„Vorwort“, Meyers großes Konversations-Lexikon, 6. Aufl., Bd. 1 (1907)
Kurzbeschreibung
Meyers Konversations-Lexikon war eine einflussreiche deutsche Enzyklopädie. Von seinem ersten Erscheinen 1839 bis 1984, als es mit seinem größten Konkurrenten, dem Brockhaus, fusionierte, war der Meyer eines der wichtigsten Medien für die Wissenspopularisierung in Deutschland. Seine Grundprinzipien gingen auf das 18. Jahrhundert zurück. Sie beruhten auf der Idee, dass Menschen, die sich von den historischen intellektuellen Kontrollen durch religiöse Instanzen emanzipiert hatten, jedes Recht auf Zugang zu den riesigen Vorratskammern des Wissens hatten, das die säkulare Wissenschaft hervorgebracht hatte, und dass vielseitig gebildete Menschen für die Demokratie am besten geeignet seien. Alle Enzyklopädien, der Meyer eingeschlossen, waren so gesehen Ausdruck eines bürgerlichen Liberalismus, während der Besitz der Bände selbst ein Kennzeichen für bürgerliches Standesbewusstsein und Seriosität war. Die sechste Ausgabe, deren Vorwort hier wiedergegeben wird, umfasste zwanzig Einzelbände. Der Verlag verkaufte nicht weniger als 240.000 Gesamtausgaben.
Quelle
Zur sechsten Auflage von Meyers Konversations-Lexikon.
Seitdem aus dem „Konversations-Lexikon“, das nach dem ursprünglichen Wortbegriff nur Stoff und Stütze für die Unterhaltung über „Staats- und gelehrte Sachen“ in geselligen Kreisen bieten sollte, ein „Nachschlagwerk des allgemeinen Wissens“ geworden ist, sind mit den höhern Ansprüchen auch die Pflichten gestiegen. Das moderne Konversations-Lexikon großen Stils, wie es von den Begründern und Herausgebern des Meyerschen Werkes in jahrzehntelanger Arbeit unter der wachsenden Teilnahme von vielen Hunderttausenden ausgebaut worden ist, hat längst aufgehört, nur ein gefälliges Auskunftsmittel für die Unterhaltung des Laienpublikums zu sein. Ohne jemals die Bedürfnisse und die Aufnahmefähigkeit dieses Publikums, das immer die erste und letzte Voraussetzung eines so umfangreichen Unternehmens bleiben wird, aus den Augen zu verlieren, sind Herausgeber und Redaktion unablässig bemüht gewesen, den Inhalt des Konversations-Lexikons auch gegen die schärfsten Waffen der wissenschaftlichen Kritik hieb- und stichfest zu machen.
Diese unablässige Arbeit hat uns die Genugtuung verschafft, daß selbst die streng abgeschlossenen Kreise der Gelehrten, die sonst mit vornehmer Geringschätzung auf die Popularisierung der Wissenschaften herabsahen, sich dem Konversations-Lexikon geöffnet haben, weil seine Universalität in der gleichmäßigen Berücksichtigung aller Zweige des menschlichen Wissens, seine Zuverlässigkeit, die peinliche Ordnung in seiner Organisation und die Möglichkeit rascher Orientierung in dem Labyrinth unsers geistigen Schaffens auch dem Spezialisten der Wissenschaft volle Achtung abgerungen haben.
Dieses Ziel ist freilich nur dadurch erreicht worden, daß es uns gelungen ist, für alle Abteilungen unsers Werkes Mitarbeiter heranzuziehen, die selbst wissenschaftliche Autoritäten genug sind, um von vornherein das Vertrauen ihrer Fachgenossen zu besitzen, zugleich aber auch die Fähigkeit haben, die Ergebnisse ihrer und andrer Forschungen in allgemein verständlicher und anziehender Form dem Auffassungsvermögen des Laien anzupassen.
Unser Werk hat sich die Aufgabe gestellt, der Vertrauensmann der Familien wie der Gelehrtenwelt zu sein. Es soll seinen Platz in der bürgerlichen Familie wie im Studierzimmer des Gelehrten behaupten, aber auch in den Lesesälen jeder Art zur Benutzung aufliegen und so die Macht und den Trost des Wissens den weitesten Kreisen zugänglich machen. Diese Sendung hat unser Werk zum Teil schon erfüllt; es hat tatsächlich in vielen Hotels und Wirtshäusern, dort in den Lesezimmern, hier an der Wand über den Stammtischen, seinen Ehrenplatz, um als oberster Schiedsrichter in allen streitigen Dingen zu walten. Um so mehr fühlt sich der Herausgeber verpflichtet, das Werk immer weiterer Vervollkommnung zuzuführen.
Betrachtet man als „Ideal“ des Buches, daß es womöglich über alles Auskunft geben soll, so soll und will es sich doch mit dem wirklichen Wissen, mit den positiven, den unerschütterlich sichern Werten unsers Wissens begnügen und nicht durch Scheinerfolge, auch wenn sie die Augen der Zeitgenossen blenden, verführen lassen; es soll das Flüchtige vom Dauernden zu unterscheiden wissen, auch im höchsten Wogendrang neuer Erscheinungen die Besonnenheit bewahren.
