Daniel Defoe, Kurze Geschichte der pfälzischen Flüchtlinge (1709)
Kurzbeschreibung
Der Begriff „Palatines“ war im 18. Jahrhundert eine im Königreich Großbritannien weithin gebräuchliche Bezeichnung für deutsche Auswanderer. Bei den tausenden Menschen, die 1709 binnen kürzester Zeit aus dem Gebiet des Heiligen Römischen Reiches nach Großbritannien auswanderten, handelte es sich aber in der Mehrheit tatsächlich um Pfälzer. Die durch Kriege ausgelösten Verwüstungen sowie Hunger und Armut, zurückzuführen auf die nach dem ungewöhnlich kalten und harten Winter von 1708/09 eingetretenen Missernten, waren neben konfessionellen Streitigkeiten die Hauptmotive der Pfälzer für die Auswanderung. Aber auch die durch eine weithin bekannte Flugschrift ausgelösten Hoffnungen in Verbindung mit der britischen Kolonie Carolina in Nordamerika trieben die Pfälzer in Scharen zur Überfahrt nach Großbritannien. Die Massen an Migranten (ca. 13500) stellten die britische Krone und die Bevölkerung vor riesige logistische Probleme, was Ressentiments gegenüber den „Poor Palatines“ schürte. Eine der Stimmen, die zu Nächstenliebe aufriefen, war Daniel Defoe (ca. 1660-1731), der bis heute weltberühmte und beliebte Autor von Robinson Crusoe. In seiner Brief History bricht er unter Gebrauch der für damalige Streitschriften üblichen rhetorischen Mittel eine Lanze für die Integration der Pfälzer. Nicht zuletzt verweist Defoe schließlich auf den Wert von Einwanderern für Reichtum und Prosperität einer Nation und führt dafür das Beispiel der Aufnahme der Hugenotten in Brandenburg nach 1685 ins Feld. (Vgl. Edikt von Potsdam 1685)
Quelle
Sehr geehrter Herr,
in dem letzten Brief, den von Ihnen zu erhalten Sie mich auszeichneten, beliebten Sie, außer anderen wichtigen Dingen, welche Ihrer gestrengen und kundigen Feder würdig, zu sagen, daß die Nachricht von der Ankunft so vieler bedrängter Pfälzer zu einem Zeitpunkt, da es in jenen Gebieten keine schreiende Verfolgung gab, die Leute in Ihrer Gegend gar sehr verwunderte, und daß so viele Fremde in Südbritannien aufzunehmen und zu ernähren zu einem Zeitpunkt, da der Handel flau, Beschäftigung knapp, uns ein langer Krieg aufgehalst und jedwede Nahrung dermaßen teuer war, bei Ihnen so mannigfach diskursiert wurde, mit plausiblen Argumenten pro und contra, daß es schwierig erschien zu erkennen, ob diejenigen recht haben, die sich für die Aufnahme und Versorgung der Pfälzer aussprachen, oder diejenigen, die entschieden gegen die Aufnahme von weiteren Fremden nach England auftraten (zumal, wie die Umstände gegenwärtig beschaffen sind).
Einige werden behaupten, die Verköstigung und künftige Versorgung der Pfälzer, in ihrem gegenwärtigen elenden Zustand, bis sie so untergebracht werden können, um durch Fleiß und ehrliche Arbeit für sich selbst aufzukommen, sei nicht nur ein großer Akt christlicher Nächstenliebe, sondern eine Ehre und ein beträchtlicher Gewinn für die gesamte britische Nation, da sie deren Macht und Herrlichkeit vergrößert, den Handel fördert und den Reichtum des Königreiches mehrt: Während andere gegen diese Meinung heftig wettern und sagen, zu diesem Zeitpunkt eine solche Menge von Ausländern hereinbringen heiße die Lebensmittel noch mehr verteuern; unsere einheimischen Handwerker und Arbeitsleute brotlos machen und die Zahl unserer eigenen Armen erhöhen, die bereits zu viele sind und der Nation allzusehr zur Last fallen.
