Adam Heinrich Müller, „Vom echten Deutschen“ (1808)

Kurzbeschreibung

Der Rechts- und Staatswissenschaftler Adam Heinrich Müller (1779–1829) arbeitete sowohl für den preußischen Staat als auch, von 1813 bis 1825, für Österreich. Gegen die Hardenbergsche Reformpolitik gerichtet, plädierte er für einen organisch gewachsenen monarchischen Ständestaat. Zusammen mit Achim von Arnim gründete er die „Christlich-Deutsche Tischgesellschaft“. In seiner Rezension von Fichtes Reden an die deutsche Nation übersetzte Müller den konfessionellen Unterschied zwischen Christentum und Judentum in den angeblichen Gegensatz von deutsch vs. jüdisch. Er konstatierte, daß Deutsche und Juden in der historisch vergleichbaren Situation wären, eine „Nation ohne Nation“ zu bilden, lehnte es jedoch als undenkbar ab, daß sich Deutsche an Juden ein Vorbild nehmen könnten.

Quelle

[] Was Fremde[1] bei den Worten: deutsch und Deutschheit, deutscher Mann und deutsche Frauen etwa denken oder meinen mögen, ist uns, den echten Deutschen, ebenso unverständlich und hoffentlich ebenso gleichgültig, als jenen Fremden das ganz eigne, erfreuliche, würdige und echtnationale Gefühl unbegreiflich und unnachfühlbar bleiben muß, welches uns ergreift, wenn wir mit besonnenem Bewußtsein diese Worte aussprechen oder über-denken, oder wenn sich aus einer andern Brust, durch Worte oder Taten, das Dasein eben dieses Bewußtseins, dieses Anerkennens und Vertrauens auf eigene innere Würde lebendig und faßlich herausspricht. Man würde sich vergebens bemühen, durch wenige oder viele Worte das, was wir meinen, denen verständlich zu machen, welchen das einzelne Wort nicht genügt, an das sich ein heiliger, über die gewöhnliche Karikaturnationalität erhabener Sinn knüpft, eine charakteristische, in allem Tun und Wesen sich offenbarende Eigenheit des Gemüts, die zunächst an Christlichkeit grenzt und in ihrer weitesten Ausdehnung jedem Sohne der Erde innewohnen kann, durch welche Zunge oder welche Schriftzüge er übrigens sein inneres Leben zu Tage zu fördern gewöhnt ist. Der echte Deutsche ist treu, bescheiden, fromm und fleißig, der mutige Verteidiger des Vaterlandes und der guten Sache, der ruhige und der rechtliche Bürger, der Unglücks- und Zwillingsbruder des Schweizers, wie auch immer die Zeitereignisse damit im Widerspruch zu stehn scheinen, wieviel räudige Schafe sich auch mögen unter die Herde verlaufen haben. Daß sie, die Deutschen, kein einziges sichtbares Reich ausmachen, daß sie untertänig geworden sind ihren siegreichen und kriegserfahrenen Nachbarn, davon liegt die Schuld an langverjährten politischen Übeln, an jener entnervenden Kraft der kalten Verstandesaufklärung und der Energielosigkeit der Regierungen, wodurch Mangel an Einheitssinn und äußerem Aneinanderhalten, Unbewußtsein ihrer gemeinsamen Kraft und Ungewohntheit zu raschem, wenn schon besonnenem Handeln notwendigerweise erzeugt werden mußte. Solange ihnen diese fehlt, werden sie nie in dem politischen Staatenverein als selbständige Macht auftreten, sondern ein Werkzeug fremder Hände bleiben und auch kein anderes Schicksal verdienen. Ganz etwas anderes aber auch als diese ausgezeichnete politische Existenz, welche durch die jüngsten Ereignisse verloren gegangen, scheint der Verfasser der Reden im Sinne gehabt zu haben: jenes Gemeinsame der Sprache, Denkart und Gesinnung, welches die Nationen (nicht etwa die Staaten) eigentlich zu Nationen macht, das sich fortpflanzt und die Einzelnen zu einem Ganzen verbindet, welch eine Veränderung sich auch in der Länder- und Gouvernementseinteilung ereigne, und was bestehen und fortdauern kann, ohne daß die respektiven Regierungen und Herrscher sich deshalb zu ängstigen oder diesem Wesen zu steuern hätten, so wie sich ihm ohnehin auch nicht steuern läßt. Es ist schlimm, daß uns die Geschichte kein anderes Beispiel für dieses Bleiben der Nationalität aufgestellt hat als gerade ein solches, zu dem wir mit Widerwillen hinübersehen und das seinem innersten Wesen nach mit der Deutschheit in Widerspruch steht, als das Judentum nämlich. Gerade diese Nationalität aber ist das einzige Gut, das uns über den Verlust der äußern Freiheit zu trösten, was sie uns dereinst, in glücklichern Zeiten, vielleicht wieder zurückzuführen vermag, dieses einzige Gut, was uns durch niemand geraubt, aber auch durch niemand gegeben werden kann als durch uns selbst. Daß sie sich nur noch in wenigen Stellvertretern in voller hoher Reinheit bewahrt hat, daß sie vielleicht zugrunde gehen wird wie die andern unterjochten Nationen und notwendig zugrunde gehen muß, wenn sie nicht eben durch diese wenigen Individuen aufrecht erhalten, angefacht und lebendig gemacht wird, liegt offen genug am Tage. Jeder von diesen wenigen sollte es demnach für seine heiligste Pflicht achten, die heilige Flamme zu nähren, und wo sich irgend eine reine Stimme erhebt, sollte sie mit Andacht gehört, mit Ernst und Eifer berücksichtigt, mit Liebe und Vertrauen beantwortet werden. Die Sache ist aber auch wiederum zu heilig und würdig, um aus falscher Delikatesse bei allem, was auf sie Bezug hat, das Verkehrte zweckmäßig, das Mittelmäßige vortrefflich zu nennen und irgend einen Scharlatanismus zu dulden oder ihm das Wort zu reden, unter welcher Gestalt er sich immer verkünde. []

Anmerkungen

[1] Barbari – auf welchem Erdstriche sie übrigens geboren oder zu Tode gefüttert worden sein mögen, gilt einerlei.

Quelle: Adam Heinrich Müller, „Vom echten Deutschen“, abgedruckt in Heinz Ludwig Arnold, Hrsg., Deutsche über die Deutschen. Auch ein deutsches Lesebuch. München: Beck, 1972, S. 156–58. Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung. Ursprünglich aus „Fichtes Reden an die deutsche Nation“, in Adam Müller, Kritische/ästhetische und philosophische Schriften, herausgegeben von Walter Schroeder und Werner Siebert. Neuwied und Berlin, 1976.

Christhard Hoffmann, „Das Judentum als Antithese“, in Wolfgang Benz, Hrsg., Antisemitismus in Deutschland. Zur Aktualität eines Vorurteils. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1995, S. 25–46.

Adam Heinrich Müller, „Vom echten Deutschen“ (1808), veröffentlicht in: German History Intersections, <https://germanhistory-intersections.org/de/deutschsein/ghis:document-315> [01.12.2023].