Johannes Reuchlin, Gutachten über das jüdische Schrifttum: Ratschlag ob man den Juden Alle ire Bücher Nemmen, Abthun und Verbrennen soll (1511)
Kurzbeschreibung
Dieser Text wurde 1511 veröffentlicht und vom Mainzer Erzbischof auf Geheiß von Kaiser Maximilian in Auftrag gegeben. Nachdem der Konvertit Johannes Pfefferkorn (angespornt von Kölner Dominikanern) den Vorwurf erhoben hatte, jüdische Bücher – insbesondere der Talmud – würden das Christentum verleumden, wurde der Humanist Johannes Reuchlin um seine Meinung zu der Frage gebeten, ob jüdische Bücher im Heiligen Römischen Reich beschlagnahmt und verbrannt werden sollten. Zu dieser Zeit war Reuchlin einer der wenigen deutschen Christen, die Hebräisch lesen konnten. Der zentrale Punkt seines Arguments ist, das man nicht verbrennen solle, was man nicht verstehe.
Quelle
[…]
Darum will ich mich zunächst über die andern äußern und vornehmlich über den Talmud. Dieser ist eine Sammlung aller Lehren zu den Geboten Gottes, wie oben in dem 2. Teil meiner Gliederung gesagt ist. Er ist nach einigen Zeugnissen etwa vierhundert Jahre nach Christi Geburt verfaßt worden.
Ich habe aber selbst in den hebräischen Schriften gelesen, der Talmud sei aus den Werken vieler Meister herausgezogen und durch Raw Asse in einen fortlaufenden Zusammenhang gebracht und als Buch herausgegeben worden, so, wie bei uns das „Dekret“ oder das „Buch Sententiarum“ oder die „Catena aurea“. Und das sei 44 Jahre nach Hyrkanus geschehen. Nun ist der letzte Hyrkanus der Schwiegervater des Königs Herodes gewesen, unter dem Christus geboren wurde. Doch hat es auch andere des Namens Hyrkanus gegeben, daher kann vielleicht die Unklarheit in der Zählung kommen. Es schreibt nämlich der wohlgeborene und hochgelehrte Herr, Graf Johann Picus von Mirandola, in seiner „Apologie“, der Talmud sei eineinhalb Jahrhunderte nach Christi Geburt entstanden. Doch existieren zweierlei Fassungen: die Jerusalemische (Palästinensische) und die Babylonische. Wie dem auch sei, der Talmud hat unbestritten weit über tausend Jahre existiert.
Er gliedert sich in vier Teile, wie auch wir in unsern gesamten Studien die vier oberen Fakultäten unterscheiden: Theologie, Staatsrecht, Kanonisches (Kirchen-) Recht und Medizin. Der erste Teil handelt von heiligen Dingen, Festen und Zeremonien; der zweite von Pflanzen und Samen; der dritte von der Ehe und den Frauen; der vierte von der Gerichtsbarkeit und den Gesetzen (wenn auch Petrus Nigri sechs Teile daraus macht in seinem Buch mit Namen „Stern des Messias“, das lateinisch und deutsch erschienen ist).
Nun kann wohl sein: Wie die jüdischen Gelehrten gesehen haben, die Christen wollten ihnen nach unseres Herrn Tod in die Zügel greifen und die Heiden an sich ziehen, wie Apostel 13 (42 ff) geschrieben steht, daß sie sich damals zusammengetan haben, um den Untergang der Weisheit der alten Lehrer zu verhüten und den Heiden und den zum Christentum bekehrten Juden in Disputationen und Streitgesprächen besser entgegentreten zu können: so haben sie die Ansichten und Meinungen der Väter und ihrer berühmtesten Gelehrten in ein Buch zusammengetragen. Und damit eine so große Mühe und Arbeit, wie sie und ihre Vorfahren sie mit der Abfassung und Niederschrift gehabt, nicht verlorengehe, haben sie dann den Ihrigen befohlen, dieses Buch, an dem Gott selbst sein Wohlgefallen habe, hoch in Ehren zu halten. Und das ist natürlich und glaubhaft: Damit dieses Lehrgut von ihren Nachkommen nicht mißachtet würde, haben sie alles Erdenkliche angeführt, vorgebracht, geschrieben und gesagt. Und das alles aus dem Grund, daß sie sich umso besser der Heiden und getauften Juden erwehren und sie abschütteln könnten.