Dieser Einwand, Sir, belieben Sie zu sagen, der zu viele Münder mit Geschrei und Gezeter füllt, ist keiner, den Sie erheben oder billigen (und das glaube ich gern), da Sie sich ganz auf die mildtätige Seite verlegt haben und darauf, dem Befehl Ihrer Majestät zu gehorchen und Dero frommem Beispiel zu folgen, indem Sie Ihr Äußerstes für diese bedrängten protestantischen Brüder tun; allerdings würden Sie mit Argumenten aus London versehen werden, das Sie den Urquell des Gesprächs nennen, um auf die Anmaßungen und das Gezeter von Personen zu antworten, die gegen die armen Pfälzer voreingenommen sind, so daß Sie dadurch vermögend sind, auf ihre Einwendungen zu antworten, um das Interesse dieser leidenden Christen zu fördern, wenn die für diesen Zweck bestimmten Bittbriefe bei Ihnen verlesen werden, mit dem Ziel, Ihre Kollekten zu den Bedürfnissen der unglückseligen Fremden einigermaßen ins Verhältnis zu bringen.
Diesem, Sir, belieben Sie eine bescheidene Bitte hinzuzufügen, daß ich Sie auch mit der genauen Zahl der bereits eingetroffenen Pfälzer versehe. Aus welchen Gebieten sie kamen? Wie sie in diese schlimme Not gerieten? Welche Maßnahmen zu ihrer Ernährung bei ihrer ersten Ankunft ergriffen wurden? Welche danach? Und in welcher Weise sie untergebracht werden sollen, auf daß es Ihrer Majestät zur ewigen Ehre, unserer Religion zum Ruhm sowie der Nation, ihnen selbst und ihren Nachkommen zum Vorteil gereichen möge.
Und also, Sir, damit ich Ihren Befehlen willfahren, Ihren Erwartungen genügen und auf die in Ihrer Anfrage erwähnten mildtätigen Vorhaben antworten kann, habe ich mich seit geraumer Zeit beflissen, mir Kenntnis über sämtliche in Ihrem Brief enthaltenen Umstände zu verschaffen; was hoffentlich den Aufschub meiner Antwort entschuldigt, da ich sie nicht auf persönliche Vorlieben, irrige Vorstellungen oder verbreitete Gerüchte gründen wollte, sondern auf authentische Aussagen und verantwortbare Berichte, die zu geben mir geziemt und Ihnen, sie zu empfangen und weiterzugeben an andere gute Menschen wie Sie selbst, welche, fürchte ich, allzu beeindruckt sind von falschen Auffassungen in der Politik, heterodoxen Maximen in Betreff der Religion und empörenden Äußerungen über die gesetzgebenden Gewalten; oder sonst könnte es zu dieser Tageszeit keinen Zweifel geben, ob die Vervielfachung der Einwohnerzahl zu Macht, Herrlichkeit und Reichtum eines Königreiches beiträgt, ist es doch das feste und erprobte Prinzip des gesamten vernunftgelenkten Teils der Menschheit, daß Menschen Reichtum, Ehre und Macht einer Nation sind und der Wohlstand im gleichen Verhältnis wächst wie die zusätzliche Einwohnerzahl; weshalb der kluge Gesetzgeber den Griechen riet, sie sollten, wollten sie reich und mächtig sein und eine bedeutende Rolle in der Welt spielen, ablassen vom Hochmut und der Eitelkeit ihrer Vergnügungen, Wettkämpfe und Spiele und die Zahl der fleißigen, tätigen und emsigen Menschen vergrößern, welche sie in Kriegszeiten verteidigen und in Friedenszeiten wohlhabend und gefürchtet machen würden. Ihnen, Sir, der Sie sich in der Römischen Geschichte trefflichst auskennen, brauche ich nicht zu sagen, daß Rom, da ein Asylum für Fremde, das Projekt war, das es zur Herrscherin über den größten Teil der damals bekannten Welt machte; und alle Nationen, welche dieselben Methoden anwandten, haben daraus ebenso ihren Nutzen gezogen.
