Rückkehr nach Charlottengrad (1995)
Kurzbeschreibung
Die Erinnerung an die russische Präsenz im Berlin der Weimarer Republik mit ihren nachhaltigen Spuren in Literatur und Kunst stellt gegenwärtige Diskussionen zu Migration und Integration in einen weiter gefassten historischen Horizont.
Quelle
Keine andere europäische Metropole zieht so viele Zuwanderer aus dem Osten an wie die deutsche Hauptstadt. Berlin ist zu einem Zentrum russischer Emigranten geworden. Die knapp 100 000 Mitglieder der bunten Kolonie verfolgen nur ein Ziel – ein dauerhaft besseres Leben im Westen.
Die Party beginnt nach Mitternacht. Zügig füllt sich die winzige Bar, die keinen Namen und keine Lizenz hat. Fast jeden der jungen Stammgäste begrüßt Barkeeper Vassja mit einem kurzen „Priwjet“ – das Publikum spricht russisch, tschechisch, polnisch oder französisch. Deutsch kommt nur noch auf der Preistafel für Getränke vor.
Silberfolien hängen von der bröckelnden Stuckdecke in der Parterrewohnung eines Ost-Berliner Altbaus herab. Um das rosafarbene Poster einer russischen Schönheit hat jemand Stacheldraht ins Mauerwerk gedrückt. Die durchgesessene Couchgarnitur und ein paar Chromstühle stammen vom Sperrmüll, wie es sich für Hausbesetzer gehört.
Vassja Linezki, 26, aufgewachsen in einer Moskauer Akademikerfamilie, kam 1990 mit einem Rucksack voller Bücher in die deutsche Hauptstadt und zählt zu den ersten russischen Hausbesetzern in Berlin. Mittlerweile sind zwei heruntergekommene Mietskasernen mehrheitlich in russischer Hand. Ihren Lebensunterhalt verdienen die Jugendlichen aus Kiew, St. Petersburg und Odessa mit Gelegenheitsjobs als Fahrradboten.
In den „Thermen“ am Berliner Europa-Center nahe der Gedächtniskirche herrscht sonntags russischer Hochbetrieb. Auf Marmorbänken schwitzen ältere Herrschaften im „römisch-russischen Dampfbad“. Goldene Armspangen, mächtige Ohrringe und Halsketten mit orthodoxen Kreuzen funkeln im Dunst. Tätowierungen aus der Häftlingszeit zieren manches Männerbein, links ein Freudenmädchen, rechts die Freiheitsstatue.
Nach dem Saunagang streifen die Herren schneeweiße Bademäntel über und besprechen im Restaurant der Anlage Geschäfte. Ein kahlköpfiger Kunsthändler preist seine Kenntnisse: „Bei Renoir-Bildern kostet der Akt von hinten immer mehr als der von vorn.“ Der Mann hat ein Gemälde zum „Auktionspreis von fünf Millionen“ erstanden und will es nun „mit hübschem Gewinn“ in Moskau verkaufen: „Die neuen Banker dort sind ganz scharf auf teure Kunst.“
Der Schreibtisch von Friedrich Gorenstein, 63, ist übersät mit engbeschriebenen Zetteln. Im Herbst soll sein neues Werk „Der Platz“ erscheinen, eine Abhandlung über die „Wurzeln der russischen Probleme“. Beschäftigt mit den großen Menschheitsfragen, haust der aus Kiew stammende Schriftsteller in einer West-Berliner Sozialwohnung, die er nur im Notfall verläßt. Sein bevorzugter Gesprächspartner im „geistigen Dreieck zwischen Rußland, Judentum und Deutschland“ ist Perserkater Chris, der seinen Herrschaftsbereich geruchsstark markiert hat.