Nun habe ich leider ebendiesen Talmud nie selbst gesehen, wenngleich ich doppelt dafür hätte bezahlen wollen, wenn ich ihn nur hätte lesen dürfen – ich habe es aber bisher nicht zuwegegebracht. So besitze ich keine Kenntnis aus dem Talmud selbst, sondern nur aus unsern (christlichen) Gegenschriften. Doch glaube ich gerne, daß darin von den Juden viele Worte und Sätze eingestreut sind, die sich gegen unsern lieben Herrn Jesus und seine Freunde und Anhänger richten; so wie sie es ihm auch zu seinen Lebzeiten ins Gesicht gesagt haben: Er sei doch nur der Sohn des Zimmermanns und einer armen Frau (Matth. 13, 55f), und sie kennten ihn gut, er sei vom Teufel besessen (Joh. 6, 42); und er sei gar kein Jude, sondern ein Samariter und Verführer des Volks (Joh. 8, 48); er schmähe und lästere Gott (Matth. 26, 65); und begehre sich zum König aufzuwerfen und dem Römischen Reich Land und Leute abtrünnig zu machen (Matth. 27, 2; 11f). Weswegen sie dann einen Prozeß gegen ihn angestrengt und vor dem kaiserlichen Richter das Todesurteil über ihn erwirkt haben. Gedanken solcher Art wird man sehr wahrscheinlich im Talmud an Stellen finden, wo der Stoff Gelegenheit dazu bietet. Und nachdem auch in derartigen Büchern viel Wunderliches gefunden werden mag, wie es die erdachten Beispiele sind, deren sich ein Gelehrter gegenüber einem andern zur Argumentation bedient, so will ich gerne glauben, daß es uns – wenn uns etwas daraus gesagt oder vorgelesen würde – recht fremd und seltsam vorkommen möchte.
Das kann ich aber nicht aus eigener Erfahrung mitteilen, da ich ja in Ermangelung eines Textes den Talmud nicht gelesen habe. Ich weiß auch keinen Christen in ganz Deutschland, der den Talmud selbst gelesen hätte. Ebenso ist zu meinen Lebzeiten in deutschen Landen nie ein Jude getauft worden, der den Talmud hätte verstehen oder gar lesen können. (Ausgenommen der Oberrabbiner zu Ulm, der jedoch gleich danach, wie berichtet wird, in der Türkei wieder zum Judentum zurückgekehrt ist.) Denn obwohl der Talmud mit hebräischen Buchstaben geschrieben ist, so ist er doch nicht in reiner hebräischer Sprache abgefaßt wie die Bibel, sondern er weist viele Beimischungen aus anderen orientalischen Sprachen auf, nämlich u.a. aus dem Babylonischen, Persischen, Arabischen und Griechischen. Dann sind auch zahlreiche Abbreviaturen darin, so daß es große Mühe kostet und Studium braucht, weshalb nicht viele Juden den Talmud verstehen können, geschweige denn Christen.
Demnach antworte ich auf die vorgelegte Frage, daß der Talmud nicht zu verbrennen ist noch zu beseitigen, und zwar aus den oben aufgezählten Gründen, sowie aus den folgenden:
I.
Es ist offenkundig, daß die menschliche Vernunft es nicht verhindern kann: Es muß Aberglauben und Irrtum geben, wie der heilige Paulus in dem ersten Brief an die Korinther im 11. Kapitel (19ff) schreibt. Und das geschieht durch Gottes Zulassung, damit die Rechtgläubigen und Erprobten offenbar werden, wie der genannte Apostel a.a.O. klar ausspricht.
Und es werden solche Menschen „abergläubisch“ genannt, die die Heilige Schrift unrichtig auslegen und mutwillig darauf bestehen, im Gegensatz zu dem Sinn, wie ihn die Inspiration des Heiligen Geistes erfordert. Und obwohl in der genauen Bedeutung des Wortes die Juden keine Häretiker sind – denn sie sind nie im Christenglauben gestanden und daher auch nicht davon abgefallen; weshalb sie auch nicht „Ketzer“ genannt werden können und sollen, noch ihre Sache „Ketzerei“, – so werden sie hier doch in den Worten des Apostels mitgemeint, denn er spricht von denen, die „uneins im Glauben“ sind. Da auch wir und die Juden nicht einig im Glauben sind, ist es für uns gut und nützlich, daß der Talmud existiert und daß er erhalten bleibe. Und je ungereimter der Talmud ist, desto mehr befähigt er uns Christen, ihn in Wort und Schrift zu widerlegen.
