Johannes Sturm, Von der spielerischen Aneignung der Buchstaben (1538)

Kurzbeschreibung

Johannes Sturm (1507–1589), ein Bildungsreformer aus Straßburg, führte die klassische humanistische Pädagogik in die protestantische Erziehung ein. Dieser Text umreißt Themen wie den Nutzen der Schrift, das Ziel des Studiums, die Pflichten von Lehrern, Schülern und Eltern sowie die Art und die Höhe von Stipendien und wie diese ausbezahlt werden sollten.

Quelle

[]

2. Die Fehlerhaftigkeit der menschlichen Natur

(1) Die Menschen haben von Natur aus viele gemeinsame Fehler: Eine große Barbarei entsteht zugleich mit uns; bestimmte fehlerhafte Verhaltensweisen sind der jeweiligen Zeit, den Völkern und ihren Bemühungen eigen, und jeder ist durch seine ihm eigene Natur geprägt. Schließlich sind wir in unserer Zeit, ohne es zu wissen, durch unsere eigenen Verhaltensweisen in die schlimmste Lebensart abgeglitten. Falls dafür keine Heilmittel gefunden werden, was kann dann in irgendeinem Staat unversehrt und dauerhaft sein?

(2) Deswegen erscheint es mir jedenfalls unbedingt notwendig, in den Bürgerschaften die alten Unterrichtsfächer wieder einzuführen, die im Volk auslöschen sollen, was in der Verhaltensweise, in der menschlichen Natur, der Lebensart, im Lebensalter, in der geistigen Tätigkeit oder Anlage verdorben ist.

(3) Wie nämlich richtig eingerichtete Gemeinwesen verschiedene Spezialisten aufweisen müssen, so müssen sie auch verschiedene Unterrichtsfächer haben. Und es gibt auch heute noch in den meisten Staaten Beispiele alter Verhaltensweisen, die, obgleich sie sich verschlechtert haben, dennoch zeigen, was jene getan haben, die vor uns Staaten richtig gelenkt haben.

(4) Aber während sich ehrenhafte Tätigkeiten auf alle beziehen und es niemanden gibt, für den es sich nicht gehört, naturgemäß und in rechter Weise ehrenvoll zu leben, gibt es doch keine Menschenspezies, die sittenreinere und strengere Zucht einrichten und beibehalten muss als die der Gebildeten.

3. Die [sc. notwendige] Unterrichtung der Gebildeten

(1) Es gibt nämlich nichts in der Welt, was derart die Verhaltensweise lenken kann wie die höheren Studien, nichts weist einen so alles durchdringenden Nutzen auf wie Bildung und richtige Unterweisung. Einzelnen Bürgern war es nämlich privat fast immer nützlich, Kinder gehabt zu haben, die mit den Gütern der höheren Bildung [w.: der freien Künste] eng vertraut waren. Besonders aber war es öffentlich für alle zur Bewahrung der Verhältnisse notwendig, dass einige Leute auftraten, die in gefährlichen und kritischen Zeiten nicht nur in nützlicher Weise, sondern auch weise für jene sorgten, die es brauchten.

(2) Und wenn es jemals Zeiten gab, in denen Staaten wegen Mangel an weisen und guten Bürgern und wegen einer Fülle und Vielfalt schlechter und unbesonnener Menschen sehr viele große Gefahren auf sich zukommen sahen, so sind unsere Zeiten gewiss eben solche, in denen mehr Spuren von Dummheit und Begehrlichkeit existieren als Spuren von Klugheit und ehrenvollem Verhalten.

(3) Aber nicht nur in ruhigen Zeiten, sondern auch in schlimmen Lagen wünschten sehr alte und mächtige Völker, dass ein Platz für höhere Bildung vorhanden sei – etwas, was wir [gegenwärtig] überhaupt nicht ins Auge fassen. Das Studium der höheren Bildung und der Philosophie muss vor [Beginn von] stürmischen Zeiten und Störung der Ruhe betrieben werden und gerade in schwierigen Lagen, falls sie dauerhaft sind, darf es nicht fallengelassen und unterdrückt werden, damit wir [bereits] vor Eintritt von Gefahren das Übel vorhersehen können und gerade in schwierigen Lagen, falls sie dauerhaft sind, nicht Mangel an gutem Rat leiden.

(4) Aber es geschieht sehr oft, dass wir nicht einmal vorhersehbare Übel vermeiden, obwohl sie mit Schande und Gefahr verbunden sind. []

II. Welches ist das Ziel der Ausbildung?

Über die Stadtväter, über die Lehrer

1. Lehre und Religion

Die beste Art Schule ist die, in der Lehre und Verhalten sorgfältig beachtet werden. Zwar ist das Ziel unserer Ausbildung die Kenntnis der Dinge, doch welchen Nutzen hat eine feine und höhere Ausbildung, wenn das Leben im Widerspruch zu Lehre und Bildung steht?

