Vereine machen Geschichte: Der Verein für hessische Geschichte (1837)
Kurzbeschreibung
Der Verein für hessische Geschichte war einer der vielen regionalen Vereine, die Anfang des 19. Jahrhunderts zur Erforschung und Förderung der Lokalgeschichte gegründet wurden. Dieses Rundschreiben beschreibt, wie und warum der Verein 1834 gegründet wurde, und stellt dann dessen Satzung vor. Texte wie dieser geben Aufschluss über die Art von Wissen, welches die Mitglieder für die Erforschung, Erhaltung und Verbreitung ihrer lokalen Geschichte für unerlässlich hielten. In diesem Fall ist es interessant festzustellen, wie viel Wert auf Karten—auch auf sprachliche—und auf die Erforschung von Dialekten gelegt wurde. Dieses Rundschreiben belegt das große Interesse an der Lokalgeschichte und die Frage, wie diese Geschichte mit der „deutschen“ Geschichte des Vaterlandes in den Jahrzehnten vor der Reichsgründung zusammenhing.
Quelle
Gründung des Vereins für hessische Geschichte und Landeskunde.
Die erste Einladung zur Bildung dieses Vereins erließen die HH. Bernhardi, Landau, von Rommel und Schubart am 16. August 1834. „Seitdem“, so heißt es in derselben, „der edle und wahrhaft deutsche Freiherr v. Stein „durch die Gründung der Gesellschaft für Deutschlands ältere Geschichtskunde die Quellenforschung für die allgemeine Geschichte unseres Vaterlandes kräftig angeregt und neu belebt hat, sind auch fast in allen deutschen Ländern Vereine gebildet worden, welche für die besondere Geschichte einzelner Gaue das zu leisten suchen, was dem Geschichtsforscher, welcher ganz Deutschland im Auge hat, theils entgeht, theils von ihm unberücksichtigt bleiben muß. Das Verdienstliche dieser Bestrebungen, wodurch es allein möglich wird, das für jeden Einzelnen unermeßliche Feld der deutschen Geschichtsquellen, bei angemessener Vertheilung, vollständig zu durchforschen, das Gefundene zu sichten, zu ordnen, mit der dazu erforderlichen geschichtlichen und geographischen Ortskenntniß zu erläutern, und in fachgemäßer Auswahl zu veröffentlichen, oder doch dem Geschichtschreiber zugänglich zu machen, ist von allen Freunden vaterländischer Geschichte so allgemein anerkannt, daß eine Einladung zur Bildung eines besonderen Vereins für hessische Geschichte und Landeskunde keiner weiteren Rechtfertigung bedarf.“
„In Oestreich, Preußen, Hannover, Sachsen, Baiern, Baden und Nassau wetteifern bereits zahlreiche Vereine in dem rühmlichen Bestreben, aus den Trümmern verfallender Denkmäler und aus dem Moder schwindender Archive alle die Nachrichten über die Thaten und Schicksale ihrer Väter zu retten, welche ein glückliches Ungefähr bis dahin noch erhalten hat; warum sollte Hessen sich ihnen nicht bereitwillig anschließen? Fehlt es uns doch weder an glorreichen Erinnerungen aus der Vorzeit, noch an Liebe und Anhänglichkeit an den heimischen Boden, noch auch an Männern, welche mit Eifer und Erfolg die vaterländische Geschichte bearbeiten! Nur an einem gedeihlichen Zusammenwirken hat es bisher gefehlt, und darum dürfen wir erwarten, daß diese Einladung überall eine günstige Aufnahme finden und unserem Vereine eine hinreichende Anzahl thätiger Mitglieder zuführen werde.“
[…]
„Unser Verein soll den doppelten Zweck haben, über den Zustand und über die Geschichte unseres Vaterlandes genauere und umfassendere Forschungen anzustellen, als Einzelne dieß zu thun im Stande sind; und durch Mittheilungen aus der Geschichte und Landeskunde den Geschmack für vaterländische Studien zu wecken und gründliche Kenntnisse über diese Gegenstände zu verbreiten.“
„Unter Geschichte verstehen wir aber hier nicht blos eine Zusammenstellung derjenigen Begebenheiten, welche die äußeren Schicksale der Staaten auf eine auffallende Weise verändert und umgewandelt haben, sondern wir verstehen darunter vorzugsweise die sorgfältige Erforschung des inneren Lebens derselben, der besonderen Verhältnisse, Einrichtungen und Gestaltungen, und der geistigen Entwickelung und Bildung, nebst einer getreuen Darstellung dieser im Stillen wirkenden Kräfte, welche auf das Wohl und Wehe der Völker einen viel mächtigeren Einfluß üben, als die meisten Kriege, Schlachten und Friedensschlüsse. Wollten wir nur den Begebenheiten von