Und wollen wir wirklich selbst, so ist er uns eine gute Arznei gegen die Trägheit und Faulheit derer, die, wie die Geistlichen, die heilige Schrift studieren sollen. Sie sollen sich dafür ausbilden, daß sie fähig werden, andere in der rechten Lehre zu unterrichten und vor den Gegnern die richtigen Argumente zu finden, wie Paulus an Titus schreibt (Tit.1, 9).
Ähnlich sagt Aristoteles in seinen „Elenchoi“, ein Weiser solle zwei Eigenschaften haben: Er soll die Wahrheit sagen und er soll imstande sein, der Unwahrheit entgegenzutreten. Und nicht, daß er in Zorn gerate und die Schriften verbrenne, wenn er nicht genug gelernt hat, um sie mit Vernunftgründen in Predigt oder Disputation zurechtzuweisen. Man spricht ja von Biertisch-Argumenten, wenn einer so ungebildet ist, daß er mit der Faust dreinschlagen will, wenn er zu etwas nichts mehr zu sagen weiß.
Im Psalter (Psalm 140) steht geschrieben: „Ist einer gerecht, so tadle er mich und unterweise mich in Barmherzigkeit.“ Wie kann aber einer auf etwas entgegnen und es widerlegen, das er nicht versteht? (So St. Hieronymus gegen Jovinian). Nun muß jemand doch zum mindesten die Sprache des Talmud verstehen, wenn er behaupten will, dieser sei falsch oder in beleidigender Absicht gegen uns Christen gerichtet. Denn „wer die Bedeutung der Worte und der Sprache nicht kennt, der befindet sich leichtfertig im Irrtum“, sagt Aristoteles in der obengenannten Schrift. Und Augustinus „Über die wahre Religion“: „Der Wortlaut der hl. Schrift ist je nach den Eigenheiten jeder Sprachform zu verstehn. Denn jede Sprache hat ihre besondere, für sie charakteristische Ausdrucksweise. Wenn nun diese bei der Übersetzung in andere Sprachen wörtlich übernommen wird, so scheint es jedermann, es gäbe keinen Sinn und man könnte so nicht sagen.“ So steht es im kanonischen Recht geschrieben.
Daraus ist zu entnehmen: Da der Talmud die Eigenheiten so vieler Sprachen, wie oben mitgeteilt, enthält, so vermag keineswegs jeder Jude, auch wenn er sehr gut hebräisch kann, den Talmud zu verstehen. Wie soll man nun begründen können, daß die Christen den Talmud verwerfen, den sie noch nicht einmal verstehen?
[…]
Weiter: Um nun die vierte Abteilung der jüdischen Schriften herauszugreifen, wohin Kommentare und Glossen zur Bibel gezählt werden, so lautet mein Gutachten, daß sie nicht sollen noch auch rechtlich können unterdrückt oder verbrannt werden aus folgendem Grund:
Sie geben nämlich an, wie ein jedes Wort der Bibel aus der Eigenart ihrer Sprache heraus zu verstehen ist, wie z. B. Abraham, Sohn des Esra, Moses, Sohn des Gabirol und Rabbi David Kimchi, die alle die einzelnen Wörter grammatikalisch erklären. Diese kann und darf man so wenig verbrennen, wie Priscianus, das „Füllhorn“, Servius und Donatus im Bereich der lateinischen Sprache. Das gleiche gilt für die Kommentare und Texterklärungen des Rabbi Salomon, des Rabbi Moses von Garona, des Rabbi Levi, Sohn des Gersom, Magister Leo de Banolis genannt, der Gelehrten – Vater und Sohn – Rabbi Joseph und Rabbi David, beide Kimchi, seines Bruders Moses Kimchi und anderer, die das Alte Testament Wort für Wort entsprechend der Eigenart der hebräischen Sprache erläutern; so wie es Eustathius für Homer und Theon für Ptolemäus und andere Kommentatoren tun.
Ich behaupte auch, und habe meine Quellen dafür, daß unsere Gelehrten und Exegeten der hl. Schrift zum vollen Verständnis des biblischen Textes sich sehr intensiv mit solchen Kommentaren, Glossen und Erläuterungen vertraut machen müßten, wollen sie in Anfechtungen durch abweichende Glaubenslehren wirklich bestehen; denn das hl. geistliche Recht besagt, daß der Glaubensinhalt der Bücher des Alten Testaments aus dem hebräischen Text erfaßt werden müsse. Und wenn z. B. die Worterklärungen und Anmerkungen des Rabbi Salomon, der über die Bibel geschrieben hat, aus unserm Nikolaus de Lyra, der auch über die Bibel geschrieben hat, herausgezogen und gestrichen würden, so wollte ich das Übrige, was eben Nikolaus de Lyra aus seinem eigenen Kopf über die Bibel zu schreiben wußte, auf ein paar wenigen Seiten zusammenfassen.