Frömmigkeit und Religion also sollen in den Schulen erstes Gebot sein und auf dieses Ziel hin soll der Jugendliche bei der Ausbildung erzogen werden. Die Kenntnis der Dinge ohne eine gepflegte Sprache freilich ist gewöhnlich grässlich und abscheulich, und wir sehen, dass zugleich mit der Verschlechterung der Ausdrucksweise eine ärgerliche Überzeugung von Bildung sich bei den Menschen einschleicht.

2. Sprachliche Ausbildung

(1) Deshalb muss darauf geachtet werden, dass Kinder schon im zarten Alter rechtzeitig in der Sprache unterrichtet werden. Menschen nei­gen naturgemäß eher zum Sprechen als zum Überlegen und Beurteilen, und wir müssen bei der Erziehung mit dem anfangen, was für einen jeden das Passende ist. Wie ans [richtige] Sprechen, so gewöhnen sich Knaben ganz leicht daran, richtig zu handeln.

(2) Denn es hat sich bis jetzt [sc. im Kindesalter] keine feste und fehlerhafte Verhaltensweise eingeschliffen; und im Anfang sind die Fehler selbst, die noch nicht fest geworden sind, leichter abzugewöhnen als am Ende, wenn sie schon habituell geworden sind. Deshalb sollen in den ersten Jahren eine gezügelte Rede- und Lebensweise mit einander verknüpft sein, damit die Jugendlichen leichter erreichen, was später angeeignet werden muss, eine hervorragende Bildung nämlich und Religion. Von diesen beiden ist das eine Gut [sc. die Bildung] notwendig für den Menschen, das andere [sc. die Religion] gibt dem ersten notwendigen Gut die richtige und passende Zierde. Aber was wir in den Jungen eingepflanzt haben wollen, das muss auch bei den Lehrern lichtvoll vorhanden sein, damit sie die übrigen Menschen an Wissen und Frömmigkeit übertreffen.

3. Die Lehrer

Freilich folgt niemand gern einem unerfahrenen Menschen, und größeres Vertrauen schenken die meisten Leute eher einem guten als einem schlechten Mann. Und obwohl man die Hoffnung zuerst auf die rechte Anlage zu einem guten Verhalten und geistiger Fähigkeit setzt, wodurch sich die Jungen auszeichnen sollen, und zweitens auf die Lehrer, so lässt doch sehr häufig die Sorgfalt der Lehrer nach, wenn nicht die Bemühungen der Stadtväter und der Eltern hinzukommen; zudem erlischt die Freude am Fleiß bei den Jugendlichen.

4. Stadtväter und Eltern

(1) Es gehört also zum Glück eines Gemeinwesens, dass die Obrigkeit sich freigebig denjenigen gegenüber zeigt, die die Erziehung der Jugend leiten. Auch privat ist es bei den häuslichen Überlegungen von Nutzen, dass ein Vater den Wunsch hat, dass die Kinder möglichst trefflich sind, und wenn er darin die Lehrer unterstützt. Doch bei der Auswahl der Lehrer sind drei Dinge zu berücksichtigen: Bemühen um alles, was [sc. das Wohl der] Menschen betrifft, sittliche Lebensführung und Gelehrsamkeit.

(2) Bei vielen Lehrern nämlich sind Anzeichen von hervorragender Gelehrsamkeit vorhanden, dennoch zeigen sie ein derartig verdorbenes Verhalten, dass sie als Vorbild nicht dienen dürfen. Andererseits gibt es nicht wenige gute Lehrer, die private und häusliche Muße öffentlichen Beschäftigungen vorziehen. Daher muss mehr darauf geachtet werden, dass die Sorgfalt der Lehrer nicht in größerem Maße durch Geld hervorgerufen wird; vielmehr soll die Beflissenheit [sc. des Lehrers] durch die Betrachtung seiner geistigen Einstellung und seiner bisherigen Lebensführung eingeschätzt werden. Selten findet man bei solchen Lehrern Beständigkeit und vollkommenen Einsatz, die die Sucht nach Geld antreibt. Die Lehrer aber, die einen inneren Antrieb verspüren und eine schändliche Lebensführung meiden, sind vertrauenswürdiger. Deswegen sollen die Lehrer nicht nur Gelehrsamkeit besitzen, sondern sie sollen sich auch durch eine sittliche Lebensführung auszeichnen und auf das Vaterland und allgemeine Ehrenpflichten höchst bedacht sein.

