Ida Hahn-Hahn, Erinnerungen an Frankreich (1842)
Kurzbeschreibung
Ida Hahn-Hahn (1805–1880) war eine zeitgenössisch bekannte und viel gelesene Schriftstellerin. Sie wurde zu Lebzeiten für ihren Stil und ihren aristokratischen Gestus kritisiert, später für rassistische Stereotypisierungen im Blick auf den „Orient“. Ihre Schrift von 1842 reflektierte das zeitgenössische Pathos, mit dem der Rhein zur Grenze zwischen Deutschland und Frankreich erhoben und als Ort inszeniert wurde, der emotional zu feiern sei.
Quelle
[…] – Seit drei Monaten bin ich aus Frankreich heimgekehrt. So lange ich dort war, hab’ ich nicht eine Zeile darüber geschrieben; theils aus Mangel an Zeit, theils aus Furcht allzu ungerecht gegen Land und Volk zu sein, welche mir beide, so unmittelbar auf Spanien folgend, gar matt und farblos schienen. Die Sonne muß erst eine Zeitlang untergegangen sein, bevor wir in dem Mond etwas andres sehen, als einen weißen Fleck; und wie die Sonne hat Spanien auf mich gewirkt; glühend, brennend, blendend; keiner Farbe entsprechend, aber auch keine vermissen lassend; keiner bestimmten Schönheit angehörend, aber sie in sich verschmelzend; mächtig, beherrschend, die Phantasie anregend, zukunftsgewiß. Von dem Allen hab‘ ich keine Spur in Frankreich gefunden! Es kam mir, ich kann nicht sagen, wie grau, vermorscht und bestäubt vor! Hätte ich damals geschrieben, so wär’ es ein Buch von schlaftrunkner Mattigkeit worden, das wußt‘ ich instinktmäßig. Nicht ein Fünkchen von Poesie loderte in mir auf, nicht ein Hauch von lyrischer Stimmung flog mir durch den Sinn. Ganz treu, ganz gewissenhaft, und mitunter, wenn historische Erinnerungen aufwachten, auch mit Interesse, ging ich Schritt vor Schritt vorwärts, aber ich tanzte nie, und noch weniger flog ich. Ich betrug mich vollkommen wie eine gute Ehefrau, die pünktlich ihre Pflicht erfüllt ohne sich weiter auf Grazie und Liebenswürdigkeit und Bezauberung einzulassen. Wie war das auf einmal anders, als ich an die Mosel kam – und gar an den Rhein! O liebes Herz! Am Rhein bin ich nie älter als zwanzig Jahr! Da ist ein wellen- und flügelschlagendes Element, so ein ächter Liederrausch in mir! Da fühl’ ich mich heimatlich! Möge ich dahin kommen von der Ostsee oder vom Guadalquivir – immer ists dies tiefe, namenlose Heimatsgefühl, das mich zugleich glücklich, reich und ruhig macht. Ach, der Rhein! Was wollen dagegen die armen Flüsse sagen, Seine, Garonne, Tajo? Das sind ja nur kleine untergeordnete Kräfte, aber keine Macht erster Größe, wie der Rhein. Es giebt einige Flüsse, die repräsentieren ganze Zeiten und Völker und Ideen in der Geschichte. Da ist der Scamander; der gehört zur griechischen Heroenwelt, wo die Götter Partei nahmen für die Menschen, und mit ihnen und gegen sie stritten, und ihnen dadurch ich weiß nicht welche unirdische Kraft und Schönheit einhauchten. Da ist der Nil, der priesterliche Strom, geheimnisvoll wie ein Dogma, segensreich wie das Walten eines göttlichen Geistes, verhüllt in seinem Ursprung und offenbar in seiner Wirkung wie eine göttliche Lehre. Da ist der Jordan: das ist der Strom der Offenbarung! Über seinen Wellen rauschet der klingende Flügelschlag der Taube und eine andre Stimme als die, womit Menschenlippen zu reden pflegen, hallt wie ein Echo der Ewigkeit darüber hin. Da ist der Tiber, der kleine trübe Fluß, riesengroß und stralend im Wiederschein von Romas unsterblichen Kronen. Da ist der Rhein, der heldenhafte Strom! über den gehen die Völker nie anders als mit gezogenem Schwert, während doch an seinen Ufern, recht wie im Schirm einen Helden, das Leben frei, sicher und üppig sich lagert. Wie klingen die Becher, wie schallen die Lieder, wie flüstern die Sagen, wie klirren die Waffen, und wie horcht er dem Allen so traulich zu, so ermunternd, und murmelt unablässig sein Wort dazwischen: seid stark, meine Kinder, seid stark! Dem Rhein fall’ ich ans Herz; – anders nah’ ich mich ihm nie. Bei ihm bin ich zu Hause. […]
Quelle: Ida Hahn-Hahn, Erinnerungen aus und an Frankreich, 2 Bde. Leipzig: Duncker, 1842, Bd. 1, S. 2–5. Online verfügbar unter: http://mdz-nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bvb:12-bsb10110222-0
Weiterführende Inhalte
Bernhard Struck, „Vom offenen Raum zum nationalen Territorium. Wahrnehmung, Erfindung und Historizität von Grenzen in der deutschen Reiseliteratur über Polen und Frankreich um 1800“, in Etienne François, Jörg Seifarth, und Bernhard Struck, Hrsg., Die Grenze als Raum, Erfahrung und Konstruktion. Deutschland, Frankreich und Polen vom 17. bis zum 20. Jahrhundert. Frankfurt/New York: Campus, 2007, S. 77–104.