Das Kühn-Memorandum (September 1979)

Kurzbeschreibung

Heinz Kühn (1912-1992) wurde 1978 auf das neu eingerichtete Amt des „Bundesbeauftragten für die Integration der ausländischen Arbeitnehmer und ihrer Familien” (kurz „Ausländerbeauftragter”) berufen, das er bis 1980 ausfüllte. Das „Kühn-Memorandum” war seiner Zeit weit voraus, empfahl integrative Maßnahmen in der Bildungspolitik, ein Optionsrecht der Einbürgerung für in der Bundesrepublik geborene und aufgewachsene Jugendliche und die Einführung des kommunalen Wahlrechts für Ausländer. Die Reaktionen waren verhalten.

Quelle

I. Leitlinien

Der alarmierende Befund, insbesondere im Hinblick auf die Zukunftsperspektiven von 1 Mio. Ausländischer Kinder und Jugendlicher im Bundesgebiet, macht umfassende Anstrengungen dringlich, um größten individuellen und gesamtgesellschaftlichen Schaden abzuwenden. Die bereits vorhandenen und erst recht die sich ohne eine rasche entscheidende Wende für die nahe Zukunft abzeichnenden Probleme stellen eine Aufgabe, die, wenn sie nicht alsbald gelöst wird, unlösbar zu werden droht und dann verhängnisvolle Konsequenzen befürchten läßt.

Die bisherige Entwicklung und die bisherigen Maßnahmen sind offenbar zu sehr von der Priorität arbeitsmarktpolitischer Gesichtspunkte geprägt worden, während die ebenso gewichtigen sozial- und gesellschaftspolitischen Postulate nachrangig erschienen.

Der vor dem Hintergrund der aktuellen und sich zunehmend verschärfenden Problematik der ausländischen Arbeitnehmer und ihrer Familien notwendige neue korrigierende Ansatz muß daher wesentlich stärker den gesellschaftspolitischen Gegebenheiten und Erfordernissen Rechnung tragen. Es muß anerkannt werden, daß hier eine nicht mehr umkehrbare Entwicklung eingetreten ist und die soziale Verantwortung gegenüber den heute – zumeist schon über eine beachtliche Zeitspanne – in Deutschland lebenden und einstmals in der Mehrzahl gezielt „angeworbenen“ Menschen und ihren Kindern nicht eine Variable der jeweiligen Arbeitsmarktlage sein kann.

Den (vermutlich in großer Zahl) bleibewilligen Zuwanderern, namentlich der zweiten und dritten Generation, muß das Angebot zur vorbehaltlosen und dauerhaften Integration gemacht werden.

Undifferenzierte Konzeptionen einer Integration „auf Zeit“ sind in sich widersprüchlich und unrealistisch und werden von den tatsächlichen Gegebenheiten permanent augenfällig widerlegt. Auch Versuche der Rückkehrförderung, deren Möglichkeiten nicht überschätzt werden sollten, erscheinen erst sinnvoll, wenn sie auf diejenigen gezielt ausgerichtet werden können, die dafür ernsthaft in Betracht kommen. Auch dies setzt voraus, daß die alternativen Perspektiven den Betroffenen offengelegt werden.

Aufbauend auf dieser Beurteilung konzentrieren sich die Vorschläge des Memorandums auf eine konsequente Integrationspolitik mit folgenden Schwerpunkten:

Anerkennung der faktischen Einwanderung (bei fortdauerndem Ausschluß weiterer Anwerbung),

Erhebliche Intensivierung der integrativen Maßnahmen vor allem für die Kinder und Jugendlichen, d.h. im Bereich der Vorschule, Schule und beruflichen Bildung,

Ablösung aller segregierenden Maßnahmen, im Schulsektor z.B. der „Nationalklassen“ und ähnlicher Unterrichtsformen,

Anspruch der Jugendlichen auf ungehinderten Zugang zu Arbeits- und Ausbildungsplätzen,

Optionsrecht der in der Bundesrepublik geborenen und aufgewachsenen Jugendlichen auf Einbürgerung,

Generelle Überprüfung des Ausländerrechts und des Einbürgerungsverfahrens mit dem Ziel größerer Rechtssicherheit und stärkerer Berücksichtigung der legitimen besonderen Interessen der ausländischen Arbeitnehmer und ihrer Familien,

Verstärkung ihrer politischen Rechte durch Einräumung des kommunalen Wahlrechts nach längerem Aufenthalt,

Verstärkung der problemorientierten sozialen Beratung.

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4. Vorschulischer Bereich

4.1. Die im vorschulischen Bereich liegenden Chancen, die familiäre Erziehung auch auf die integrativen Ziele hin zu unterstützen, haben für die ausländischen Familien besonderes Gewicht, weil sie infolge ihrer eigenen problembelasteten Situation ohne entsprechende Hilfe selten in der Lage sind, ihre Kinder auf die gegenüber ihren Heimatländern durchweg wesentlich anderen Lebensverhältnisse in der Bundesrepublik ausreichend vorzubereiten.

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4.6 Ein sowohl für die Motivationslage der Eltern als auch für die Verbesserung der Arbeit in den Einrichtungen wesentlicher, ohne nennenswerte Anlaufzeit realisierbarer und dem aus der bisherigen Modellarbeit gewonnenen Erkenntnisstand angepaßter Schritt wäre die systematische Heranziehung ausländischer Mitarbeiter. Hierdurch würde vorrangig die psychologische Aufschließung der ausländischen Familien, insbesondere der türkischen, gefördert werden. Darüber hinaus wären die ausländischen Mitarbeiter in der Lage, auf die Sprachschwierigkeiten und die familiäre Prägung der Kinder in besonderer Weise einzugehen.

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5. Schulsektor

5.1. Die schulische Situation der ausländischen Kinder und Jugendlichen ist durch einen unzureichenden Schulbesuch, eine extrem niedrige Erfolgsquote bereits im Hauptschulbereich und eine erhebliche Unterrepräsentation ausländischer Schüler an weiterführenden Schulen gekennzeichnet.:

- Nach Schätzungen kommen 25 v.H. und mehr der ausländischen Schüler der Schulpflicht nicht oder nicht regelmäßig nach.

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Quelle: Heinz Kühn, „Stand und Weiterentwicklung der Integration der ausländischen Arbeitnehmer und ihrer Familien in der Bundesrepublik Deutschland“, Memorandum des Beauftragten der Bundesregierung, Bonn, September 1979; http://www.migrationonline.de/data/khnmemorandum_1.pdf

Das Kühn-Memorandum (September 1979), veröffentlicht in: German History Intersections, <https://germanhistory-intersections.org/de/migration/ghis:document-125> [05.12.2024].