Regina Lampert, Die Schwabengängerin. Erinnerungen einer jungen Magd aus Vorarlberg, 1864-1874 (1996)

Kurzbeschreibung

Seit dem 17. Jahrhundert wanderten Kinder armer, kinderreicher Familien im Alter von 6 bis 14 Jahren aus dem Alpenraum nach Oberschwaben, wo sie während des Sommers in der Landwirtschaft arbeiteten und so ihre Familien unterstützten. In diesem Auszug aus ihren Erinnerungen berichtet das ehemalige „Schwabenkind“ Regina Lampert (1854-1942) aus dem österreichischen Vorarlberg über ihre Zeit als Saisonarbeiterin. Regina stammte aus einer armen, kinderreichen Familie, und jedes Jahr musste mindestens eines der Kinder den Sommer über in Oberschwaben arbeiten. 1864 musste Regina sich als Zehnjährige zum ersten Mal auf den Weg machen.

Quelle

[]

Nach diesem Sommer wird oft von den Eltern unterhandelt, wer dieses Frühjahr ins Schwabenland müsse von uns Kindern als Hirtenkinder. Wir lauschten oft heimlich. Die Mutter meinte: „Die Regina schicke ich nicht gern mit, der Vorsteher vom Dorf hat mich schon lang gefragt, ob die Regina über den Sommer seine zwei Küh, die er nicht auf die Alp bringen könne, hüten würde.“ Der Vater meint, da käme ja nur Anton ins Schwabenland, die drei älteren Brüder, Jakob, Baptist und Andreas[1] wollen dieses Frühjahr in die Schweiz, das Maurerhandwerk erlernen. Einige Tage vergingen wieder. Bald hätten wir vergessen, der Tone und ich, was der Vater und die Mutter gesprochen haben.

Anfang März fragte der Herr Pfarrer[2] in der Schule beim Religionsunterricht die Kinder, die dieses Frühjahr als Hirtenkinder ins Schwabenland müssen, sollen die Hände hochhalten; ich schaute auf die Bubenseite zum Anton hinüber; er winkte mir zu, ich soll die Hand aufheben; ich folgte ihm zu seiner Freude, denn er bettelte immer an mi, „komm doch mit mir mit in Schwabenland, dass wir doch jeden Sonntag zusammen sein können.“ Der Herr Pfarrer zählte die Hirtenkinder und sagte, „es sind elf, sechs Kinder müssen die erste heilige Kommunion machen und fünf die erste heilige Beichte tun.“ Dann mussten wir jeden Tag extra eine Stunde in den Religionsunterricht. Nach der Schule sprangen wir wie immer heim, mein Bruder voran. Die Mutter stand gerade auf der Stiege: „Mutter, Mutter, der Pfarrer hat gefragt, wer ins Schwabenland müsse. Da haben wir beide die Hand aufgehoben.“ „Ja, Du auch, Regina?“, „Ja, Mutter, der Tone bettelte so, dass ich mitkomme.“ Ich sah die Tränen der Mutter in den Augen. Sie konnte nicht mehr sprechen, ging ins Haus in die Küche und holte für uns Kaffee [und] Brot. Von da an war Mutter immer traurig, es tat ihr weh, uns fortzugeben. Beim Nachtessen sagt der Vater: „Regina ist noch zu jung, bekomm ich kein Plätzchen für sie, so nimm ich sie halt wieder heim.“

[]

Endlich rückte der Tag heran zu reisen; zwei Tage vor der Abreise mussten wir zur Beicht und zur heiligen Kommunion, ich nur zur Beicht. Am 17. März, zwei Tage vor Josefsfest, mussten wir reisen, morgens früh vier Uhr, um sechs Uhr ist Abmarsch. Das Frühstück ging ganz still zu, es hat ein jedes für sich zu denken, auch hat uns die Mutter zum Abschied Kuchen gebacken, der uns besonders gut dünkt. Während dem Essen wurde uns noch ans Herz gelegt, dass wir doch recht brav, gehorsam und fleissig sein sollten: morgens und abends beten sollen zum lieben Heiland und der Muttergottes. Mir hat die Mutter noch extra ans Herz gelegt, wenn mir etwas böses zustosse, sofort an die Muttergottes denken und sie um Schutz und Hilfe bitten. Auch die Grossmutter, wie wir sie nannten, die Ahna und d’Ähne[3] sind aufgestanden, um uns Adie und einige gute Worte uns zu sagen. Dann kam der Abschied von all den Lieben, Mutter, Schwestern und Ahna und Ähne, Grosseltern. Die Tränen haben wir tapfer hinunter gewürgt. „Adiö, lebt wohl, bleibt gesund und recht viel Glück [und] Segen!“ Dann beteten wir noch alle zusammen ein Vaterunser und fort ging es.