welthistorischer Wichtigkeit unsere Aufmerksamkeit widmen, so würde uns die Geschichte unseres Vaterlandes höchstens zwei bis drei Glanzpunkte darbieten, wo es dem kleinen Hessen vergönnt war, ein entscheidendes Gewicht in die Wagschaale Europa’s zu legen; suchen wir aber zu erforschen, zu welchen Zeiten und unter welchen Verhältnissen sich unsere Vorfahren in ihrem täglichen Leben glücklich fühlten, und wann und wie sie in Noth und Bedrängniß geriethen, dann eröffnet sich für uns ein weites, fruchtbares Feld, auf dem Erfahrungen reifen für die Gegenwart und für alle künftigen Zeiten. Nur müssen wir dann auch unsern Gesichtskreis erweitern, und alle Elemente ins Auge fassen, die das eigenthümliche Schicksal eines Volkes bestimmen:
Zunächst die Natur des Landes, welches ihm zum Wohnsitz dient, sammt allen Erzeugnissen der drei Reiche; dann das Volk selbst nach seiner Abstammung, nach seinen Sitten und Gewohnheiten und nach seiner gewerblichen und geistigen Bildung; ferner
die Religion und kirchliche Verfassung desselben, nach der ihr inwohnenden Kraft, Völker zu erheben und niederzudrücken; auch
die Staats- und Rechtsverhältnisse desselben; und endlich
die Weltgeschichte selbst, die in ihrem mächtigen Schritte das einzelne Volk unwiderstehlich mitfortreißt, so wie auch das Wirken der Fürsten und Herren des Landes und aller ausgezeichneten Geister, welche auf das Schicksal ihrer Mitbürger einen entscheidenden Einfluß gehabt haben.“
„Die Geschichte, in diesem Sinne des Wortes, umfaßtalle Zweige des menschlichen Treibens und Wirkens, und Jeder kann da sein Scherflein zur vollständigen Uebersicht des Ganzen beitragen. Darum durften wir es wagen, die Unterstützung von Männern, deren verschiedenartige Berufsgeschäfte eine eigentliche Bearbeitung dessen, was man gewöhnlich Geschichte nennt, nur höchst selten gestatten, zu unserm Zwecke in Anspruch zu nehmen, ohne uns dadurch den Vorwurf unbilliger Anmuthung zuzuziehen; denn wir verfolgen keine einseitige Richtung, sondern wir wollen die innere Geschichte des Vaterlandes in allen ihren Verzweigungen auffassen, ausgehend auf der einen Seite von dem Anfange geschichtlicher Ueberlieferungen und auf der andern von dem gegenwärtigen Zustande des Landes, als den beiden Endpunkten, welche durch die historische Forschung, nach ihrem natürlichen Zusammenhange, d. h. nach der ununterbrochenen Verkettung von Ursache und Wirkung, verbunden werden müssen. Wer daher auch nur den gegenwärtigen Zustand unseres Vaterlandes in Beziehung auf sein Fach klar erkannt hat, der kann schon mit geringer Mühe und mit Aufopferung weniger Stunden unsern Zweck fördern und die Landeskunde wesentlich bereichern, wenn er die ihm bekannten Nachrichten im Archiv des Vereins zur Benutzung niederlegt. Hat er sich aber mit dem früheren Zustande und mit der allmäligen Ausbildung der Anstalten, an denen er zu wirken amtlich berufen ist, bekannt gemacht, dann ist er gewiß besser als irgend Jemand im Stande, recht gründliche historische Forschungen in diesem Fache anzustellen; z. B. eine Geschichte des frühesten Betriebs der Bergwerke in Hessen, geschichtliche Forschungen über den Landbau, eine Geschichte der Gewerbe, Innungen und Zünfte, Untersuchungen über die früheren Handelsstraßen und Waarenzüge durch Hessen, die Entstehung, Entwickelung und Verfassung der hessischen Städte und Gemeinden; das sind lauter Aufgaben von hohem Interesse, die jedoch der Geschichtsforscher nur in Verbindung mit dem eigentlichen Sachverständigen, oder dieser nur mit Unterstützung des Urkundensammlers befriedigend lösen kann. —
[…]
Insbesondere wäre die Entwerfung einer, auf trigonometrische Berechnungen gegründeten und in allen ihren Einzelnheiten berichtigten Karte des Kurstaates eine unseres Vereines würdige Aufgabe, denn noch immer trifft uns der Vorwurf, daß die ausführlichste Karte von Hessen zwar von vaterländischen Gelehrten entworfen, aber doch nur in fremder Sprache und vielfach verstümmelt von einem Feinde herausgegeben ist, der das Land vor 70 Jahren mit Krieg überzogen hatte.“
[…]