Die Russen sind da. Keine andere europäische Metropole zieht seit dem Zusammenbruch des Ostblocks so viele russische Zuwanderer an wie die deutsche Hauptstadt. Und wohl keine andere Einwanderergruppe schillert so vielfarbig wie die Emigrantenszene aus der GUS: Nach Berlin drängt es bunte Vögel und brave Handarbeiter, ehrgeizige Künstler, kluge Intellektuelle, gewitzte Händler und ganz große Schieber.
Schätzungsweise 70 000 bis 100 000 ehemalige Sowjetbürger leben mittlerweile in der Stadt, weitaus mehr als in Paris oder London. Genaue Zahlen kennt niemand. In einer amtlichen Statistik fehlen etwa einige zehntausend Rußlanddeutsche aus Kasachstan oder Sibirien, sie gelten als Deutsche und werden nicht mitgezählt. Auch die Zahl der schon zu DDR-Zeiten zwecks Heirat nach Ost-Berlin zugezogenen Sowjetbürger ist unbekannt. Und wie viele illegal nach Deutschland gekommen sind oder vergeblich einen Asylantrag stellten und nun im Untergrund leben, wagt keine Behörde zu mutmaßen.
Die Migranten haben sich – heute wie vor 70 Jahren – in der fremden Großstadt ein kleines Rußland aufgebaut. Fast alle Bedürfnisse kann der Berliner Russe inzwischen bei Landsleuten befriedigen. Ob er seine Schuhe besohlen lassen will, einen neuen Haarschnitt braucht oder den Hausarzt konsultieren muß – immer wird er, sofern gewünscht, in seiner Muttersprache bedient. Sogar ein Kindergarten und eine kleine, privat finanzierte russische Schule haben sich in Berlin etabliert. Wer den Partner fürs Leben sucht, annonciert unter der Rubrik „Klub der einsamen Herzen“ in der einzigen russischen Zeitung Deutschlands, der dreiwöchentlich in Berlin erscheinenden Jewropazentr (Auflage: 40 000).
Die jüdische Gemeinde – zwei Drittel ihrer 10 000 Mitglieder stammen aus der GUS – organisiert soziale und kulturelle Angebote. Im SFB-Radio MultiKulti moderiert ein Moskauer Journalist täglich ein 20-minütiges Magazin in seiner Muttersprache. Seit kurzem speist der „Spreekanal“ regelmäßig ein russisches Fernsehprogramm ins Kabelnetz.
Schon hofft das deutsche Berlin, vernarrt in den Glanz der Metropole während der zwanziger Jahre, auf eine Renaissance des „russkij Berlin“ der Weimarer Republik. Damals trugen mehr als 300 000 Russen dazu bei, daß Berlin als kulturelles Zentrum Europas galt.
Reichlich Gelegenheit, den Mythos zu beschwören, bieten im September die Festwochen „Moskau-Berlin/Berlin-Moskau“. Dutzende Konzerte mit weltberühmten Künstlern werden nicht minder bekannte russische Komponisten feiern. Theater, Debatten, Lesungen satt; im Martin-Gropius-Bau lockt eine große Kunstausstellung über die westdeutsch-russischen kulturellen Beziehungen zwischen 1900 und 1950. Russophile Berliner werden vier Wochen lang täglich zwischen bis zu acht Veranstaltungen auswählen können.
Das Mammutprogramm will an Traditionen anknüpfen. In der deutschen Zwischenkriegszeit trieben Bürgerkrieg und Revolution die russische Intelligenzija zum Exodus. Ihr erstes Ziel war Berlin, wo sie die Kultur des zerstörten Zarenreichs am Leben hielt. Allein 2200 Bücher wurden zwischen 1918 und 1924 von 86 russischen Verlagen in Berlin produziert, mehr als in Petrograd oder Moskau.
Die letzte noch lebende Akteurin dieser Epoche ist die Lyrikerin Vera Lourié. Die vier großen Räume ihrer Wilmersdorfer Altbauwohnung hat die Greisin an russische Studenten vermietet, sie selbst wohnt, umgeben von Erinnerungsfotos, im Durchgangszimmer. Jahrelang hat sie ihre Memoiren zu Papier gebracht, jetzt sucht sie einen Verleger für die Lebensgeschichte, die 1901 in St. Petersburg beginnt.