Es war recht kalt und hat über Nacht fest geschneit, es war alles weiss, als wir vors Haus kamen und ins Dorf hinauf. Vor dem Pfarrhaus wartete ein Leiterwagen mit zwei Pferden auf uns, es sind noch mehr Kinder von Düns und Schnifnberg[4] gekommen, im ganzen etwa fünfzehn Kinder haben Platz genommen auf dem Wagen. Als wir schon alle Platz genommen hatten, kam noch der Herr Pfarrer an den Wagen und nahm von uns Abschied, wünschte uns Glück und Segen, sprach noch einige Trostworte zu uns – mit dem Versprechen, er wolle uns einschliessen in die heilige Messe und beten für uns, dass wir gesund und brav bleiben und gute Plätzchen bekommen.

[]

In Friedrichhafen warteten einige Bauern auf Buben, die schon ein oder zwei Sommer bei diesen Bauern in Dienst standen. Sie hatten gegenseitig Freude, einander wieder gesund und fröhlich begrüssen zu können, fast die Hälfte der Kinder, die dem Vater übergeben wurden, haben schon Stellen. Es bleiben noch zwölf mit uns zweien. Wir haben etwas Weniges gegessen, dann gingen wir mit Vater, der für alle Billete löste, auf die Bahn nach Ravensburg.[5]Dort mussten wir nochmals übernachten, wieder in einer Herberge. Wir bekamen Suppe und Röste zum Nachtessen. Nachher gings ins Bett, auf Strohsäcke und Wolldecken. Der Vater sagte ganz bewegt und unter Tränen: „So, Kinder, jetzt wollen wir noch beten, dass der liebe Gott und die Mutter-Gottes Euch beschütze und Ihr Morgen gute Stellen und gute Bauern findet.“ Nach dem Beten und gute Nacht-Sagen schliefen wir schnell ein, bis der Vater uns weckte. Rasch zogen wir uns an. Jedes hat noch ein wenig Proviant, den wir noch essen. Dann gings los auf den sogenannten Kinder- oder Hirtenmarkt.

Auf dem Markt sahen wir eine Halle; da hing eine grosse Tafel, darauf geschrieben stand: „Markthalle für Hirtenkinder und Dienstboten.“ Da gingen wir hinein. Die Halle hat Bänke im Ringsum, in der Mitte ein Ofen, der fest geheizt war und nebenan ein langer Tisch auch mit langen Bänken, da setzten wir uns. Es waren noch mehr Buben und Mädchen da, auch Bauern und eine Bäuerin waren da. Das Lokal war ziemlich besetzt. Die grossen Buben, die mit uns gereist sind und zwei Mädchen konnten schon selbst mit den Bauern und den Bäuerinnen verhandeln; je nach der Grösse und Stärke bekamen sie Lohn für den ganzen Sommer. Heute ist hl. Sankt Josef, sagten die Bauern; bis hl. Sankt Martinstag zahlten sie von zehn Gulden bis 20 oder 25 Gulden und alles doppelt, das will heissen jedes Mädchen oder Knabe wird vom Kopf bis Fuss doppelt gekleidet. Das gehörte noch zum Sommerlohn, also zwei Paar Schuhe zwei Paar Strümpfe oder Socken, zwei Hemden, ein Werktagsanzug und ein Sonntagsanzug, ein Hut für Sonntag und eine Kappe für Werktag, also das heisst Sonntags- und Werktagskleider. Es ging keine Stunde, da waren alle schon verhandelt. Mein Bruder kam zu einem Lehrer in Ailingen eineinhalb Stunden von Friedrichshafen entfernt. Der Lehrer hat ein wenig Land da und seine Frau. Der Vater schrieb alles auf; der Bub sollte zehn Gulden und alles doppelt bekommen und zur Befestigung ein Gulden Haftung, die der Vater bar erhalten hat.

