„Elsaß-Lothringen“, Meyers großes Konversations-Lexikon, 6. Aufl., Bd. 5 (1908)

Kurzbeschreibung

Dieser Textausschnitt lässt erkennen, wie Wissen manipuliert werden konnte, um den Interessen des Staates und der Nation zu dienen – im modernen Deutschland wie in anderen Nationen. Nach dem Deutsch-Französischen Krieg (1870–1871) annektierte das neu gegründete Deutsche Reich das Elsass, die seit langem umstrittene Grenzregion zu Frankreich. Zur Rechtfertigung dieser Annexion werden in diesem Ausschnitt historische Fakten zusammengetragen, um die Bewohner des „Reichslands“ als wesentliche Bestandteile der deutschen Nation und als ruhmreiche intellektuelle und spirituelle Beiträger zu ihr darzustellen. Das Zugehörigkeitsgefühl der Bevölkerung, so das Argument, war schlicht von Verrat in der Vergangenheit und Kontaminierungen durch die Besatzungsmächte pervertiert. So gesehen kehrten die Bewohner des Elsass durch ihren Anschluss an die deutsche Gemeinschaft endlich nach Hause zurück. Durch Waffengewalt war das Elsass für den neuen Staat gewonnen worden. Hier wird nun Wissen als Waffe eingesetzt, um die Anwendung der Waffengewalt zu rechtfertigen.

Quelle

Geschichte des Elsaß

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An dem geistigen Leben Deutschlands nahm das Elsaß im Mittelalter hervorragenden Anteil. Der Mönch Otfried von Weißenburg übersetzte die Evangelien ins Rheinfränkische, und zwar in die ersten deutschen gereimten Verse. Die Minnesinger Reinmar von Hagenau und Gottfried von Straßburg gehörten dem Elsaß an. Die Dominikaner in Kolmar, Klosener und Jakob von Königshofen in Straßburg pflegten die Geschichtschreibung. Die Vertiefung des religiösen Geistes gegen Ende des Mittelalters fand im Elsaß an Eckard und Johannes Tauler ihre hervorragendsten Vertreter. Während Gutenberg in Straßburg die erste Buchdruckpresse aufstellte, verbreiteten Geiler von Kaisersberg, Wimpheling, Sebastian Brant und Thomas Murner durch ihre Reden und Schriften den bürgerlichen deutschen Humanismus, der, insofern er die Autorität der Kirche untergraben half, den Boden für die Reformation Luthers empfänglich machte, ohne daß deshalb die einzelnen Humanisten als Vorläufer des Reformators gelten könnten. Daher nahm die Reformation von den elsässischen Städten und insbes. von Straßburg im ersten Anlauf Besitz. Zuerst trat Matthias Zell aus Kaysersberg auf, fand aber bald Helfer an Capito aus Hagenau, Kaspar Hedio und Martin Bucer, der durch seine vermittelnde Stellung unter den Reformatoren eine weit über das Elsaß hinausgehende Bedeutung erlangte. Rat und Schöffenversammlung von Straßburg schafften 20. Febr. 1529 die Messe ab. Der Bauernkrieg, der auch im Elsaß wütete, aber vom Herzog Anton von Lothringen bald unterdrückt wurde, hatte eine Reaktion zur Folge: besonders die österreichische Herrschaft rottete im Sundgau die evangelische Lehre aus, und andre Reichsstände folgten ihr. Aber die Städte, vor allem Straßburg unter der Leitung des klugen und gemäßigten Stadtmeisters Sturm von Sturmeck, blieben der Reformation treu. Obwohl Straßburg sich auf dem Augsburger Reichstag 1530 zur reformierten Lehre der Schweizer bekannte, hielt es ein enges Einvernehmen mit den lutherischen Ständen aufrecht, schloß sich 1531 dem Schmalkaldischen Bund an und ließ 1546 seine Truppen zum Bundesheer unter Schärtlins Befehl stoßen. Als der Bund unterlag, mußte sich der Rat zum Augsburger Interim bequemen, bis der Augsburger Religionsfriede 1555 den elsässischen Reichsständen Religionsfreiheit und Gleichberechtigung verlieh. Das geistige Leben in Straßburg hielt sich jetzt nicht mehr auf seiner alten Höhe, aber die Gründung einer Akademie durch Kaiser Max II. und die Schulreform des Johannes Sturm bedeuten immer noch beachtenswerte Leistungen.