Diese Sicherheit und diese Besonnenheit des Urteils müssen sich zur Objektivität erheben, wenn es sich um Dinge handelt, die sich der exakten Forschung entziehen, oder die noch in irgend einer Beziehung streitig sind. Diese Objektivität muß sich besonders dem schwierigsten aller in den Bereich des Konversations-Lexikons fallenden Wissensgebiete, der Politik, gegenüber bewähren. Nachdem alle Versuche, ein großes enzyklopädisches Unternehmen in den Dienst einer politischen Partei zu stellen oder gar zum Agitationsmittel einer solchen zu machen, gescheitert sind, ist daraus nur die Lehre zu ziehen, daß die Frage, ob konservativ oder liberal, für den Vertrauensmann eines politisch vielfach gespaltenen Volkes nicht in Betracht kommen kann, daß das Konversations-Lexikon sich vielmehr jeder politischen Parteinahme zu entschlagen und als obersten Gesichtspunkt nur das nationale Interesse im Auge zu behalten hat.
Ist diese Objektivität von uns mit höchstem Ernst und peinlichster Gewissenhaftigkeit angestrebt worden, so mußten wir uns doch hüten, der „Unparteilichkeit“ zuliebe in Kälte und Trockenheit zu verfallen. Auch bei aller Kürze ist darauf gehalten worden, daß jeder Artikel leicht lesbar und verständlich ist. Die inhaltslose Phrase ist ebenso streng vermieden worden, wie Unklarheit des Ausdrucks und Unbestimmtheit der Fassung. Ein besonderer Wert wurde darauf gelegt, daß die Bestimmung und Erläuterung der grundlegenden Begriffe durchweg so klar und durchsichtig gehalten worden sind, daß sich auch der Leser, der nur die einfachsten Elementarkenntnisse mitbringt, mit Leichtigkeit in die Darstellung hineinfindet.
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Bei dem innern Ausbau unsers Werkes ist zwar die möglichste Gleichmäßigkeit in der Behandlung der einzelnen Fächer angestrebt worden, so daß sich in diesem vielstimmigen Orchester nicht die eine Stimme auf Kosten der andern allzusehr vernehmlich macht. Aber es konnte nicht vermieden werden, daß einzelnen Gebieten des Wissens andern gegenüber ein anscheinend verhältnismäßig großer Raum angewiesen worden ist. Denn das Konversations-Lexikon soll nicht bloß eine systematische Aufspeicherung unsers wissenschaftlichen Gesamtbesitzes sein, sondern es soll auch den Geist und die herrschende Strömung der Zeit, in der es entstanden ist, widerspiegeln. Im 19. Jahrhundert sind Naturwissenschaft und Technik die führenden Mächte gewesen, und zu Beginn des 20. Jahrhunderts sind noch keine Anzeichen dafür zu erkennen, daß jene ihre Führerrolle ausgespielt haben, wenn auch allerwärts neue ethische und ästhetische Interessen nach Geltung drängen. Bei voller Berücksichtigung dieser unabweislichen Tatsache ist es das Streben der Redaktion gewesen, durch eine zweckmäßige Anordnung und Verteilung des gewaltigen Stoffes ein Gleichgewicht zwischen Naturwissenschaft und Technik einerseits und den Geisteswissenschaften, vornehmlich den historischen und literarischen Fächern anderseits herzustellen und zugleich den erforderlichen Raum für die Behandlung der sozialen Interessen zu gewinnen, die im Leben unsrer Zeit schnell von größter Bedeutung geworden sind, indem sie alle geistigen und technischen Kräfte zugleich in Bewegung gesetzt haben.
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An den erprobten Grundsätzen der Illustrationsmethode ist dagegen auch in der neuen Auflage festgehalten worden. Das Konversations-Lexikon soll kein Bilderbuch zur Befriedigung einer flüchtigen Schaulust sein, sondern auch in seiner Illustration denselben enzyklopädischen, d.h. allgemeine lehrhaften, gründlich unterrichtenden Charakter haben wie der Text, ohne dabei auf künstlerische Durchführung im einzelnen zu verzichten. […]
Mit diesem umfassenden Rüstzeug angetan, tritt unser Konversations-Lexikon zum sechsten Male seinen Weg durch das deutsche Volk, von Haus zu Haus an, überall anklopfend, wo lebendiger Wissensdurst, wo der Drang nach höherer Erkenntnis die Geister erhebt und die Herzen erfüllt. Wir dürfen von uns rühmen, daß wir das Beste gewollt und dem deutschen Volke nach bestem Wissen und Gewissen auch das Beste gegeben haben. Unser Ziel ist erreicht, wenn auch diese neue Auflage unsers „Nachschlagewerkes des allgemeinen Wissens“ den Ehrenplatz behaupten wird, den es sich in seinem nunmehr sechzigjährigen Wirken für die Verbreitung allgemeiner Geistesbildung errungen hat.
Der Herausgeber.
Quelle: „Vorwort,“ Meyers Großes Konversations-Lexikon. Ein Nachschlagewerk des allgemeinen Wissens. Sechste gänzlich neubearbeitete und vermehrte Auflage. Erster Band. Leipzig und Wien: Bibliographisches Institut, 1907, S. V–VIII. Online verfügbar unter: http://www.zeno.org/nid/20006181899