Wladimir Kaminer, „Warum ich immer noch keinen Antrag auf Einbürgerung gestellt habe“ (2000)

Kurzbeschreibung

Wladimir Kaminer (geb. 1967 in Moskau) studierte Dramaturgie am Moskauer Theater-Institut. Er lebt seit 1990 in Berlin und publiziert in verschiedenen Zeitungen, hatte eine wöchentliche Sendung bei Radio Multikulti und las regelmäßig im Kaffee Burger in Berlin-Mitte seine neuesten Texte vor. Mit seinen Erzählbänden Russendisko (2000) und Militärmusik (2001) wurde er über Deutschland hinaus bekannt. Zuletzt erschienen Meine russischen Nachbarn (2009) und Das Leben ist kein Joghurt (2010). Im folgenden Text wirft er einen satirischen Blick auf die bürokratischen Hürden der Einbürgerung für die Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion.

Quelle

Jede Nacht entstehen bei uns an der Schönhauser Allee, Ecke Bornholmer Straße, neue, immer größere Gruben. Sie werden von Vietnamesen ausgehoben, die diese Ecke als Geschäftsstelle für den Zigarettenverkauf gewählt haben. So vermute ich zumindest, seit ich sie dort wiederholt im Morgengrauen mit Schaufeln in der Hand gesehen habe: zwei Männer und eine sehr nette Frau, die seit Jahren eine geschäftsführende Rolle an dieser Ecke spielt. „Warum graben die Vietnamesen? Beschaffen sie sich neue Lagerräume für ihre Ware?“, überlege ich auf dem Weg zum Bezirksamt und Herrn Kugler. Es ging wieder einmal darum, die deutsche Einbürgerung zu beantragen, schon zum dritten Mal. Ärgerlich. Das erste Mal lief alles wie am Schnürchen, ich hatte alle Fotokopien dabei, meine wirtschaftlichen Verhältnisse waren geklärt, alle meine Aufenthaltszeiten und -orte seit der Geburt aufgezählt, die DM 500,- Gebühren akzeptiert und sämtliche Kinder, Frauen und Eltern aufgelistet. Zwei Stunden lang unterhielt ich mich mit Herrn Kugler über den Sinn des Lebens in der BRD, doch dann scheiterte ich an der einfachen Auf­gabe, einen handgeschriebenen Lebenslauf anzufertigen. Er sollte unkonventionell, knapp und ehrlich sein. Ich nahm einen Stapel Papier, einen Kugelschreiber und ging auf den Flur. Nach ungefähr einer Stunde hatte ich fünf Seiten voll geschrie­ben, war aber immer noch im Kindergarten. „Es ist doch nicht so einfach, mit dem handgeschriebenen Lebenslauf“, sagte ich mir und fing von vorne an. Am Ende hatte ich drei Entwürfe, die alle interessant zu lesen waren, aber im besten Falle bis zu meiner ersten Ehe reichten. Unzufrieden mit mir selbst ging ich nach Hause. Dort versuchte ich, mir den Unterschied zwischen einem Roman und einem hand­geschriebenen, unkonventionellen Lebenslauf klar zu machen.

Beim nächsten Mal scheiterte ich an einem anderen Problem. Ich sollte in einem mittelgroßen Quadrat Gründe für meine „Einreise nach Deutschland“ angeben. Ich strengte mein Hirn an. Mir fiel aber kein einziger Grund ein. Ich bin 1990 absolut grundlos nach Deutschland eingereist. Abends fragte ich meine Frau, die für alles einen Grund weiß, „Warum sind wir damals überhaupt nach Deutschland gefahren?“ Sie meinte, wir wären damals aus Spaß nach Deutschland gefahren, um zu sehen, wie es war. Aber mit solchen Formulierungen kamen wir doch nicht weiter. Der Beamte würde denken, dass wir die Einbürgerung auch nur aus Spaß beantragten und nicht aus ... „Wozu beantragen wir eigentlich die Einbürgerung?“, wollte ich meine Frau noch fragen, aber sie war schon zur Fahrschule gegangen, um ein paar alten Damen, die sich auf der Straße aufhielten, Angst einzujagen und reihenweise Fahrschullehrer verrückt zu machen. Meine Frau hat eine sehr unkon­ventionelle Fahrweise. Aber das ist eine andere Geschichte.

Ich gab dann vorsichtig „Neugierde“ als Grund für unsere Einreise nach Deutschland an, das schien mir vernünftiger zu klingen als „Spaß“. Dann schrieb ich meinen Lebenslauf mit der Hand vom Computerbildschirm ab. Alles zusam­men tat ich in eine Mappe und ging am nächsten Tag wieder zu Herrn Kugler. Es war noch sehr früh und dunkel, aber ich wollte unbedingt der Erste sein, weil der Beamte im Standesamt mehr als einen Ausländer pro Tag nicht schafft. Da sah ich die Vietnamesen: Sie gruben schon wieder! Ich trat näher. Zwei Männer standen mit frustrierten Gesichtern mitten in einem Loch, die Frau stand daneben und beschimpfte die beiden auf Vietnamesisch. Die Männer verteidigten sich träge. Ich sah in die Grube. Es war nur Wasser drin. Auf einmal wurde mir klar, was hier vorging: Die Vietnamesen hatten vergessen, wo sie ihre Zigaretten vergraben hat­ten und suchten sie jetzt überall – vergeblich.

Plötzlich kam Wind auf, meine Papiere fielen aus der Mappe und landeten in der Grube: der sorgfältig handgeschriebene Lebenslauf, all die Gründe für meine Einreise nach Deutschland, der große Fragebogen mit meinen wirtschaftlichen Verhältnissen – alles flog in die nasse Grube. Ich werde wohl nie die Einbürgerung bekommen. Aber wozu auch?

Quelle: Wladimir Kaminer, Russendisko, München: Goldmann, 2000, S. 191-92.

Wladimir Kaminer, „Warum ich immer noch keinen Antrag auf Einbürgerung gestellt habe“ (2000), veröffentlicht in: German History Intersections, <https://germanhistory-intersections.org/de/migration/ghis:document-89> [13.12.2024].