Aras Ören, Gedichte (1978)

Kurzbeschreibung

Aras Örens erster Band in seiner vom Rotbuch Verlag publizierten Berlin-Trilogie katapultierte den türkischen Wahlberliner auf die deutsche und europäische Literaturbühne. Örens poetische Imagination von Begegnungen zwischen neuen und alten Bewohnern im Bezirk Berlin-Kreuzberg schreibt die Migranten ein in den Text der Stadt. 1939 in Istanbul geboren, gestaltet Ören seit Ende der 1960er Jahre türkischdeutsches Leben in Berlin: als Autor, Redakteur und Leiter der türkischen Redaktion Sender des Freien Berlins (SFB).

Ören, der seine Werke auf Türkisch verfasst und ins Deutsche übersetzen lässt, war der erste Preisträger des Adelbert-von-Chamisso-Preises. Mit dem Preis ehrte die Robert-Bosch-Stiftung 1985 bis 2017 „Autoren, deren Muttersprache und kulturelle Herkunft nicht die deutsche ist und die mit ihrem Werk einen wichtigen Beitrag zur deutschsprachigen Literatur leisten“. Der Preis zielte auf Anerkennung für das „Schreiben auf Achse”, das sich aus mehr als einer Sprache speist und Orte jenseits der Landesgrenzen in den deutschsprachigen Horizont rückt.

Quelle

Deutschland, ein türkisches Märchen

Man nährte unsere Hoffnung
mit Geheimnissen:
Sogar die Fahrbahnen sind von
unten mit Zentralheizung ausgelegt –
so sagte man uns, wir glaubten's.

Der Schnee ist weiß, wenn er vom Himmel fällt,
und grau von Ruß, wenn er unten ankommt.
So erhaben die Technik ist,
so sehr verschönt sie die Natur –
so sagte man uns, wir glaubten’s.

Die Tage zerrinnen,
die Sachen auch.
Ist in dein Gesicht ein Schmerz eingestickt? –
so sagte man uns, wir sahen's nicht.

Hebel umlegen, auf Knöpfe drücken,
dafür kriegst du Geld.
Und eine Regierung ist da, du meinst,
die wird niemals abgesetzt –
so sagte man uns – und schon bist du reich!

Ist in dein Gesicht ein Schmerz eingestickt? –

so sagte man uns, wir sahen's nicht.

I

Ali hob an:
Immer dieses entsetzliche Gehetze
Von Juni zu Juni – welcher Juni überhaupt?
Nein, nicht neuerdings, gnädige Frau,
ich meine die Nachkriegsjahre.

Ich sah Sie die letzten Trümmer wegräumen.
Damals umwogte Sie noch kein
Duft von Madame Rochas,
Sie waren auch weniger korpulent.

Die Schönheit südlicher Meere, die Sie berauscht.
Nein, das Essen (nun ja, daran hapert es dort)
wurde Ihr Lebensinhalt.

Sehen Sie, aus mir ist auch jemand geworden.
Einst war ich eine Schnecke,
jetzt halte ich ein Schwert in der Hand,
drei Federbüsche auf dem Kopf.

Ja so, Sie haben recht, man sollte die alten Tage
nicht erwähnen.
Jedenfalls waren Sie weniger korpulent.
Warum bewacht eigentlich dieser fette Hund
Ihre Einsamkeit?

II

Tante Emma hob an:

Meine Korpulenz geht Sie gar nichts an!
Außerdem bin ich gar nicht so dick, Freundchen.
Was wollen Sie damit sagen? Soll ich
meine geheimsten Gefühle – sprich Ängste –
hier beim Essen ausbreiten?

Sieh mal, ich will dir was erklären,
ohne mich zu verteidigen:
die Bürokratie-Missionare
führten mich ihren Weg
abstrakten Liebe,
jeden Morgen verschmolzen wir wie
zwei Liebende: mein Wecker und ich.

Ich sehe meine Umgebung, jawohl, ich sehe sie.
Manches ist nicht in Ordnung.
Du sprachst von südlichen Meeren,
vom Essen – nun ja, daran hapert es dort –
mag sein, daß du recht hast,
ich war auch weniger korpulent.

