Heiner Geißler, „Deutschland – ein Einwanderungsland?“ (1991)

Kurzbeschreibung

Heiner Geißler (1930-2017) war 1977 bis 1989 Generalsekretär der CDU, 1982 bis 1985 Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit und 1991 bis 1998 Vorsitzender der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag. Er zählte zum sozial-reformistischen Flügel der CDU und war einer der ersten in der Partei, die sich für erleichterte Einbürgerungen aussprachen. Im Mai 2007 trat Geißler der Organisation Attac bei und plädierte für eine neue, humane Wirtschaftsordnung im Sinne einer globalen sozialen Marktwirtschaft.

Quelle

[] Was wird die Folge des europäischen Binnenmarktes sein? Die deutschen Unternehmen werden in erheblich größerem Maße als bisher gezwungen, innerhalb der Europäischen Gemeinschaft – auch mit deutschen Mitarbeitern – Produktionsstätten und Vertriebsorganisationen aufzubauen. Wer im „EG-Ausland“ wirtschaftlich erfolgreich sein will, muß die Sprache und die Kultur, den Lebensstil und die Mentalität dieser Länder kennen. Dies gilt nicht nur für die Manager und Techniker, auch Facharbeiter und Angestellte werden europäisch denken und arbeiten müssen. Es wird immer mehr ausgebildete und motivierte junge Menschen geben, die eine berufliche Tätigkeit in Frankreich, Italien, Spanien, Großbritannien, Griechenland, Portugal, Polen und Ungarn als Anregung, als Chance und als Herausforderung begreifen, die gerne nutzen und bestehen wollen. Schon heute leben 1,4 Millionen Ausländer aus den EG-Staaten bei uns. []

En Europa der praktizierten Freizügigkeit kann dazu führen, daß man in der Bundesrepublik Deutschland geboren wird und aufwächst, in Großbritannien studiert, später in Deutschland oder in Frankreich arbeitet, um dann in Italien sein „aktives Alter“ zu verbringen. In Deutschland wird der Nachbar Belgier, der Arbeitskollege Türke, die Schwiegertochter Dänin und der Vereinskamerad Spanier oder Ungar sein. Schon heute vollzieht sich eine Europäisierung, ja sogar Internationalisierung unseres Lebens. Eine europäische Vielfalt der Produkte, des Essens und des Trinkens, der Literatur, der Musik und der Malerei, wie wir sie schon seit Jahrhunderten haben, der Wissenschaft und der Forschung, der Mode, des Designs wird – und das ist neu – ein Massenerlebnis des Alltags werden. Es sind die Merkmale einer bereits existierenden und wachsenden multikulturellen Gesellschaft. []

Die große Mehrheit der Ausländer in der Bundesrepublik ist entweder hier geboren oder lebt schon seit mehr als zehn Jahren bei uns. Und trotzdem haben wir die niedrigste Einbürgerungsquote aller vergleichbaren europäischen Länder. Nur rund 14.000 Ausländer werden Jährlich eingebürgert, aber z.B. allein 1988 wurden 73.000 Kinder ausländischer Eltern in unserem Land geboren. Barbara John, die Ausländerbeauftragte des Berliner Senats, hat 1989 darauf hingewiesen, daß wir eines Tages von Ausländern der fünfundzwanzigsten Generation sprechen müssten, wenn es mit der Einbürgerung so weiterginge wie bisher.

Ich weiß, daß es manche in unserem Land unerträglich finden, mit Menschen auf Dauer zusammenzuleben, die aus einer anderen Kultur kommen, eine andere Muttersprache und eine andere Lebensphilosophie als die Deutschen selber haben. Für mich ist es dagegen unerträglich, das in unserem Land Millionen von Mitbürgern mindere Rechte haben. Der Stuttgarter Oberbürgermeister Rommel vergleicht unsere Gesellschaft mit dem alten Sparta, seinen Spartiaten, Periöken und Heloten, einer Drei-Klassen-Gesellschaft mit Bürgern höheren und minderen Rechts.

Verfassungspatriotismus als Zukunftskonzeption

Die Gesetze, die regeln, wer Deutscher ist oder werden darf, sind ohnehin fragwürdig und widersprüchlich. Ein Aussiedler aus Kasachstan, der nur noch in Spurenelementen deutsches Blut in seinen Adern hat, und dessen Ahnen schon zur Zeit Katharinas der Großen aus Deutschland weggezogen sind, gilt bei uns als Deutscher. Ich sage ausdrücklich: dagegen habe ich nichts einzuwenden. Aber der Iraner, der in der zweiten Generation in der Bundesrepublik lebt, als Oberarzt an einem Rüsselsheimer Krankenhaus arbeitet und Hessisch babbelt wie Heinz Schenk, hat die größten Schwierigkeiten, einen deutschen Paß zu bekommen. []

Der wirtschaftliche Wohlstand in der Bundesrepublik, ihre starke Stellung in Europa und in der Welt sind doch nicht das Ergebnis des deutschen Nationalcharakters, sondern die Resultate einer Verfassung, in der die freie Entfaltung der Persönlichkeit und der Sozialstaatsgedanke in der Sozialen Marktwirtschaft eine allen anderen politischen Ordnungen überlegene Symbiose eingegangen sind. []

Quelle: Heiner Geißler, „Deutschland – ein Einwanderungsland?“, in Transit Deutschland. Debatten zu Nation und Migration, Hrsg. Deniz Göktürk, David Gramling, Anton Kaes und Andreas Langenohl. München: Konstanz University Press, 2011, S. 442-443.

Heiner Geißler, „Deutschland – ein Einwanderungsland?“ (1991), veröffentlicht in: German History Intersections, <https://germanhistory-intersections.org/de/migration/ghis:document-88> [12.12.2024].