Derartige Kommentare darf und kann die christliche Kirche nicht aus der Hand geben, denn sie halten die ursprüngliche hebräische Sprache in Übung, auf die die hl. Schrift, besonders für das Alte Testament, nicht verzichten kann; genau so wenig, wie wir die griechische Sprache und ihre Grammatiken und Kommentare für das Neue Testament entbehren können und dürfen, wie der eben zitierte kanonische Rechtssatz „Ut veterum“ erweist. Bei dieser Gelegenheit möchte ich mir erlauben mit aller gebotenen Zurückhaltung darauf hinzuweisen, daß man in unserm christlichen Glaubensbereich sehr viele Gelehrte findet, die aus Unkenntnis dieser beiden Sprachen die hl. Schrift nicht richtig erklären und darüber gar oft zum Gespött werden. Darum soll man die Kommentare und Glossen der Leute, die ihre Muttersprache von Jugend auf gründlich gelernt haben, keineswegs unterdrücken, sondern, wo immer solche existieren, sie zugänglich machen, pflegen und sehr in Ehren halten, als Quellen, aus denen der wahre Sinn der Sprache und das Verständnis der hl. Schrift uns zufließt. Deshalb sagt das Kanonische Recht: „Viele von den unsern haben vieles gesagt, das sich gegenseitig widerspricht. Darum sind wir genötigt und gezwungen, zu den Juden zu gehen und das wahre Wissen weit richtiger an der Quelle als in den Abflüssen zu suchen“ – wörtlich zitiert.
Es könnte jemand einwenden: Ich will mich gerne mit unsern Kommentaren behelfen, wozu bedarf ich derer der Juden? Auch diesem kann geantwortet werden: Wer sich „behelfen“ muß, der ist arm daran – so, wie wenn einer im Winter gerade nur Hosen anzuziehen hätte. Wenn man ferner bedenken wollte, daß sich unsere Kommentare häufig genug unterstehen, Schriften zu erklären, die sie selbst nicht verstanden haben, so kann ein Freund der Wahrheit sich nicht damit begnügen. Der hochbedeutende Lehrer St. Hilarius hat zur hl. Schrift Kommente und Kommentarien verfaßt, die von der ganzen christlichen Kirche gerühmt und angenommen sind; aber er macht oft Fehler bei der Worterklärung in Ermangelung der hebräischen Sprache, die er nicht konnte. Und das Griechische hat ihn nur gerade so angeweht oder angehaucht, wie St. Hieronymus im Brief an Marcella über den 126. Psalm und in seinem Brief an Damasus über „Hosanna“ schreibt und eben so an vielen andern Stellen, die in meinem Werk „De Rudimentis hebraicis“ ausführlich nachgewiesen sind.
[…]
Um nun zum Schluß dieser Streitsache zu kommen: Ich kann mir wahrhaftig nicht denken, daß etwas aus diesem Zusammenhang unserm christlichen Glauben zugute kommen oder die Verehrung Gottes mehren könnte. Ich vermag aber sehr wohl zu ermessen, daß viel Schlimmes daraus entstehen könnte, wenn wir ihre Schriften verbrennen würden.
1. Die Juden möchten sagen, wir nehmen ihnen ihre Waffen und fürchteten uns vor ihnen, daß wir in der Disputation geschlagen werden könnten und sie uns an Klugheit überlegen wären. Wie wenn ein Herzog einen Hirten zum Zweikampf herausfordern wollte und ließe ihm doch zuvor seinen Stab wegnehmen oder sein Schwert oder Messer, er selbst aber behielte das seine!
2. Die Juden könnten viel Seltsames von neuem schreiben, das schlimmer wäre, als das jetzt Vorhandene, und in hundert Jahren dann ihren Kindern erzählen, das oder jenes sei in den verbrannten Büchern gestanden.
3. Ebenso könnten sie dann später einmal sagen, unsere Gelehrten hätten die ihren falsch zitiert und in unberechtigter Weise herangezogen. Da könnten wir dann nichts mehr beibringen, um uns darauf zu beziehen.