„Aber nicht blos forschen, nicht blos auf die Erweiterung des historischen Wissens an sich wollen wir bedacht sein, sondern der Verein muß es sich auch angelegen sein lassen, die Verbreitung gründlicher historischer Kenntnisse soviel als möglich zu befördern. Eine von dem Vereine zu begründende Zeitschrift, in zwanglosen Heften, dürfte wohl das geeignetste Mittel sein, den Geschmack für vaterländische Geschichte zu wecken und zu beleben, und zugleich die Mitglieder des Vereins selbst mit mehr Lust und Eifer zum Arbeiten zu erfüllen. Wissenschaftliche Behandlung der Gegenstände wäre zwar die erste Bedingung der zu liefernden Aufsätze, aber die Verfasser würden sich zugleich bestreben, eine möglichst klare und lebendige Darstellung damit zu verbinden, und würden Sorge tragen, daß der gebildete Leser nicht durch eine zu große Menge, wenn auch wichtiger, doch meist nur dem Forscher verständlicher Urkunden zurückgeschreckt werde. Eine mit dem Verwaltungsausschusse eng verbundene Redaction würde die einschlagenden Geschäfte besorgen, und der Gesellschaft für die Aufnahme der geeignetsten Aufsätze verantwortlich sein.“
„Gelingt es dann dem Vereine, sich durch seine Leistungen eine ehrenvolle Stelle unter den übrigen historischen Gesellschaften Deutschlands zu erwerben, so darf er auch wohl mit einem umfassenderen Plane hervortreten, und diese sämmtlich zur gemeinschaftlichen Lösung einer Nationalaufgabe auffordern, nämlich zur Entwerfung einer Sprachenkarte von ganz Deutschland und zur Ausarbeitung genauer Idiotiken der verschiedenen Mundarten. Noch sind uns die Grenzen der deutschen Sprache gegen Frankreich und Italien und gegen die slavischen Sprachen kaum im Allgemeinen bekannt; noch viel weniger kennen wir die Abgrenzung der hochdeutschen Mundart von der niederdeutschen und die mannichfaltigen Schattirungen beider, und doch ist die Sprache unstreitig eins der untrüglichsten Kennzeichen ursprünglicher Stammesverwandtschaft, mithin eine wichtige, bisher fast ganz vernachlässigte Quelle für die ältere Volksgeschichte; nicht zu gedenken, daß dergleichen Forschungen auch für die Sprache selbst von wesentlichem Nutzen sind. Dazu kommt, daß es die höchste Zeit ist, diese Untersuchungen ins Werk zu setzen, weil die vorherrschende Schriftsprache durch die mit jedem Jahre gründlicher betriebene Schulbildung einen Ueberrest der alten Mundarten nach dem andern wegtilgt. Freilich erfordert dieß Unternehmen erst noch reifliche Prüfung und besondere Vorbereitung, indeß zählen wir unter den Theilnehmern des Vereins Männer, welche zur Leitung dieser Forschungen vollkommen befähigt sind.“
[…]
Statuten des Vereins für hessische Geschichte und Landeskunde.
§ 1. Der Zweck des Vereins ist allseitige Erforschung und Darstellung der Geschichte, Topographie und Statistik von Hessen.
§ 2. Als Grundlage einer umfassenden Geschichte des Landes und seiner Bewohner, und als Gegenstände, denen deshalb vorzügliche Aufmerksamkeit zu widmen ist, werden insbesondere bezeichnet:
die natürliche Beschaffenheit des Landes und seiner Erzeugnisse;
der Ursprung und die Stammverhältnisse der Bewohner, die Sprache nach ihren Mundarten, Sagen, Lieder u. s. w.;
die Geschichte des Volkes, der Fürsten, Geschlechter und Ortschaften;
die alte Gau- und spätere Gerichtsverfassung;
das Kirchenwesen;
die Güterverhältnisse;
die städtischen Freiheiten, das Zunftwesen und andere Genossenschaften, die Gewerbe und bäuerlichen Verhältnisse und sonstige die Landwirthschaft betreffende Einrichtungen;
die Rechtsalterthümer, Gebräuche, Festlichkeiten;
die Fortschritte und Leistungen der Wissenschaften und Künste, und Beschreibung von Alterthümern aller Art; überhaupt alles, was dazu dienen kann, ein möglichst richtiges und vollständiges Bild von dem Zustande des Vaterlandes in den verschiedenen Zeiten zu entwerfen, und die allmäligen Uebergänge aus einem Zustande in den andern nach ihren Ursachen und Wirkungen zu entwickeln.
Auf Sammlung und, so weit es thunlich ist, Erhaltung alter Denkmäler und Urkunden wird der Verein möglichst bedacht sein, und wünscht auch die Aufmerksamkeit der einzelnen Glieder auf diesen Gegenstand zu richten.
Quelle: Zeitschrift des Vereins für hessische Geschichte und Landeskunde. Erster Band, 1837, S. I–X. Online verfügbar unter: http://mdz-nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bvb:12-bsb10022274-7