III

Ali hob an:

Ich lief langsam und kam spät
– ich war eine Schnecke –
jetzt halte ich endlich ein Schwert in der Hand,
drei Federbüsche auf dem Kopf.
Ich hab ein Geschäft gekauft, hab ein ganzes
Stockwerk gekauft.
Ich hab Geld.

Wie ich hierherkam – ich weiß noch:
mein Gesicht war
nicht so,
es war anders,
aber es war doch
mein Gesicht.
Es war so unbewegt
wie eine Reihe Holzboote auf einem toten Gewässer.

IV

Tante Emma hob an:

Welkes Mondlicht scheint aus meinen Augen.
Was soll noch sein?
Nimm die Natur, setz sie auf deinen Balkon,
drei Quadratmeter lila Usambaraveilchen
und diese ordinären Pelargonien,
wie von einem blaugemusterten
Porzellanteller heruntergekratzt.
Das strahlende Lächeln der Reklamegesichter –
ist das das Leben?

V

Ali hob an:

Wenn auch der Mond auf die Häuser scheint,
die Häuser sind wie Mädchen,
denen man mit Gewalt ihr Haar abschnitt.
Die Häuser stehen für sich,
die Brücken sind abgerissen,
niemand gelangt über den Fluß.

Einst
erwachte ich morgens mit einem Alptraum:
ein alter Nachbar war gestorben,
der Leichenzug hielt noch im Garten.

Ein zartes Gefühl übermannte mich,
„Weine doch“, sagte ich zu mir selbst,
„weinen ist Lieben,
und die Liebe ein Vogel.
der sich auf unseren Bart setzt, und sei er weiß.“

Ja, die Hoffnung verließ mich nie im Leben,
aber was soll ich jetzt hier
mit den verdorrten Pappeln anfangen –
und ob die grünen wohl noch
an ihrer Stelle stehen?

Was ist los in der Naunynstraße?

(Fragment)

Du siehst hinaus und plötzlich ist
die Naunynstraße eine Steppe,
da wachsen Dornensträucher,
in den Bäuchen der Dornensträucher
blühen lila Sonnen.
Du läufst, die gesprungene Erde
riecht bitter. Das Fernweh deiner Füße
ist Brot geworden und macht dich stark.

Vor dir auf schattigen Tälern eine Fata Morgana.
Ein finstrer Riese qualmt aus den Fabrikschornsteinen
und löst sich über deinem Kopf zu Rauch auf.
Ein wenig später ist da eine Asphaltstraße
mit brummenden Autos.

Wenn du vergessen hast, deinen Wecker zu stellen,
und länger schläfst,
hat der Tag noch nicht angefangen.
Ein nicht angefangener Tag allerdings
ist in deiner Lohnabrechnung
nicht vorgesehen.
Unerträglich, so ein lohnloser Tag,
und würden auch seine Annehmlichkeiten
nie zuende gehen.

Du trittst aus diesem Haus in der Naunynstraße,
blickst auf den kahlen Baum im Hof,
dessen schon lange verwelkte abgefallene Blätter
sie in einer Hofecke zusammengefegt haben,
blickst auf diesen feuchten modernden Haufen in der Ecke,
auf Mülltonnen, auf Zwiebelschalen, die
aus Plastiktüten heraushängen, Konservendosen,
eine Couch mit kaputten Sprungfedern dahinter,
einen zerrissenen Lampenschirm, siehst Kinder,
die Himmel und Hölle spielen, überquerst
diesen im hellen Tageslicht noch halbdunklen Hof,
stehst endlich draußen und läufst los,
die ganze Straße hinunter, an alten Leutchen vorbei,
die mit sanften Schritten ihre Hunde auf den
breitpflastrigen Bürgersteigen spazierenführen.

[]

Quelle: Aras Ören, Deutschland, ein türkisches Märchen. Gedichte. Aus dem Türkischen von Gisela Kraft. Hamburg: Claassen, 1978, S. 94-102.

Aras Ören, Gedichte (1978), veröffentlicht in: German History Intersections, <https://germanhistory-intersections.org/de/migration/ghis:document-106> [29.11.2023].