Doch um nicht in die Ferne zu schweifen oder den undeutlichen Fußstapfen des Altertums zu folgen, gebe ich Ihnen ein paar beachtenswerte Beispiele von den festen Gepflogenheiten einiger der weisesten und überaus staatsklugen benachbarten Fürsten und Länder, die es für ihren Vorteil wie auch für ihre Ehre erachten, solch fleißigen Fremden, welche die Bedrückung in Gewissensdingen oder anderes aus ihrer Heimat vertrieben hatte, Ermutigung und Anreiz zu geben, ihren Lebensunterhalt anderswo zu suchen. So hat der kürzlich abgelebte Kurfürst von Brandenburg, der in der Kenntnis der Religionspflichten und wahren Regierungsmaximen niemandem nachstand, aus christlichem Mitgefühl mit den verfolgten Protestanten Frankreichs diese eingeladen, in seine Lande zu kommen und sich dort anzusiedeln; und ihnen, als sie kamen, außer anderen zeitweiligen Privilegien, Holz sowie das Fuhrwerk dafür gegeben, um sich an Örtern nach ihrem Gefallen Häuser zu bauen, sowie pro Kopf zwischen einhundert und zweihundert Kronen, um sich mit all dem zu versorgen, dessen sie bedurften, um sich ihren Lebensunterhalt selbst verdienen zu können. Vergünstigungen, welche sie so gut nutzten, daß die Wohltätigkeit des Kurfürsten ihm nach kurzer Zeit mehr als zwiefach für seine Staatseinnahmen vergolten wurde, so daß der gegenwärtige erlauchte König von Preußen, zur Belohnung ihres Fleißes, die Frist ihrer Befreiung von öffentlichen Steuern und anderen Lasten von fünfzehn auf zwanzig Jahre verlängert hat. Den gleichen Wohltätigkeitsdienst erwies dieser Kurfürst von Brandenburg den armen Pfälzern, die durch das barbarische Hausen der Franzosen gezwungen wurden, ihr Land zu verlassen und in das Reich dieses Kurfürsten in Deutschland auszuwandern. Es gibt auch eine gedruckte Relation in deutscher Sprache von den großen Immunitäten und Privilegien, die dieser Kurfürst der Pfälzer Kolonie gewährte, welche auswanderte und sich in Magdeburg ansiedelte, im Jahre 1689, in dem diese bedrängten Protestanten eine sichere Freistatt, ein auskömmliches Dasein durch eigenen Fleiß fanden, und gegenwärtig soll sie dem König von Preußen 100 000 Kronen jährlich einbringen; und der muß in den europäischen Angelegenheiten wahrlich gänzlich unbewandert sein, der nicht weiß, welch andere große Dinge der König von Preußen für die armen bedrängten Pfälzer Flüchtlinge seither getan hat und noch tut, sooft die Vorsehung dazu Gelegenheit verschafft; wobei Gott ihn so segnet, daß es ihm stets zum weltlichen Nutzen wie auch zur Gewissensbefriedigung ausschlägt, indem er Gutes für den Haushalt des Glaubens tut. Und warum man in Großbritannien Beschwerde führen sollte über diese Taten der Nächstenliebe, die man bei anderen Fürsten für ruhmvoll hält, vermag ich mir nicht anders zu erklären als durch einen Mangel an gehöriger Aufklärung im Vorstehenden und das Verharren in alten Irrtümern zum Schaden bekannter und erprobter Wahrheiten.
Quelle: Daniel Defoe, Kurze Geschichte der pfälzischen Flüchtlinge, übersetzt von Heide Lipecky. München: dtv, 2017, S. 21-25.