Nach der Flucht an die Spree im Jahre 1921 begegnete die junge Lourié allen Großen. Sie feierte rauschende Atelierfeste mit den Malern Iwan Puni und El Lissitzky oder philosphierte mit den Schriftstellern Boris Pasternak, Ilja Ehrenburg oder Wiktor Schklowski.
Louriés enger Freund, der exzentrische Schriftsteller Andrej Bely, pointierte 1924 die Stimmung in „Charlottengrad“, der Gegend um den Kurfürstendamm, in dem Zweizeiler: „Nacht! Tauentzien! Kokain!/Das ist Berlin!“
Russen wie Bely wunderten sich über den Gleichmut der Berliner. Bei ausgedehnten Streifzügen durch die Stadt sann der Literat darüber nach, womit er deutsche Passanten provozieren könne. Kopfstand oder absurde Sprüche – alles vergebens. „Der Berliner ist durch nichts zu überraschen“, notierte er. „Alle Verrücktheiten werden übertroffen von dem nüchternen Alltagsberlin.“
Wie in den zwanziger Jahren nehmen die Berliner die neuen Nachbarn aus dem fernen Rußland ziemlich ungerührt auf und beobachten mit einer Mischung aus Resignation und Wurschtigkeit, wie ihre Stadt zunehmend verostet.
Die Russen, die heute kommen, sind nicht die Ärmsten der Armen. Menschen aus der Mittelschicht, die noch genug Kraft haben, wollen im Westen einfach besser leben, effektiver lernen und mehr Geld verdienen.
Typisch ist das Motiv der Psychologin Galina Paderina, die Murmansk auf der Halbinsel Kola verließ, „damit meine Söhne eine gute Ausbildung erhalten“. In vier Jahren haben die Kinder sich so perfekt die fremde Sprache angeeignet, daß der 9-jährige Mischa mit Auftritten am Deutschen Theater die Familienkasse auffüllt. Sein Bruder, ein 16-jähriger Gymnasiast, ist sich sicher: „Nach dem Studium werde ich Businessman.“
„Business“ ist für Russen das Zauberwort, seit während der Wendetage zollfreie Geschäfte mit den in der DDR stationierten Truppen extreme Gewinne versprachen. Ärzte schlossen ihre Praxen, Wissenschaftler wechselten in die boomende Im- und Exportbranche. Und unter russischen Jugendlichen entwickelte es sich zum „Volkssport, bei Zwischenhändlern eine schnelle Mark zu machen“, erinnert sich die Verkäuferin eines Elektronik-Shops. Sie selbst schmiß damals den Job als Zahnarzthelferin und bewachte für 15 Mark Stundenlohn vor der Kaserne im brandenburgischen Wünsdorf die Stände fliegender Händler.
Wen die Geschäfte nicht locken, der kommt aus Abenteuerlust. Geld ist so ziemlich das letzte, was Vassja interessiert. Neugier pur blitzt aus seinen grünen Augen. Weg wollte der Moskauer Philosophie-Student schon lange, raus aus „dem engen Käfig“, Westeuropa kennenlernen. Bloß wohin?
Als das russische Fernsehen im Herbst 1990 über Straßenschlachten um besetzte Häuser in der Ost-Berliner Mainzer Straße berichtete, stand das Reiseziel fest. „Freie Wohnungen, Musik und Leute, die uns vielleicht verstehen“, so stellten sich Vassja und drei Freunde das andere Leben im Westen vor – und los ging’s, mit einem Touristenvisum in der Tasche.