4. Was einem verboten wird, das schätzt man erst richtig. Darum würden ihre Rabbiner und Gelehrten zum Studium in die Türkei gehen und nach ihrer Rückkehr ihre jungen Leute viel fleißiger lehren und vielleicht Schlimmeres, als sie vordem je gelernt hätten.
5. Es könnte dazu kommen, wie sich der Lauf der Welt ja von Jahr zu Jahr ändert, daß wir solche Bücher bei Konzilien und Kirchenversammlungen selbst dringend benötigten: So, wie das Konzil von Basel den Koran, das Werk Mohammeds, das dann Kardinal Johannes von Ragusa beigebracht hat, – und dann gäben wir viel dafür, daß sie nicht verbrannt worden wären. So, wie den Römern geschah, als der König Tarquinius Priscus die Bücher der Sybille Amalthea verbrannt hatte, bis auf die drei letzten; wofür er dann noch dreihundert Gulden lauteren Goldes geben mußte und alles Bedauern nichts half, weil er eben die andern hatte verbrennen lassen.
6. Es ist uns verboten mit Ketzern, die von unserm Glauben abgefallen sind, öffentlich zu disputieren. Wohl aber mit den Juden können wir disputieren und uns mit ihnen unterreden, damit wir sie für unsern Glauben gewinnen. Wenn dann ihre Schriften verbrannt wären – worauf könnten wir uns gegen sie stützen, außer auf den Text der Bibel? Aber das bedeutet gar nichts, denn das Kanonische Recht sagt, daß viele Worte sich im Text der hl. Schrift finden, die sich in dem Sinne dehnen lassen, wie ihn ein jeder für sich daraus entnimmt. Und darum würden die Juden in ihrer Klugheit eben neue Auslegungen erdenken, die nicht die von ihren Eltern überkommenen sind, und wir müßten (von jeder Disputation) abstehen.
7. Wenn es niemanden Außenstehenden mehr gäbe – es seien Juden oder Heiden – mit dem wir um den Sinn der hl. Schrift ringen könnten, so würden eben wir selbst, da ja des Menschen Geist immer tätig sein will, in unsern Schulmeinungen uneinig und deren neue bilden, oder die alten Streitereien wieder erwecken, so wie es eben jetzt geschehen ist mit unserer lieben Frauen Empfängnis, oder ob der hl. Paulus verheiratet gewesen, und ob der hl. Augustinus Mönch gewesen sei, und viele andere Torheiten. Und solches geschieht, wenn wir niemanden haben, der uns zu widersprechen wagt, an dem wir uns die Hörner abstoßen. So ist z. B. in der Geschichte von Rom aufgezeichnet, beim 3. Krieg gegen die Stadt Carthago: Wie man im römischen Senat darüber zu Rate saß, war Cato der Zensor der Meinung, man sollte Carthago niederreißen und schleifen. Darauf gab Scipio Nasica den Rat: „Nein, man soll Carthago bestehen lassen.“ Nicht aus Liebe zu dieser Stadt – denn er war ihr ebenso feind, wie die anderen –, sondern allein darum, weil er die Römer gut genug kannte, daß sie nicht untätig sein konnten. Und wenn sie keinen Krieg nach außen zu führen hätten, so würden sie innerhalb ihrer eigenen Stadt im Bürgerkrieg übereinander herfallen, wie es denn auch geschehen ist – und ganz Rom wäre danach froh gewesen, man hätte den Rat des Scipio befolgt.
8. Es ist nichts damit gewonnen, wenn gleich man in Deutschland, wo die geringste Zahl der Juden ansässig ist, ihre Schriften verbrennt. Denn sie haben noch in Konstantinopel und im Orient, ebenso auch in Italien und in andern Königreichen eigene Hochschulen, wo sie in Freiheit studieren und lesen können, was sie wollen.
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Quelle: Johannes Reuchlin, Gutachten über das jüdische Schrifttum: Ratschlag ob man den Juden alle ire bücher nemmen, abthun unnd verbrennen soll (Pforzheimer Reuchlinschriften, Band 2). Herausgegeben und übersetzt von Antonie Leinz-von Dessauer, Jan Thorbecke Verlag Stuttgart/Konstanz, 1965, S. 36–42, 76-80, 96–100.
Weiterführende Inhalte
Elisheva Carlebach, „Critical introduction“ und Bibliografie in Johannes Reuchlin, Peter Wortsman und Elisheva Carlebach, Recommendation Whether to Confiscate, Destroy and Burn All Jewish Books: A Classic Treatise against Anti-Semitism. Studies in Judaism and Christianity. New York: Paulist Press, 2000, S. 15–29.