durch Ungarn in Böhmen gegangen, da sie sich denn zuerst in Teutschland, Italien und Franckreich sehen lassen, und in den ländern, wodurch sie zogen, das volck, so sich zu ihnen begeben wolte, und die sie zu ihrem vorhaben geschickt zu seyn achteten, mit sich nahmen. Einige geben vor, daß sie von den einwohnern der stadt Singara in Mesopotamien (die anjetzo Atalib heist und in Diarbeck liegt) welche von Juliano dem abtrünnigen aus ihrem lande verjaget wurden, entsprossen seyn. Wagenseilius hingegen hat nicht ohne Wahrscheinlichkeit dafür gehalten, die erste Zigeuner wären Juden gewesen, die sich in den um die mitte des 14 seculi wider dieses volck aus anlaß der damahls wütenden pest erregten harten verfolgungen zusammen geschlagen, und, damit sie desto sicherer wären, einen gantz fremden und fernen ursprung angegeben hätten; welche meynung denn sowohl durch die zeit, in welcher diese leute zuerst erschienen, als durch die viele Jüdische und Hebräische wörter, so in der Zigeuner-Sprache untermischet zu finden, bestärcket zu werden scheinet. Gleichwie man aber nicht allzu gewiß weiß, wo sie anfänglich hergekommen, also ist hingegen dieses gewiß, daß sie Carolus V an. 1549 aus Spanien und Brabant, Carolus IX an. 1561 aus Franckreich, und die vereinigten Niederlande an. 1582 aus ihren herrschafften verbannet haben, nachdem sie durch ihre dieberey und hexerey bey allen nationen sich verhaßt gemacht. Es sind auch dergleichen leute in der Türckey, welche Torloquen genennet werden, und von Bajazet aus unterschiedlichen orten weggejaget wurden.
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Quelle: „Zeugitane“, in Allgemeines Historisches Lexicon, Dritter und Vierdter Theil, H-Z, Leipzig: Thomas Fritsch, 1709, S. 722. Online verfügbar unter: https://digital.bibliothek.uni-halle.de/hd/content/pageview/1715539
Weiterführende Inhalte
Beate Althammer und Christina Gerstenmayer, Hrsg., Bettler und Vaganten in der Neuzeit (1500–1933). Eine kommentierte Quellenedition. Essen: Klartext, 2013.