Den ersten ernstlichen Versuch, das französische Reich bis zum Rhein vorzuschieben, machte König Heinrich II. von Frankreich, als er 1552 Metz, Toul und Verdun dem Deutschen Reich entriß; aber Straßburg gewann er nicht. Wie wenig aber das habsburgische Kaiserhaus willens war, das Grenzland für Deutschland zu erhalten, zeigte der Vertrag vom 20. März 1617, durch den es seine Rechte im Elsaß an Spanien abtrat. Im Dreißigjährigen Kriege versuchte Herzog Bernhard von Weimar sich im Elsaß ein Fürstentum zu gründen, allerdings mit französischem Geld und mit französischer Unterstützung; als er 1639 frühzeitig starb, fiel das Elsaß in die Gewalt der Franzosen, und im Westfälischen Frieden 1648 trat der Kaiser alle seine Rechte an Frankreich ab, das somit an Stelle Spaniens trat. Die Rechte der Reichsstände wurden hierbei allerdings besonders anerkannt, denn nur als Territorialherr, nicht für das Reich, hatte der Kaiser verzichtet. Aber die Ohnmacht des Reiches gestattete Frankreich eine allmähliche Ausdehnung seiner Macht, viele Elsässer sahen die französische Herrschaft als unvermeidlich an, und die Unterordnung der verschiedenen kleinen Herrschaften unter eine monarchische Ordnung konnte vielen als ein Fortschritt erscheinen. Als 1674 die Verbündeten mit einem Einfall in das Elsaß drohten, besetzte Ludwig XIV. die zehn Reichsstädte und beraubte sie ihrer reichsstädtischen Rechte. Dasselbe Schicksal erlitt Straßburg 1681, und das Reich konnte dies nicht hindern; die Tätigkeit der Reunionskammern (f.d.) verstärkte Frankreichs Stellung immer mehr. Die vielfach vorhandene Erbitterung über die Vergewaltigung wurde durch die Begünstigung der römisch-katholischen Kirche auf Kosten des Protestantismus noch gesteigert; anderseits ließ Frankreich das deutsche Wesen im Elsaß ungestört bestehen und trug dadurch viel zur Versöhnung der Gemüter bei. In gewisser Art kam der deutsche Charakter der Bevölkerung gerade im 17. und 18. Jahrh. literarisch und wissenschaftlich erst recht zur Geltung, und bis zur französischen Revolution bestanden zwischen Deutschland und dem entrissenen Grenzland die innigsten Beziehungen. Die Straßburger Universität entwickelte sich zu hoher Blüte und wurde von zahlreichen Deutschen (Herder und Goethe 1770–71) besucht; besonders berühmte Juristen, Historiker und Philologen lehrten an ihr, wie Johannes Schilter, Jeremias Oberlin, Johann Scherz, J. D. Schöpflin und Schweighäuser. Auf ökonomischem Gebiet war die Zugehörigkeit zu Frankreich förderlich. Industrie und Handel hoben sich, der Tabakbau und die Weinproduktion nahmen einen großen Aufschwung. Die Bevölkerung befand sich in den bestehenden Zuständen behaglich und war konservativ und partikularistisch gesinnt.

Hierin brachte nun die französische Revolution eine bedeutende Umwandlung. Nach den Beschlüssen der französischen Nationalversammlung vom 4. Aug. 1789, die alle mittelalterlichen Sonderrechte aufhoben, gelangten im Elsaß die Franzosenfreunde zur Herrschaft, und ohne Rücksicht auf die Rechte des Deutschen Reiches wurden die bisher noch bestehenden Reichsstände beseitigt. Als nach dem Sturze Robespierres Ruhe und Ordnung eintraten, vollzog sich die Verschmelzung des Elsaß, das in zwei Departements, Oberrhein (Sundgau) und Niederrhein (Nordgau), geteilt worden war, mit Frankreich außerordentlich rasch. Teils die Errungenschaften der Revolution, teils die militärische Schule unter Napoleon I. veranlaßten, daß das Elsaß mit seiner deutschen Vergangenheit völlig brach. Viele Elsässer, wie Kleber, Rapp u.a., spielten in der französischen Armee eine große Rolle. Die Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz und die freie Bewegung nahmen das Volk für die neuen Verhältnisse ein, und als die verbündeten Truppen Ende 1813 in das Elsaß eindrangen, verhielt sich die Bevölkerung teils gleichgültig, teils feindlich. Dennoch war die Anhänglichkeit an Frankreich noch nicht so eingewurzelt, daß sie nicht durch eine zeitige Wiedervereinigung des Landes mit Deutschland hätte beseitigt werden können. Aber infolge des Widerstandes der fremden Mächte und der Lauheit Österreichs erfolgte die von den deutschen Patrioten 1815 geforderte Abtretung des Elsaß nicht; nur Landau fiel an Bayern. Seitdem waren alle französischen Regierungen eifrig bemüht, das Elsaß völlig mit Frankreich zu verschmelzen, die deutsche Sprache zu verdrängen und französische Sprache und Sitte zu ausschließlicher Herrschaft zu bringen. In Wissenschaft und Dichtung hielten zwar die Elsässer an der deutschen Sprache mit Zähigkeit fest, und beim niedern Volke pflegte die protestantische Geistlichkeit das Deutsche, um das Eindringen radikaler Anschauungen von jenseit der Vogesen zu erschweren. Aber die zahlreichen Elsässer, die im Heer und in der Verwaltung Anstellung fanden, wurden ebenso viele Vertreter französischer Anschauungen; die politischen Schicksale und die geschäftlichen Beziehungen knüpften die gebildeten Klassen immer enger an Frankreich, und auch das niedere Volk wurde vom katholischen Klerus zu ihm hinübergezogen. Wenn die Elsässer sich auch schmeichelten, in geistiger Beziehung eine Vermittlerrolle zwischen deutschem und französischem Wesen zu spielen, so waren sie doch in politischer und materieller Hinsicht mit dem reichen und mächtigen französischen Staat völlig verschmolzen, als 1870 der Krieg ausbrach.

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Quelle: „Elsaß-Lothringen“, Meyers großes Konversations-Lexikon, Ein Nachschlagewerk des allgemeinen Wissens. Sechste gänzlich neubearbeitete und vermehrte Auflage. Fünfter Band. Leipzig und Wien: Bibliographisches Institut, 1908, S. 733–35. Online verfügbar unter: https://hdl.handle.net/2027/njp.32101064063108

„Elsaß-Lothringen“, Meyers großes Konversations-Lexikon, 6. Aufl., Bd. 5 (1908), veröffentlicht in: German History Intersections, <https://germanhistory-intersections.org/de/wissen-und-bildung/ghis:document-141> [25.11.2024].