Bei aller Unterschiedlichkeit der Gründe, das Heimatland zu verlassen, eint die meisten russischen Migranten die jüdische Herkunft. Während es vor 60 Jahren in Deutschland das Todesurteil bedeutete, sich als Jude auszuweisen, verspricht der Eintrag im Paß heute ein relativ sicheres, auf jeden Fall aber angenehmeres Leben, als es in der auseinandergebrochenen, offen antisemitischen Sowjetunion der Fall war.
Seit Februar 1991 erhalten in der Bundesrepublik Juden aus der früheren UdSSR, wie einst die vietnamesischen Boat People, als sogenannte Kontingentflüchtlinge Aufenthaltsrecht. Da Berlin mittlerweile seine Quote erfüllt hat, werden derzeit allerdings nur noch sogenannte Härtefälle im Rahmen der Familienzusammenführung aufgenommen. Wer die notwendigen Nachweise nicht besitzt oder nicht bezahlen kann, muß in die Illegalität abtauchen.
Mit dem Judentum werden viele Juden erst nach der Einreise vertraut. Für die Wohlhabenden ist das Chanukka-Fest im schicken Hotel Inter-Continental der gesellschaftliche Höhepunkt im Dezember. Der regelmäßige Besuch in einer der fünf Synagogen bleibt die Ausnahme.
Den meisten geht es wie Vassja, der in Moskau keinerlei Beziehung zur jüdischen Religion hatte. „Ich ging in eine sowjetische Schule und war natürlich bei den Pionieren“, sagt er. Von der Regelung für Kontingentflüchtlinge hörte er erst in Berlin und nahm sie gern in Anspruch.
Der neuen Generation prominenter Künstler und Schriftsteller dient Berlin freilich nur als Zwischenstation für eine Lesung am Literarischen Colloquium, ein Studienjahr am Berliner Wissenschaftskolleg oder einen Auftritt im Theater „Fürst Oblomow“, das etwa mit der Petersburger Revue „Weiße Nächte“ die Kultur Osteuropas wiederbeleben will. Im Exil der zwanziger Jahre pflegten gebildete Russen das „Bewußtsein einer community und verstanden sich als kulturelle oder politische Botschafter“, markiert der Historiker Karl Schlögel einen fundamentalen Unterschied zur Vergangenheit. Die Nachfahren haben keine Mission, sie kämpfen um nichts, außer für sich selbst.
Entsprechend zersplittert ist die russische Intellektuellen-Szene. Sie zerfällt in Küchenklubs und halböffentliche Zirkel. Im Jüdischen Kulturverein treffen sich vorwiegend ältere Kulturschaffende, die nun von der Sozialhilfe leben und mit dem Problem fertig werden müssen, in Deutschland „keine Leser oder kein Publikum mehr zu haben“, wie der Schriftsteller Alexander Laiko berichtet. Über ein Jahr feilten Profis und Amateure an Texten für die vor kurzem in Berlin erschienene erste Ausgabe der 300-seitigen Literaturzeitschrift Studia.
Bereits das vierte Heft des literarischen Almanachs „Ostrow“ (Die Insel) illustriert Chefredakteur und Grafiker Wjatscheslaw Syssojew derzeit am Heimcomputer im Prenzlauer Berg. Namhafte Autoren schicken Beiträge aus Rußland. Nur stößt die Verbreitung an sprachliche Grenzen, da bisher kein Geld für Übersetzer aufzutreiben war.
Die arbeitslose Physikerin Svetlana Kouznetsova leitet eine im vergangenen Jahr gegründete „Förderinitiative Berlin-Moskau“, die regelmäßig in ihrem Wohnzimmer tagt und Konzerte, Lesungen und Ausstellungen organisiert. Im Oktober wollen sie einen russischen Musiksalon eröffnen.
Doch untereinander haben die Gruppen keinen Kontakt. Während in der Weimarer Republik die russischen Intellektuellen in kürzester Zeit ein „Haus der Künste“ ins Leben riefen, das schon bald wie ein Magnet auf Künstler und alle Debattierwütigen wirkte, ist heute ein attraktives Zentrum russischer Kultur nicht in Sicht.