(3) Denn obwohl es drei Dinge gibt, die Menschen gewöhnlich zu hervorragenden Taten treiben, die Liebe zu ehrenhaftem Verhalten, das Streben nach Lob und das Bemühen um Geld, so muss doch, falls kluge Leute eine Auswahl treffen, nicht nur bei verschiedenen Dingen, sondern auch bei jenen Dingen, die fast gleicher Natur sind, hier darauf geachtet werden, dass wir, wenn es eine Wahlmöglichkeit unter denen gibt, die ihre Aufgaben sehr gut ausführen können, immer diejenigen auswählen, die Willen und Einsatz zeigen, verbunden mit der Fähigkeit etwas zu bewirken. Obwohl freilich das Streben nach Lob oft positiv bewertet worden ist, so verbindet es sich doch bei sehr vielen Gelegenheiten mit dem Fehler des übergroßen Ehrgeizes. Das unerschöpfliche und sorgfältig ausgeführte Streben nach Beschaffung von Reichtum müssen alle guten Leute tadeln.

(4) Aber der geistige Antrieb, durch den Menschen spontan zu einem sittlichen Verhalten motiviert werden, fand immer die Billigung der bedeutendsten Männer. Es gibt keinen guten Mann, der sich nicht freut, wenn sich auch bei anderen Zeichen einer guten Lebensführung zeigen, doch oft dämpfen missgünstige und unangenehme Leute den Fleiß.

5. Freigebigkeit der Stadtväter den Lehrern gegenüber

(1) Freigebigkeit wollen hervorragende Leute ausüben und selbst erfahren. Es gibt niemanden, der ständig undankbaren und widerwilligen Leuten nützlich sein könnte.

Trefflichkeit erleidet großen Schmerz, wenn sie sieht, dass sie von Fehlerhaftigkeit übertroffen wird, und obwohl sie den starken Wunsch hat, sich zu weiten, hat sie dennoch auch dann, wenn sie verengt ist, etwas, womit sie sich trösten kann. Wer es möchte und wer es begehrt, der besitzt immer Trefflichkeit, wer sie aber zurückweist und sie verschmäht, der wird nicht im Stich gelassen von dem, das ihn bewahren müsste, sondern dieser Mensch verschmäht und meidet das, wodurch er unbeschadet sein könnte.

(2) Deshalb muss man nicht nur wohlwollend denen gegenüber sein, die nach Hohem streben, sie müssen vielmehr auch Zuwendungen und gewissermaßen Stipendien bekommen und durch förderliche Beschlüsse unterstützt werden. Dies pflegt ein Ausdruck großen Wohlwollens zu sein. Wir fordern also vom Magistrat, Auswahlfähigkeit und Freigebigkeit zu zeigen.

Die Freigebigkeit muss so weit gehen, dass nichts Notwendiges den Lehrern fehlt und dass nicht nur möglichst viele Lehrer, sondern auch Eltern und Heranwachsende motiviert werden.

(3) Denn was geehrt wird, pflegt in hohem Ansehen zu stehen; was aber verachtet und vernachlässigt darniederliegt, hat selten Verehrer, auch wenn es das Beste ist. Es sind also, wie gesagt, die auszuwählen, die eine so große Gelehrsamkeit besitzen und durch göttliche Fügung eine solche Natur besitzen, dass sie das Vermögen und den starken Wunsch haben, das Wohl der Bürgerschaft zu fördern.

[]

Quelle der deutschen Übersetzung: Johannes Sturm (15071589), Pädagoge der Reformation: zwei seiner Schulschriften aus Anlass seines 500. Geburtstages. Herausgegeben von Bernd Schröder. Übersetzt von Ernst Eckel und Hans-Christoph Schröter. Arbeiten zur historischen Religionspädagogik. Bd. 7. Jena: IKS Garamond, 2009, S. 79–91. Wiedergabe auf dieser Website mit freundlicher Genehmigung von IKS Garamond.

Quelle des lateinischen Originaltextes: De literarum ludis recte aperiendis, liber Joannis Sturmii, ad Prudentissimos Viros, ornatissimos homines, optimos cives, Jacobum Sturmium, Nicolaum Cnipsium, Jacobum Meierum, 1538; abgedruckt in Reinhold Vormbaum, Hrsg., Evangelische Schulordnungen. Bd. 1. Gütersloh: C. Bertelsmann, 1860, S. 653–55. Online verfügbar unter: http://www.mdz-nbn-resolving.de/urn/resolver.pl?urn=urn:nbn:de:bvb:12-bsb10764272-0

Lewis William Spitz und Barbara Sher Tinsley, „Johann Sturm’s Method for Humanistic Pedagogy“, in Johann Sturm on Education: The Reformation and Humanist Learning. St. Louis, MO: Concordia Publishing House, 1995, S. 45–58.

Johannes Sturm, Von der spielerischen Aneignung der Buchstaben (1538), veröffentlicht in: German History Intersections, <https://germanhistory-intersections.org/de/wissen-und-bildung/ghis:document-134> [06.12.2024].