Nach 12 Jahren Paris auf Deutschlandreise: Heinrich Heine, Deutschland. Ein Wintermärchen (1844)
Kurzbeschreibung
Heinrich Heine (1797–1856), einer der wichtigsten deutschen Dichter des 19. Jahrhunderts, wurde wegen seiner jüdischen Herkunft von vielen nicht als deutsch anerkannt. Nachdem er die französische Julirevolution von 1830 begrüßt hatte, erhielt er Publikationsverbot im Deutschen Bund und lebte seit 1831 in Paris. Sein sarkastischer Kommentar zum Rheinlied von Nikolaus Becker („Sie sollen ihn nicht haben, den freien deutschen Rhein“) bildete ein Gegengewicht zum nationalistischen Pathos in der sog. Rheinkrise von 1840, als die französische Regierung wieder Anspruch auf die linksrheinischen Gebiete erhob, die infolge des Wiener Kongresses preußisch geworden waren.
Quelle
Caput V.
Und als ich an die Rheinbrück' kam,
Wohl an die
Hafenschanze,
Da sah ich fließen den Vater Rhein
Im
stillen Mondenglanze.
„Sei mir gegrüßt, mein Vater Rhein,
Wie ist es dir
ergangen?
Ich habe oft an dich gedacht
Mit Sehnsucht und
Verlangen.“
So sprach ich, da hört ich im Wasser tief
Gar seltsam
grämliche Töne,
Wie Hüsteln eines alten Manns,
Ein
Brümmeln und weiches Gestöhne:
„Willkommen, mein Junge, das ist mir lieb,
Daß du mich nicht
vergessen;
Seit dreizehn Jahren sah ich dich nicht,
Mir
ging es schlecht unterdessen.
Zu Biberich hab ich Steine verschluckt,
Wahrhaftig, sie
schmeckten nicht lecker!
Doch schwerer liegen im Magen
mir
Die Verse von Niklas Becker.
Er hat mich besungen, als ob ich noch
Die reinste Jungfer
wäre,
Die sich von niemand rauben läßt
Das Kränzlein ihrer
Ehre.
Wenn ich es höre, das dumme Lied,
Dann möcht ich mir
zerraufen
Den weißen Bart, ich möchte fürwahr
Mich in mir
selbst ersaufen!
Daß ich keine reine Jungfer bin,
Die Franzosen wissen es
besser,
Sie haben mit meinem Wasser so oft
Vermischt ihr
Siegergewässer.
Das dumme Lied und der dumme Kerl!
Er hat mich schmählich
blamieret,
Gewissermaßen hat er mich auch
Politisch
kompromittieret.
Denn kehren jetzt die Franzosen zurück,
So muß ich vor ihnen
erröten,
Ich, der um ihre Rückkehr so oft
Mit Tränen zum
Himmel gebeten.
Ich habe sie immer so liebgehabt,
Die lieben kleinen
Französchen –
Singen und springen sie noch wie
sonst?
Tragen noch weiße Höschen?
Ich möchte sie gerne wiedersehn,
Doch fürcht ich die
Persiflage,
Von wegen des verwünschten Lieds,
Von wegen
der Blamage.
Der Alfred de Musset, der Gassenbub',
Der kommt an ihrer
Spitze
Vielleicht als Tambour, und trommelt mir vor
All
seine schlechten Witze.“
So klagte der arme Vater Rhein,
Konnt sich nicht
zufriedengeben.
Ich sprach zu ihm manch tröstendes
Wort,
Um ihm das Herz zu heben:
„O fürchte nicht, mein Vater Rhein,
Den spöttelnden Scherz
der Franzosen;
Sie sind die alten Franzosen nicht
mehr,
Auch tragen sie andere Hosen.
Die Hosen sind rot und nicht mehr weiß,
Sie haben auch
andere Knöpfe,
Sie singen nicht mehr, sie springen nicht
mehr,
Sie senken nachdenklich die Köpfe.
Sie philosophieren und sprechen jetzt
Von Kant, von Fichte
und Hegel,
Sie rauchen Tabak, sie trinken Bier,
Und manche
schieben auch Kegel.
Sie werden Philister ganz wie wir,
Und treiben es endlich
noch ärger;
Sie sind keine Voltairianer mehr,
Sie werden
Hengstenberger.
Der Alfred de Musset, das ist wahr,
Ist noch ein
Gassenjunge;
Doch fürchte nichts, wir fesseln ihm
Die
schändliche Spötterzunge.
Und trommelt er dir einen schlechten Witz,
So pfeifen wir
ihm einen schlimmern,
Wir pfeifen ihm vor, was ihm
passiert
Bei schönen Frauenzimmern.
Gib dich zufrieden, Vater Rhein,
Denk nicht an schlechte
Lieder,
Ein besseres Lied vernimmst du bald –
Leb wohl,
wir sehen uns wieder.“
Quelle: Heinrich Heine, Deutschland. Ein Wintermärchen. Hamburg: Hoffmann und Campe, 1844, S. 298–303. Online verfügbar unter: https://gutenberg.spiegel.de/buch/deutschland-ein-wintermarchen-383/6