Dabei gäbe es Räume genug. Ein ehemals sowjetischer Monumentalbau, an Berlins künftiger Luxusmeile Friedrichstraße gelegen, böte Platz en masse. Das „Haus der Wissenschaft und Kultur der Russischen Föderation“ konnte nach der Wende gerettet werden vor der Gier eines Immobilienspekulanten aus Jelzins Kabinett. Doch schon hinter der gläsernen Eingangstür des „russischen Hauses“ spüren viele Russen jenen „sowjetischen Geist“, vor dem sie aus der Heimat geflüchtet sind.
Bis 1990 blieb die Zahl der Russen in Berlin überschaubar gering. In West-Berlin waren nach dem Krieg beinah alle Spuren der ersten russischen Emigration ausgelöscht. Streng kontrollierten die Alliierten den Zuzug: Noch 1975 waren nur 174 ehemalige Sowjetbürger gemeldet.
Erst in den achtziger Jahren, als die UdSSR Juden die Ausreise erlaubte, wuchs die Zahl der Flüchtlinge. Auf legalem Weg konnten Russen nur in die DDR gelangen. Wer nicht Angehöriger der sowjetischen Nomenklatura oder der Streitkräfte war, brauchte dazu allerdings einen Trauschein und mußte sich einem peinlichen Verhör unterziehen. So kam die Journalistin Irina Schabowski 1972 nach Ost-Berlin, nachdem sie zuvor in Moskau den damaligen stellvertretenden Chefredakteur des Neuen Deutschland, Günter Schabowski, geehelicht hatte.
Gern gesehen war derlei grenzüberschreitende Liebe nicht. Bei offiziellen Empfängen wurde selbst die Ehefrau des prominenten Berliner Politbüro-Mitglieds Schabowski von den Sowjets abschätzig gemustert. Eine Heirat ins Ausland galt quasi als Vaterlandsverrat.
Auch die ostdeutschen Nachbarn waren den Russinnen zumeist nicht wohlgesonnen, nur wagten sie nicht, ihre Vorbehalte offen zu zeigen. Das hat sich gründlich geändert, wie eine Szene im Supermarkt an der Ost-Berliner Wilhelmstraße belegt: In der Schlange vor der Kasse plaudern vier junge, elegante Russinnen on ihrer Muttersprache. Oben auf dem Einkaufswagen haben sie zwei Lagen Toilettenpapier gestapelt.
Plötzlich fragt eine ehemalige DDR-Bürgerin laut von hinten: „Seit wann brauchen Russen Klopapier?“ Peinliche Stille. Langsam dreht sich eine Russin um und erwidert in akzentfreiem Deutsch: „Seit ihr aufgehört habt, uns den Arsch zu lecken.“
Die Aggressionsschwelle ist gesunken, seit auffällig viele „Dollar-Russen“ Berlin besuchen. Über 26 000 russische Gäste buchten im vergangenen Jahr Berliner Hotelzimmer, die meisten für einen ausgedehnten Wochenendeinkauf. Beliebt ist das traditionsreiche Kaufhaus des Westens: „Pünktlich am ersten Tag des Schlußverkaufs kommen die Russen mit Übersetzer und kaufen cash unser Lager leer“, erzählt eine Verkäuferin der Pelzabteilung.
Boutiquen und Juweliere rund um den Kurfürstendamm haben sich längst auf die neue Kundschaft eingestellt und beschäftigen russischsprachiges Personal. Bei Mercedes-Benz in der Friedrichstraße verkauft sogar ein Russe die Autos. 90 Prozent der Kunden kommen aus Moskau oder Kiew, Geld spielt keine Rolle, gezahlt wird bei Übernahme.