Ich hatte schon Hoffnung, ich könne wieder mit dem Vater heim. Da kam noch ein Bauer, fast zu schön gekleidet für einen Bauern. Er sagte zum Vater: „Was ists mit dieser Kleinen, suchen Sie auch ein Plätzchen für sie?“ „Ja“, sagt der Vater, „ich fürchte, sie sei noch etwas jung.“ Zu mir sagte der Mann: „Willst du mit mir kommen? Ich könnte Dich brauchen zum Gänsehüten, zirka 50 bis 70 Stück, auch zum Posten, zum Obstauflesen und für so verschieden kleinere Arbeiten. Ich wohne in Berg bei Friedrichshafen, von Ailingen eine Stunde. Da kannst Deinen Bruder immer an Sonntagen besuchen und der Bruder Dich.“ Das leuchtete mir ein, der Vater wurde einig mit dem Mann, bekam also auch zehn Gulden Haftung. So war es also abgemacht. Der Vater schaute mich immer an, während dem Verhandeln und konnte den Tränen kaum Herr werden.

[]

Anmerkungen

[1] Jakob (20.4.1846 bis 5.5.1900), Johann Baptist (23.7.1874 bis 15.6.1917, heiratete am 16.1.1882 Karolina Vonbank aus Braz), Andreas (2.10.1984 bis 25.7.1879, heiratete am 27.11.1878 Luise Jung aus Abtwil).
[2] Stehpan Gmür (Benediktiner aus dem Stift Einsiedeln), Pfarrer in Schnifis bis zu seinem Tod 1865. Vgl. Ludwig Rapp: Beschreibung des Generalvikariates Vorarlberg. Bd. 2, Brixen 1986, S. 173.
[3] Die Grosseltern mütterlicherseits lebten mit der Familie Lampert in einem Haushalt. Regina Lamperts Mutter Maria Agatha Augustina Rauch (16.2.1823 bis 5.10.1872) war die Tochter des Johann Baptist Rauch (12.11.1790 bis 26.12.1826) un der Anna Maria Häuslin (7.10.1790 bis 18.6.1863). Nach Rauchs frühem Tod (das Sterbebett verzeichnet als Todesursache Abzehrung) heiratete Häusle in zweiter Ehe 1834 den Schneider Andreas Mähr aus Düns (1.12.1808 bis 17.4.1875), von Regina Lampert als Ähne bezeichnet Maria Agatha Augustina Rauchs einziges Geschwister Johann Baptist Rauch (geb. 1824) starb als frischverheirateter Schustermeister kinderlos 1853.
[4] Nachbargemeinde, bzw. Bergparzelle von Schnifis.
[5] Friedrichshafen wurde bereits 1850 an das Bahnnetz angeschlossen, über zwanzig Jahre bevor in Vorarlberg, die erste Eisenbahn gebaut wurde. Auch das nahe Lindau hatte bereits 1853 (die Insel 1854) einen Bahnanschluss erhalten.

Quelle: Regina Lampert, Die Schwabengängerin. Erinnerungen einer jungen Magd aus Vorarlberg 1864-1874. Zürich, 1996, S. 53-59.
© 1996 Limmat Verlag, Zürich.

Peter Scherer, „Kindermarkt in Friedrichshafen“ (ca. 1909)

Quelle: Peter Scherer (1891–1922), Kindermarkt in Friedrchshafen, ca. 1909, Glasplattennegativ, H 13 cm, B 18 cm, Ravensburg, Sammlung Thomas Weiß.

Regina Lampert, Die Schwabengängerin. Erinnerungen einer jungen Magd aus Vorarlberg, 1864-1874 (1996), veröffentlicht in: German History Intersections, <https://germanhistory-intersections.org/de/migration/ghis:document-56> [07.12.2024].