So nickt ein junger Russe in Shorts und Lacoste-Hemd seiner Begleiterin kurz zu, nachdem er sich für einen Diesel C 220 entschieden hat, Preis 62 000 Mark. Die junge Frau zieht aus ihrer Umhängetasche einen Gefrierbeutel, prall gefüllt mit großen Scheinen, und verschwindet zwecks Geldübergabe im Hinterzimmer. Wenig später erwirbt ein Mann aus Almaty in Kasachstan mal eben einen S-Klasse-Benz für über 200 000 Mark.
Nicht nur die Berliner, auch die Zuwanderer aus Rußland, die in Berlin heimisch geworden sind, stören sich an den Allüren der Emporkömmlinge mit dem Hang zur großen Geste. Sie fürchten, daß deren schlechter Ruf auf sie abfärbt und registrieren besorgt, daß mit den Neureichen immer mehr kriminelle Geschäftsmänner auftauchen.
Fast jeder Laden-oder Restaurantbesitzer russischer Herkunft hat bereits Besuch von den Geldeintreibern der Mafia erhalten. Selbst in Vassjas Hausbesetzer-Bar tauchten schon zwei Späher auf. Die Typen kriegten schnell spitz, daß dort nichts zu holen ist.
Ihre Forderungen versuchen die Schutzgelderpresser mitunter äußerst brutal durchzusetzen. Elf Tötungsdelikte hat die Polizei seit 1991 aufgelistet, soviel wie bei keiner anderen ausländischen Minderheit in Berlin.
Für die aus Riga stammende Raschel Dimant, 51, war 1994 ein trauriges Jahr. „Viele Verwandte und Bekannte kamen ums Leben“, seufzt die Edeltrödlerin, die sich in der russischen Händlerszene auf dem Markt an der Straße des 17. Juni als „Madame Dimant“ einen festen Platz erobert hat.
Der Kummer begann, als ihr Schwager, Berlins prominentester Händler für Ikonen und andere Antiquitäten aus Rußland, in seiner Ku’Damm-Galerie von einem Raubmörder erschossen wurde. Flüchtig kannte Madame Dimant auch das letzte Berliner Opfer, einen im März ermordeten 27-jährigen Kaufmann. Ein Killer hatte den Weißrussen mit zehn Kugeln getötet.
Am Tag der Beerdigung auf dem russisch-orthodoxen Friedhof parkten etliche Luxuslimousinen in der Tegeler Wittestraße. Durch ein weißes Blumenmeer schritten die in edles schwarzes Tuch gewandeten Trauergäste zur Kirche. Sänger begleiteten die Zeremonie.
Für Bischof Feofan, Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche in Deutschland, sind solche Totenfeiern kein ungewöhnliches Spektakel. Beerdigungen von Mitgliedern der 2000-köpfigen Berliner Gemeinde ähnelten „schon mal Spielfilmen über die italienische Mafia“, sagt der Kirchenmann. Kritik am Lebenswandel der Verstorbenen versagt sich Feofan – im Tod seien alle Gottes Kinder.
Ungläubige sehen die Dinge weniger gelassen. Ungefragt entschuldigt sich Vassja dafür, „daß diese Typen die deutsche Gastfreundschaft verletzten“. Ihn drängt es in die Normalität.
So sucht Vassja, der fehlendes warmes Wasser im Haus „nicht für ein Zeichen von Würde“ hält, einen Job, um der Existenz als zeitweiliger Grünpfleger fürs Sozialamt zu entfliehen. Bald will er sein in Moskau abgebrochenes Philosophie-Studium an der Freien Universität fortsetzen. „Für die Bar muß ich allerdings vorher noch einen eingetragenen Verein gründen,“ hat er sich vorgenommen.
Vassja ist in Deutschland angekommen.
Quelle: „Rückkehr nach Charlottengrad“, Der Spiegel 35/1995.
Weiterführende Inhalte
Karl Schlögel, Hrsg., Russische Emigration in Deutschland 1918–1941. Berlin: Akademie-Verlag, 1995.